EU? Nie gehört.

14 Kilometer Meer, Hunderte tote Flüchtlinge jährlich. „Expedition Europa“: Begegnungen in Tanger.

Filme und Romane haben aus dieser Stadt eine Art Spielhölle gemacht, in der die Spieler mit den Geheimplänen aller Armeen der Welt handeln“, schrieb Jean Genet. „Tanger war das Symbol für Verrat schlechthin.“ Besonders zur Zeit eines einzigartigen staatsrechtlichen Experiments, der „Internationalen Zone Tanger“, ließensich westliche Homosexuelle und Schriftsteller in der Stadt des Verrats nieder.

Ich komme nach Tanger, weil ich mit denen über Europa reden will, die Europa am meisten lieben – mit den Afrikanern. Ich bin an der Straße von Gibraltar, in der Jahr für Jahr Hunderte afrikanische Flüchtlinge sterben.

Die „Internationale Zone“ existierte von 1925 bis 1956, heute ist Tanger eine gewöhnliche marokkanische Großstadt. Unter Palmen schaukeln die schönsten Mercedes-Taxis der Welt, im Design der Siebzigerjahre, beige. Livrierte Kellner zelebrieren in den Teehäusern koloniale Eleganz, und ein alter Tangerois findet mir den Weg zur Adidas-Fälschung meiner Träume. Weniger lobenswert ist, dass sich falsche Freunde an den Touristen schmiegen. Ich gehe bald mit abweisender Körpersprache durch die Hafenstadt.

Europa wirkt so nah, zum Rüberpaddeln, zum Rüberschwimmen nah. Beim Minztee auf der „Terrasse der Faulen“ vermag man sich nicht vorzustellen, dass das Zusammentreffen von Atlantik und Mittelmeer unter der Oberfläche mörderische Strömungen gebiert. 14 Kilometer, die Breite des Neusiedler Sees. Eines fällt mir auf: Von all den Aussichtspunkten schauen nur Europäer und Marokkaner nach Europa. Nie die Afrikaner, welche sich durch die Sahara gequält haben, um an der engsten Stelle überzusetzen.

Tod mit dem Handy in der Hand

Untertags sehe ich sie auf den Parkbänken vor dem Passagierhafen. Es ist angenehm frühlingswarm, stämmige Burschen ausMali sitzen in dicke Winterjacken verpackt, frierend. Ihre Kleidung und ihre Haltung erinnern mich an slowakische Zigeuner an Bushaltestellen. Eben erst wurden sie wieder zurückgeschickt, mehr wollen sie mir nicht erzählen.

Manch andere, in eng anliegenden Lederjacken, sehen durchaus schick aus. Einer behauptet, Europa interessiere ihn nicht; er wolle nach Amerika und dort ein Afroamerikaner werden. Sie nennen Marokko das „weiße Afrika“, Marokkaner lernen sie als gierige Vermieter und Bootsverkäufer kennen. Einer aus Senegal erzählt mir, dass Freunde mit einem Boot hinüberwollten. Sie riefen ihn vom marokkanischen Wertkartenhandy an, als sie in die Strömung gerieten. Er habe sie am Telefon sterben gehört. Er will es trotzdem per Boot versuchen.

Bei Nacht, auf der Strandpromenade, zwei Männer aus Gambia betteln. Einer ist Uni-Absolvent. Gerade hat er sich im Frachthafen wieder an die Unterseite eines LKWs gehängt, eine Kraftanstrengung ohnegleichen. Er wurde schon dreimaldabei geschnappt.

Alle wissen sie von unserem Staatenbund nicht viel. Von Österreich haben die meisten nie gehört. Alle wissen, dass es sich in Spanien nicht mehr anzuhalten lohnt. Manche sind seit dem Sommer in Tanger, sie haben die mächtigen Wohnwagen der holländischen Touristen gesehen. Die meisten wollen nach Holland oder Dänemark, auch die Schweiz und Frankreich sind begehrt.

Wenngleich mir mein Thema nun kümmerlich erscheint, so frage ich siedoch, was sie über die Europäische Union denken. „Nie gehört“, sagt der aus Gambia. „Gute Sache“, sagt der Senegalese, mehr fällt ihm nicht ein. „Gute Sache“, sagt einer, der seit einem halben Jahr durch Afrika vagabundiert: „Es ist gut, dass es in Europa so viele Länder gibt. Wenn ich von einem Land müde bin, kann ich in das nächste gehen.“ Die Krise Europas fanden sie nicht der Rede wert. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2014)

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