Österreich, o du liebe Kulisse!

Mir san mir! Aber – wer san mir? Wie nationale Politik und international aufgestellte Ökonomie, innig ineinander verstrickt, ja verbissen, um Deutungshoheit und Standort und damit um die Macht streiten. Zum Projekt Österreich.

Die heraufdräuenden Jubiläen zum Jahr 1914 bringen allerhand Rummel mit sich. Der wieder zeitigt den unangenehmen Nebeneffekt,gewisse Fragen aufzuwerfen, die mit dem Thema zwar nur lose verknüpft, ungut aber in jedem Fall sind: ungut in dem Sinn,dass sie sich auf Dinge beziehen, die man über die Jahre eigentlich fraglos fand – aber ganz so schlimm ist es auch wieder nicht.

Gerhard Rühm hat einmal den Umriss des österreichischen Staatsgebietes als kleine Wolke interpretiert. Er hat diese ein wenig komische, kleine Wolke friedlich über den Erdball hinschweben lassen.

Der De-facto-Untergang Österreich-Ungarns, hören wir, fand schon 1916 statt, als derOberbefehl über die Truppen quasi an die Deutschen überging; und damit das Recht, über Krieg und Frieden zu entscheiden. Kaiser Franz Joseph, der weiland gute, alte Herr, hat also nicht nur entscheidend am Ausbrechen des Krieges mitgewirkt, er hat auch, gewissermaßen als einen seiner letzten Regierungsakte, das Ruder des Staates, das Schicksal seiner Völker in fremde Hände gegeben. Während in vielen Teilen des Reiches, etwa in Böhmen und Ungarn, von den italienischenGebieten ganz zu schweigen, seit Langem Wünsche nach Abtrennung bestanden, gab essolche Überlegungen für den deutschsprachigen Teil Cisleithaniens naturgemäß nicht, sehen wir von den Deutschnationalen ab, die vom Deutschen Reich träumten.

Die Oktoberrevolution in Russland brachte den Mittelmächten zwar eine Verkürzung der Fronten, zugleich aber ging damit auch eine sehr deutliche Botschaft an die Arbeiterschaft ebendieser Mächte aus: Macht Revolution! Dann ist der Krieg vorbei. Diese Drohung bewirkte nicht das sofortige Kriegsende, sie wirkte aber, ob als reale Möglichkeit, einer Revolution nämlich, oder als bloß von der bürgerlichen Seite immer wieder heraufzitiertes Menetekel, weit in die Zukunft.

Wir wissen, dass der von den Österreichern gewünschte „Anschluss“ an Deutschland, KarlRenner wird in diesem Zusammenhang gleichsam stellvertretend stetsgenannt,bei den Friedensverhandlungen in St. Germain zurückgewiesen, ja verboten wurde. Im selben Vorgang wurde auch das proklamierte Staatsgebiet kräftig beschnitten. Clemenceaus Ausspruch „Österreich, das ist der Rest!“ fasst den Vorgang knapp und wohl passend, für unsere Ohren freilich zynisch klingend, zusammen.–Unter Dollfuß kam das Konzept vom „zweiten deutschen Staat“ auf, gekennzeichnet von autoritärer Herrschaft, von einer versuchten, deutlichen Abgrenzungzu Hitlerdeutschland und, nicht zu vergessen, einer Stärkung der katholischen Kirche als staatstragendes Element. Es ist fast allgemeiner Konsens, dass die Ausschaltung und Verfolgung der Linken wesentlich zum Untergang der Ersten Republik und zum „Anschluss“ beigetragen hat.

Halten wir fest, dass es, abgesehen von massenhafter und überwiegender Zustimmung zum „Anschluss“ an das Dritte Reich, auch einen Widerstand von engagierten, mutigen Kommunisten und Christen gab, aber auchvon den Slowenen in Kärnten. Was die Kommunisten angeht, verloren sie nach Kriegsende rasch an Einfluss in der wiedererstandenen Republik – ja, sie wurden ausgegrenzt und nicht nur vom bürgerlichen Lager verfemt. Die Slowenen sahen sich womöglich noch schlechterfür ihren Einsatz belohnt: Unlängst erst wurden ihnen etliche der Rechte zuerkannt, die ihnen schon der Friedensschluss von St. Germain verbrieft hatte.

Die Zweite Republik weist mit der Ersten eine entscheidende Ähnlichkeit auf: Auch sie wurde grundsätzlich von den Siegermächten implementiert – in der Moskauer Deklaration ist trickreich von einer „Wiederherstellung“ die Rede –, sie geht also auch mit unserer nachmaligen und bis heute zumindest dem Buchstaben nach aufrechterhaltenen, immerwährenden Neutralitäteigentlich nicht auf österreichisches undalso unser eigenes Betreiben, sondern aufein Reglement von außen zurück.
Das „Nie wieder!“ der aus den Konzentrationslagern zurückgekehrten Parteiführer – was so viel heißen sollte wie „Nie wieder Bürgerkrieg!“ – ist wohl der entscheidende, eigene Beitrag zur Identitätsstiftung der Zweiten Republik: Solcherart wurde die Große Koalition, unterbrochen nur durch ein paar kurze Zwischenspiele, zu der Regierungsform des Landes bis heute, verstärkt noch durch die Schattenregierung der sogenannten Sozialpartnerschaft. Auch vom sogenannten Dritten Lager kamen keine relativierenden Ansagen, was den Bestand Österreichs in seinen Grenzen betrifft. Zwar verlor die katholische Kirche, die überwiegende Anzahl der Bürger hierzulande gehört ihr an, in der Zweiten Republik ihren Einfluss auf die Tagespolitik (oder sie gab ihn in einer Art von Selbstbesinnung auf): Als integrative Kraft ist sie jedenfalls in Rechnung zu stellen. Auch der immer wieder beschworene Antifaschismus gehört hierher.

Seltsam, dass gerade die Vertreter des Dritten Lagers sich momentan als Ultra-Österreicher gebärden – freilich nur zu dem Zweck, alles Fremde fernzuhalten.


Die einzelnen Bundesländer, historisch gesehen sind sie weit älter als der Staat Österreich in seiner heutigen Gestalt. Man könnte fast sagen: Tirol, Salzburg, die Steiermark, Ober- und Niederösterreich, Kärnten und Vorarlberg hat es „immer“ schon gegeben, während... Aus der Reihe tanzt eigentlich nur das Burgenland, früher Deutsch-Westungarn, das erst nach dem Ersten Weltkrieg zu Österreich kam.

Das kleine burgenländische Dorf, hart an der ungarischen Grenze gelegen, wo ich, wann immer es geht, meine freiere Zeit verbringe, hat 1919/20 nicht für Österreich, sondern für Ungarn gestimmt. Da eine damals noch existierende Bahnlinie durch den Grenzverlauf mehrfach unterbrochen worden wäre, schlug der Völkerbund das Dorf schließlich Österreich zu – seine Einwohner wurden zu Österreichern, was sie erst mit bösem, widersetzlichem Unmut waren, jetzt aber mit der üblichen Feiertagsselbstverständlichkeit sind... Ich will nun keinesfalls sagen, dass die Österreicher in erster Linie Wiener, Steirer, Tiroler und so weiter sind; das wäre absurd. Die Länder und Gemeinden haben jedoch den Vorteil für sich, in täglicher Anschauung, im alltäglichen Betrieb tatsächlich vorhanden zu sein. Was Österreich insgesamt angeht: eine recht unanschauliche Größe, kommt mir vor, die sich, abgesehen von der Tatsache, dass es „ein schönes, ein kulturell reiches Land“ ist, eher von einem vagen Mythos her definiert, vom Glanz einer positiv gedeuteten oder gar verlockend ausstrahlenden Vergangenheit – oder sollen wir doch besser sagen, von einer Schimäre?

Das Vergangene, eben die untergegangene Monarchie, wird von den ehemaligen Völkerschaften dieser Monarchie auf jeweils ganz eigene Art erinnert und interpretiert. Die hiesige Lesart, das hierzulande gehegte Traumbild vom großen, mächtigen Reich, längst versunken zwar, aber doch glorios und wunderbar – wird von unseren Nachbarn zum wenigsten geteilt. Wir, als Österreicher, sind sehr allein mit unserer Sicht der Dinge. Wir pflegen sie auch nicht öffentlich, sondern meist bloß irgendwo im Halbbewussten. So allein sind wir mit diesem unscharfen Bild, dass man fast von einem Phantasma sprechen könnte.

Wir Österreicher, und wieder speziell die Wiener, lieben an uns selbst und unserer Vergangenheit auch noch die negativen Züge – etwa das Bild vom verfressenen, daseinsvergessenen Wiener, man ist stolz auf die viel zitierte Gemütlichkeit, auf Lockerheit und ein bisschen Hochstapelei, was Lebensart heißt, rechnet sich selbst Schlendrian und eine Form von milder Korruption noch als Verdienst oder Auszeichnung an – ja, g'fällt dir das nicht?

Österreich definiert sich als Kulturnation. Freilich, es gibt (zumindest spurenweise) undgab eine österreichische Kultur mit Wien als Zentrum, deren seinerzeitiges Quellgebiet sich aber nicht mit dem heutigen Staatsgebiet deckt. Die Beglaubigung des nationalen Status durch die Umwelt fußt alsowohl eher auf dieser Tautologie: Weil es Österreich gibt, gibt es Österreich.

Den Bestand des Landes stellt freilich niemand infrage. Ein inhaltlicher Konsens, also die Übereinstimmung darüber, was denn dieses Österreich nun eigentlich ausmacht, fehltmangels Einigung über die Vorgeschichte.


Der europäische Integrationsprozess, die aktuelle geschichtliche Bewegung, bringt es mit sich, dass durch die Abgabe von Rechten und Normschöpfungsprozeduren an die EU die Souveränität der Mitgliedsstaaten ausgedünnt und ausgehöhlt wird. Davon ist natürlich auch Österreich betroffen. Darauf stützt sich ja gerade auch die Rechte mit ihrem Heimatkult: Der Weisheit letzter Schluss heißt da Fremdenfeindlichkeit oder -angst, kombiniert mit ranziger Bodenständigkeit.

Die Schwächung des Zentrums hat hierzulande aber auch hausgemachte Ursachen: das allmähliche Verblassen des oben angesprochenen Grundkonsenses zwischenden vormalig staatstragenden Parteien; die Schwächung dieser Parteien durch eine Art Abnützungsprozess; dazu das Aufkommen neuer Parteien, die mit Gedanken an Gesamtstaat und Nation nicht allzu beschwert sind. Man könnte sagen: Im „Tagesgeschäft“ ist Österreich eine Münze, deren Umlauf ganz fraglos ist. Die Wert- oder Inhaltsfrage wird nicht gestellt. Der so gefasste „Wert“ besteht vor allem in einem faktischen So-Sein, in einem „Was fragst du, wo es doch nichts zu fragen gibt?“, in unhinterfragter Pragmatik.

Je schwächer die ehemaligen Großparteien werden, desto schärfer stellen sie sich polarisierend gegeneinander – eine zwar sonderbare, aber keine untypische Entwicklung. Hat sie, wie noch auszuführen sein wird, aucheinsehbare Gründe, ein Gutteil resultiert aus Vorgestrigkeit, aus ideologischen Zuckungen. Schwäche führt eben gerade nicht zum Herausstreichen des Gemeinsamen – was nichts Gutes für Österreich verheißt.


Europäische Regionalisierung, von so manchem überschwänglich mit Vorschusslorbeeren bedacht, was wär's damit? – Ein sympathischer Gedanke, insbesondere auch dadurch, dass er die Basis, die Menschen, die unmittelbar Betroffenen, zuvorderst im Auge hat. Gehen wir die Randbezirke von Österreich durch, sehen wir uns allerdings mit dem Paradox konfrontiert, dass einerseitsder Zusammenhalt über die Zentrale bloß faktisch und pragmatisch ist (sehen wir von Skigroßereignissen, Fußballmatches, der Bekämpfung von Naturkatastrophen und demMythos von der Kulturnation ab, denen meist etwas Emphatisches und Impulsives anhaftet), dass aber andererseits ein Zusammenwirken etwa von Salzburg mit Bayern, von Teilen des Burgenlandes mit ungarischen Komitaten, von Teilen Kärntens mit Slowenien oder Italien, das über das rein ökonomisch-funktionelle hinausgehen würde, kaum vorstellbar, ja eigentlich unausdenkbar ist.

In der Hinsicht – ex negativo – ist Österreich tatsächlich ein Nationalstaat. Scharf und deutlich hebt es sich von seinen Nachbarn ab und existiert innerhalb der eigenen Grenzen. Und weshalb ist das so? Die Ressentiments hier und dort, auf dieser Seite der Grenze und auf der anderen, die jedes engere Zusammengehen verhindern, gründen tief. Was den Osten betrifft, wirkt gewiss die langjährige Absperrung nach, Kalter Krieg und Eiserner Vorhang. Die Frage eines möglichen Miteinanders stellt sich also an die Geschichte, an die Vergangenheit. Eine seriöse Befassung müsste weit zurückgreifen; und vor allem: Sie müsste gewärtigen, dass sie auf den sofortigen Widerspruch eben der Nachbarn stößt, uns in frischen Gegensatz zu ihnen bringt, wo wir doch tatsächlich friedlich mit ihnen leben, sie mit uns. Das gilt freilich für viele, wenn nicht die meisten Nachbarschaften in Europa.

Das Paradox besteht einfach darin, dass gerade das, worüber geredet werden sollte, das ist, worüber man – am liebsten, am besten? – jedenfalls für gewöhnlich schweigt. Deshalb wird die europäische Integration, was uns angeht und überhaupt, wohl diesen Weg nehmen: kulissenhaftes Aufrechterhalten der Nationalstaaten bei gleichzeitig immer engerer Verflechtung über Realienwie Geld, Wirtschaft, Forschung, Arbeit, Soziales. Ob das Regionale als identitätsstiftend da mitwirken kann? Mag sein. Ökonomisch, technisch, bürokratisch begründete Strukturen basieren jedenfalls auf ganz anders definierten Parametern, die Ökonomie etwa auf Standortfragen, Arbeitsproduktivität, Innovationskraft, Marktchancen. Dass die einzelnen Staaten der EU dazu verschieden stark und mächtig sind, springt deutlich ins Auge, doch gehört auch dieser Umstand zu den wunden Punkten – zu jenen Tatsachen, über die am liebsten und meist taktvoll geschwiegen wird.


Die vormoderne österreichisch-ungarischeMonarchie als politisches Gebilde wandelte sich, durch das Kriegsgeschehen beschleunigt, zum (damals) Modernen der Nationalstaaten. Die gleichen Nationalstaaten wandeln sich, zusammengefasst in der EU, unter dem Eindruck des Machtverlustes von Europa insgesamt, unter dem steigenden Druck internationaler Konkurrenz, der sogenannten Globalisierung, zu einem Verband mit supranationalen Zügen, bei gleichzeitigem Festhalten am Nationalstaatsmodell. (Auffällig, wie schnell etwa Slowenen oder Kroaten ihren endlich realisierten Nationalstaat in die EU einbrachten – was auf Kräfte und Notwendigkeiten hindeutet, die eben das Nationale unterlaufen, es eigentlich obsolet machen.) Was wir erleben, könnte man als unvollständigen Paradigmenwechsel beschreiben: Nationale Politik und international aufgestellte Ökonomie streiten, innig ineinander verstrickt, ja verbissen, um Deutungshoheit und damit um die Macht. Kompliziert wird die Lage noch dadurch, dass eben jetzt in der Krise ein fundamentaler Streit um den Weg in die Zukunft schwelt: Soll es nach links oder nach rechts gehen? Liegt das Heil in mehr sozialer Kohärenz, einer möglichst breit aufgestellten Gesellschaft – oder in einerStärkung der Eliten? Fest steht zurzeit wohl nur so viel: Sollte einmal die Wirtschaft längere Zeit stottern und nicht wieder in Schuss kommen, wird wohl der Wohlfahrtsstaat kaputtgehen und dann, irgendwann, die Demokratie.

„So heiß wird aber doch nicht gegessen!“, höre ich da erregt, aber nicht so ganz überzeugt protestieren. „Da werden's aber schon ganz bestimmt nicht recht haben!“, mischt sich unterstützend ein Zweiter ein, gelassen und etwas von oben herab – typisch österreichisch halt, nicht wahr? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.01.2014)

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