Tanz auf den Knochen

Für Sotschi 2014 wurden Berge gesprengt und Grenzen versetzt. Wladimir Putin lässt sich feiern. Doch nordkaukasische Gotteskrieger haben die Olympischen Winterspiele im Visier, „und zwar mit allen Mitteln, die uns der allmächtige Gott erlaubt“. Zur Lage am Schwarzen Meer.

Der russische Herr der Ringe hat gerufen – und die glamouröse Olympiawelt ist gekommen. Der Gastgeber, vom grauen KGB-Offizier zum personenkultischen Siegertypen aufgestiegen, demonstriert der Welt: Russland feiert mit diesen Olympischen Spielen sein Comeback als Supermacht, und Wladimir Wladimirowitsch Putin ist ihr vaterländischer Führer. Angeblich 50 Milliarden Euro soll dieses ultimative Spektakel der Staatskasse, berufenen Oligarchen und dem Heer entmündigter Steuerzahler gekostet haben. Weitere Kehrseiten der Medaillen: Menschenrechtsverletzungen, Schwulen- und Lesbenhatz, Enteignungen, Zwangsumsiedlungen, Korruption, Arbeitssklaven, Umweltzerstörung – alles für den Olymp der Macht.

Die Olympischen Spiele der Superlative – für die Berge gesprengt, Grenzen versetzt wurden – stehen unter keinem guten Stern: Nordkaukasische Gotteskrieger haben Sotschi 2014 im Visier, „und zwar mit allen Mitteln, die uns der allmächtige Gott erlaubt“. Angst und Schrecken sollen dem Mega-Event Spaß und Business verderben. Die mit den Taliban vernetzten Terrorkommandos drohen, die milliardenschwere Schaubühne der Olympioniken in Blut zu tränken – und die ganze Welt soll zusehen.

Ein riesiger Überwachungsapparat – 50.000 Sicherheitsleute, Drohnen, Kriegsschiffe, Sperrzonen – operiert hinter der triumphalen Kulisse des olympischen Gigantismus. Antiterroreinheiten durchkämmen Stadt, Olympiadörfer und Sportstätten nach Sprengstofffallen. Allein seit vergangenen Oktober sind im Nordkaukasus 139 Menschen bei Anschlägen ums Leben gekommen. Amerikanische Regierungsbeamte sprechen von massiven Notfallplänen für Sotschi; haben eine Reisewarnung für Russland verhängt.

Paradoxe Welt: Verheißungsvoll liegen sie da, die malerischen Buchten – von Palmen und Oleander gesäumt, Weinberge, Obstgärten, Gemüsefelder, die strahlenden Silbergipfel des Kaukasus am Horizont. Paradiesisch. Und doch wohnt in dieser mythischen Landschaft des Goldenen Vlieses, in dieser einstigen Kornkammer zerfallener Reiche, die Liebe zum Hass. Ihre geografische Lage, der Durchzugsraum zwischen den Steppen des kaukasischen Vorlands, den Hochgebirgen und der Schwarzmeerküste prägte ihr Schicksal. Griechen, Perser, Araber, Mongolen, Osmanen, Krimtataren, Kosaken und Russen unterwarfen über die Jahrhunderte die unter sich sprachlich und religiös aufgesplitterten einheimischen Völkerschaften: Tscherkessen, Balkaren, Abchasen, Alanen, Osseten, Tschetschenen, Inguscheten, Dagestaner. Mit dem imperialen Vordringen des russischen Zarenreiches wurden die Kaukasier zu „Barbaren“ deklariert. Die Reaktion der Bergvölker: Widerstand.

„Heiliger Krieg“ – bereits 1791

Bereits 1791 formierten sich tschetschenische Hirten zum „ghazawat“, zum „Heiligen Krieg“; in Dagestan und Inguschetien riefen Imame den „islamischen Staat“ gegen die „ungläubigen“ Aggressoren aus. Die in der Region Sotschi beheimateten Tscherkessen, das bis dahin größte kaukasische Volk, proklamierte mit osmanischem Beistand ein „souveränes Imamat“. 1864 brach der erbitterte Widerstand der Kaukasier zusammen. Die Folge: Strafexpeditionen, Zwangsumsiedlungen, Vertreibungen, Massentötungen der einheimischen Bevölkerung. All das säte Hass für Generationen. Ihre dezimierten Nachfahren leben heute auf 50 Staaten verstreut – für die Bergvölker jährt sich der von Russland nie anerkannte Völkermord 2014 zum 150. Mal. Im vergangenen Juli rief der kaukasische Terrorboss Doku Umarow im Internet auf, „diesen teuflischen Tanz auf den Knochen unserer Vorfahren“ gewaltsam zu verhindern.

Zeitensprung. Landeanflug auf die abchasische Hauptstadt Suchumi im Winter 1992. Die klapprige Antonow fliegt im Zickzackkurs die 120 Kilometer südöstlich von Sotschi gelegene Hafenstadt an. Die Crew hofft, dass die mit Zivilisten, georgischen Soldaten samt Munitionskisten beladene Maschine so den Raketen der abchasischen Rebellen entgeht. Auf den holprigen Pisten liegen ausgebrannte Wracks abgeschossener Passagierjets. Die Frauen beten, die Männer trinken. Das jüngst vom zerfallenden Sowjetreich unabhängig gewordene christliche Georgien befindet sich mit den sezessionistischen sunnitischen Abchasen im Krieg. Das von politischen Turbulenzen erschütterte Moskau Boris Jelzins verfolgt konfuse Doppelstrategien. Nichts fürchten die postsowjetischen Militärs so sehr wie ein Chaos in ihrer nunmehr exponiertesten Grenzregion: im Kaukasus. Denn dort kollidieren ethnisch-religiöse Differenzen und geopolitische Interessen Russlands mit denen der USA, der Türkei und des Irans.

Trotz geglückter Landung liegen die Nerven blank. Auf dem Rollfeld beschimpfen junge georgische Rekruten die russischen Aeroflot-Piloten: Ihre Genossen seien ein Verräterpack, unterstützten heimlich die abtrünnigen Abchasen; täten nichts gegen einsickernde tschetschenische Kämpfer. Eine Alte bekreuzigt sich, flüstert: „Teufelsbrut.“ Die tschetschenischen Gotteskrieger sind gefürchtet; sie kommen aus der Kaderschmiede eines Ex-Sowjetoberst, der zum Islam konvertiert ist und das „Emirat Kaukasus“ errichten will. Vor zwölf Monaten wurde hier, in Suchumi, die „Konföderation der kaukasischen Völker“ ausgerufen. Die Scharia, nicht das russische Strafgesetzbuch, soll gelten. Eine Horrorvision für die christlichen Georgier. Die wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass 8000 ihrer schlecht ausgebildeten Soldaten sterben, 250.000 ihrer Landsleute aus Abchasien fliehen werden und die schönste Provinz für Georgien verloren sein wird.

Im Winterregen rauchen die Trümmer einstiger Prachtbauten: Jugendstilvillen, Hotels, Heilbäder – alles kaputt. Der Rustaveli-Prospekt, die in Riviera-Stil angelegte Flaniermeile, ist von Einschlagskratern aufgerissen. Ein halbes Dutzend georgischer Desperados prescht mit einem T-54-Tank durch Parks und Gärten die Promenade entlang, johlt: „Tod den Verrätern.“ In einem verwinkelten Hinterhof brät ein Alter im grob geflickten Kaftan Kartoffeln auf dem offenen Feuer. Dass ihm, dem russischsprachigen Abchasen mit mongolisch-tschetschenischen Vorfahren, Fischen am Strand jetzt zu gefährlich ist, erfahren wir erst später. Zunächst verläuft die überraschende Begegnung im Verborgenen ängstlich und einsilbig. Müsliriegel, Teebeutel, ein Schluck Whisky und das Austauschen unserer Namen lösen die Anspannung.

Uschurma Tschanba heißt der 73-Jährige, in dessen Lebensgeschichte das kaukasische Drama wiederkehrt. Als er im Umbruchjahr 1918 in einem Bergdorf geboren wurde, erlebten die nordkaukasischen Völker eine kurze Restauration ihrer Imamate mit autonomen Dorfgerichten, islamischen Bildungs- und Rechtsinstitutionen. Als Tschanba zehn Jahre alt war, kamen die Kommissare Stalins; sie verordneten nach dem neuen Plan der kollektivistischen Landwirtschaft die Zwangsumsiedlung der Bergvölker in die Täler. Wer Widerstand leistete, wurde als „Bandit“ erschossen. „Stalin, der nur wenige Autostunden von hier in Georgien geboren wurde“, sagt Tschanba, „traute uns, seinen kaukasischen Brüdern, nicht. Genosse Dschugaschwili, der rote Gott, hat uns Muslime gehasst.“ Uschurmas Vater starb beim Trockenlegen von Sümpfen – wie Tausende in den Arbeitskolonnen – an Malaria. Die Mutter ging nach einer Vergewaltigung „zum Propheten ins Paradies“. Die beiden älteren Brüder lehrten ihm Fallenstellen, Fischen und heimlich die Suren des Koran.

Im Oktober 1943 kamen sie nicht mehr nach Hause. Tschanba selbst fand sich mit Hunderten Deportierten auf einem Viehwaggon wieder. „Wir rumpelten tage- und nächtelang steif gefroren, hungrig und durstig nach Osten, nach Kasachstan“, sagt der alte Mann, während er eine heiße Kartoffel in drei Stücke teilt. „Wir beneideten die Erfrorenen und Verhungerten. Sie waren der Hölle entronnen“. Das war auf dem Höhepunkt der stalinistischen Gewaltorgie, als der Georgier ganze Völker des Kaukasus als „Volksfeinde“ deportieren und dezimieren ließ. Am krassesten waren Tschetschenen und Inguschen betroffen – sie verloren zwischen 1939 und 1953 ein Viertel ihrer Bevölkerung. Als verwitweter Greis kehrte der Vertriebene während Gorbatschows Glasnost in sein Geburtsland am Schwarzen Meer zurück. Im milden Klima wollte der Ausgemergelte in einer Fischerhütte zur Ruhe kommen. „Daraus wird nichts“, sagt er apathisch, „jetzt, wo alles auseinanderbricht. Ich brauche keinen eigenen Staat, keinen heiligen Krieg. Aber wer hört schon auf so einen wie mich?“

Heute ist die einst autonome Republik Abchasien ein Paradies in Agonie. Isoliert, verarmt, vergessen; unabhängig, ohne anerkannt zu sein. Dieser 8600 Quadratkilometer große Landzipfel liegt wie ein amputierter Phallus zwischen Russland und Georgien. Die russische Schutzmacht hat für die Olympischen Spiele in Sotschi auf Kosten des kleinen Nachbarn die Grenze elf Kilometer weiter nach Südosten verschoben. Aus Gründen der Sicherheit, wie es aus Kreml-Kreisen offiziell heißt, und für den Ausbau der Küstenautobahn zwischen Sotschi und Suchumi.

Als die Sotschi-Blase platzte

Als Sotschi im Juli 2007 Salzburg für die Austragung der Olympischen Spiele ausbootete, jubelten auch die Bewohner der einstigen Schwesterstädte. Sie hofften auf Chancen, Jobs, Geld und Aufschwung. Gerade in Suchumi, wo nach den Kriegen gegen Georgien alles darniederlag, die Bruderhilfe aus Moskau karg blieb und die Friedensvermittler von UNO und EU resignierten.

Die Sotschi-Blase platzte für die kaukasischen Schwarzmeerbewohner aber bald: Die Milliardenaufträge teilten sich die in- und ausländischen Günstlinge des russischen Präsidenten. Die ultimative Umsetzung der gigantischen Olympiavision benötigte reichlich Geld, üppiges Bauland und billigste Arbeitskräfte. Die ansässigen Menschen waren den Megamachern nur Last. Zuerst bot man ihnen Entschädigungen für ihre Häuser, Gärten und Felder an; dann wurde ein „olympisches Gesetz“ erlassen, das Enteignungen und Umsiedlungen ermöglichte; Werkverträge bekamen die Einheimischen keine, denn sie konnten mit den Niedrigstlöhnen der in Kasachstan und Dagestan angeworbenen Arbeitssklaven nicht konkurrieren. Dafür blühte die Korruption, explodierten die Kosten. Sotschi 2014 ist fünfmal so teuer wie Vancouver 2010. Kein Wunder, denn das olympische Maß für Wladimir Wladimirowitsch Putin liegt im Reich der Mitte: Peking 2008.

8. August 2008, 19.00 Uhr: Die ZK-Nomenklatura heißt in ihrer Metropole die Welt willkommen. Und ein Milliardenpublikum ist via Satellit beim globalen Spektakel dabei. Die politischen Potentaten und die Superdealer des Sports geben sich die Ehre; die VIP-Logen sind trotz heftiger Proteste im Vorfeld gut gefüllt. Die getrennt auftretende Macho-Troika Bush-Putin-Sarkozy verfolgt gebannt, mit welch raffinierter Choreografie die chinesischen Gastgeber Masse und Macht zelebrieren lassen. Postmaoistischer Rigorismus kontrastiert konfuzianische Harmonie, martialische Strenge spielerische Bravour.

Wladimir Putin ist beeindruckt – ein Kameraschwenk zeigt ihn mit seinem Mobiltelefon knipsend. Vielleicht träumt Russlands starker Mann schon vom Toppen dieser Spiele mit den seinen in Sotschi: Überirdisch wird die olympische Flamme 2014 aus dem Weltall flackern; die Architektur seines 120 Millionen Euro teuren Eisstadions wird einem arktischen Schneesturm gleichen; seine Olympiastadt soll das Eldorado der Reichen und Schönen am Schwarzen Meer werden; die Welt wird Russland wieder ernst nehmen.

Die Lichtkaskaden und Feuerwerke in Fernost sind erloschen, als Stunden später gespenstische Ableger im Kaukasus einschlagen. Über der südossetischen Hauptstadt Zchinwali zischen Mörserschlangen, lodern Feuerdome, krachen Bomben: Blitzkrieg im Kaukasus. Georgische Truppen versuchen, die abtrünnigen Südosseten im Handstreich zu erledigen. Ein unglaublicher Hasard mit geopolitischer Sprengkraft: Russland ist – wie in Abchasien – die Schutzmacht Südossetiens. Der in Peking noch breitbeinig grinsende George Bush forciert den 2003 in der Rosenrevolution an die Macht gekommenen Michail Sakaaschwili; der US-Präsident möchte nach den fehlgeschlagenen Abenteuern in Afghanistan und im Irak vor seinem politischen Abgang zumindest noch einen Coup landen: den Kreml mit einem Überraschungsschlag im Kaukasus übertölpeln.

Dort ist Russland am verletzlichsten: In Tschetschenien haben zwei Kriege alte Traumata aufgerissen. Wladimir Putin ist dort verhasst. Er ließ 2000 – unmittelbar nach seinem Amtsantritt – die tschetschenische Hauptstadt Grozny in Schutt und Asche legen; Geheimdienstleute verschleppten massenweise junge Tschetschenen als „Terrorverdächtige“ in „Filtrationslager“, folterten und töteten. Die gnadenlos praktizierte Gegengewalt beschädigte das Siegerimage des Ex-KGB-Agenten Putin und seiner Spezialeinheiten massiv. Und sie ließ Unschuldige bluten: Geiselnahme in einem Moskauer Musiktheater im Oktober 2002; Überfall auf eine Schule in Beslan im September 2004. Der Terror und die missglückten Befreiungsversuche forderten mehr als 500 Todesopfer. Einer der Geiselnehmer, der weithin berüchtigte Dschihadist Doku Umarow, wird während der kommenden Jahre Anschläge auf Flughäfen, Busse, Metro- und Expresszüge in Russland verüben.

Diese Desaster des Wladimir Putin prägen in den Augusttagen 2008 das Risikokalkül des George W. Bush: Der angeschlagene Konkurrent würde dem georgischen Blitzangriff keine Gegenoffensive folgen lassen. Falsch! Wieder einmal verkalkuliert sich Bush: Putin schlägt zurück; russische Panzer stoppen ihre Offensive erst in Stalins Geburtsort, Gori, keine 60 Kilometer von der georgischen Hauptstadt Tbilisi entfernt. Das geschlagene Georgien muss für den russischen Rückzug weitreichende Konzessionen machen: endgültig auf die abgefallenen Provinzen Abchasien und Südossetien verzichten; hohe Reparationen zahlen; keine Mitgliedschaft in der Nato.

Wladimir Wladimirowitsch Putin, der Siegreiche, lässt sich feiern. Handverlesene Gäste sind in die luxuriöse Präsidentenlodge in den Bergen von Krasnaja Poljana geladen. Bernie Ecclestone ist auch da – bald soll ja der Formel-1-Zirkus in der Olympiastadt im Kreis fahren. Ob die Drohnen und Putins wenig zahme „Bluthunde“ den Roten Bullen Flügel verleihen? Ob Vierfachweltmeister Vettel & Co. gar streiken? Wer weiß. Jedenfalls ist US-Tennislegende Billie Jean King, die lesbische Fahnenträgerin der Amis, beim intimen Gipfeltreffen nicht da. Dafür aber Wladimirs Du-Freund Karl. Die österreichische Skilegende vom Arlberg hat sich für Sotschi 2014 mächtig ins Zeug gelegt; die Trademark, der Konsulent Karl Schranz, ist in der Sportwelt immer noch ein Asset. Für den verhinderten Olympiasieger von Sapporo sind die Olympischen Spiele im Kaukasus „eine großartige Sache“. Die Sonne scheint, der Schnee ist griffig. Eh kloar. Felix Austria im Kaukasus.

Und sonst? Nach Sotschi soll die Gnadenfrist des Putin-Vasallen Janukowitsch für die Opposition in Kiew ablaufen. In der Antike galt die Waffenruhe auch nur für den Zeitraum der Spiele. ■

Geboren 1955 in Graz. Dr. phil. Von 1989 bis 2013 für den ORF tätig: Auslandsreport, Brennpunkt, Kreuz & Quer, Lichtblicke (Leitung). Mehrfach ausgezeichnet. Freie Fernsehjournalistin und Autorin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.