Der große Schritt

THEMENBILD: VOESTALPINE / STAHLPRODUKTION / HOCHOFEN
THEMENBILD: VOESTALPINE / STAHLPRODUKTION / HOCHOFEN(c) APA/HANS KLAUS TECHT (HANS KLAUS TECHT)
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Metallschmelze, Waffenbau, Alphabet, Zentralperspektive, Nanotechnologie. – Gehirnsprünge oder: Warum die „westlichen“ Kulturen technologisch-ideell dem Rest der Welt überlegen sind.

I. Segment, Sequenz, Konzept.
Segmentierung, Sequenzierung und Konzeptualisierung sind nicht ein Grundzug, sondern der Grundzug der eurasiatischen, dann euro-amerikanischen Kultur(en).

Der Domestikation von Wildtieren (ab etwa 12.000 v. Chr.), geht das Segmentieren voraus (auswählen, wo es geht und wo nicht; Studium der Futtergewohnheiten etc.); ebenso geht es mit der Aussortierung der schlechteren Weizensorten etc.

Die Prinzipien von Segmentierung plus Anwendung der erzielten Ergebnisse: =Sequenzierung; und dann Konzeptualisierung, nämlich die sich ständig anpassende Anwendung der Ergebnisse, schälen sich heraus als die technologischen wie sozialen Hauptverfahren unserer Gesellschaften.

Besonders deutlich wird das im nächsten kulturellen Schritt, der Metallschmelze; aus dem Eisenerz das Eisen herauszuschmelzen, wo auf der anderen Seite die Schlacke bleibt; welch wundervolle Segmentierung. Ebenso mit dem Zinn; es verflüssigen und dann die herausgeschmolzenen Segmente legieren: Bronze aus Kupfer und Zinn; ergibt dasWort für das nächste Zeitalter: Bronzezeit. Diesen Schritt hat zum Beispiel keine der nativen amerikanischen Kulturen unternommen; trotz Vorhandensein aller nötigen Erzvorkommen und allernötigen Hochtemperaturschmelzöfen; von den Azteken beispielsweise nur genutzt für pottery; Keramiken etc.; und auch keine der nativen afrikanischen Kulturen.

Es ist die jahrtausendelang betriebene Kultur des Segmentierens und Sequenzierensaller wichtigen techno-sozialen Prozesse, die zur Erfindung des phonetischen Vokalalphabets durch die Griechen führt = die Möglichkeit, zunächst alles sprachlich Tönende der Welt aufzuzeichnen mit einem Apparat aus 24 (bei den Römern dann: 26) Segmenten; mit diesen Segmenten alles Bestehende zu erfassen (=Erfindung des Archivs) und alle denkbaren oder nicht denkbaren zukünftigen Welten zu entwerfen. Spätestens ab hier ist die absolute Überlegenheit dieser Kulturen über alle anderen der Welt gegeben. (Schroff: Keine der nicht-alphabetischen Kulturen hat je ein Gewehr gebaut.)

Noch vor der Entstehung des Vokalalphabets, etwa gleichzeitig mit der Metallschmelze: der Schiffbau. Die Hochseeschiffe des 3. und des 2. Jahrtausends v. Chr. sind nicht an einzelnen verstreuten Stränden hier oder da aufgelegt und gebaut worden, sondern an einzelnen zentralen Stellen, wohin die benötigten Bauteile befördert wurden: die Masten zum Beispiel aus dem Libanon (der hohen Zedern wegen); die Planken wurden an anderen Orten gewässert und gebogen; die Seile, der Leim, die metallenen Klammern etc. etc. an wieder anderen Orten produziert; und zu den jeweiligen Orten der endgültigen Schiffsmontage (das waren zunächst besonders phönizische, ägyptische und Orte auf den Kykladen) transportiert; so etwas wie die erste frühindustrialisierte Form der Produktmontage (noch ohne Fordsches Fließband). –Auf das phonetische Alphabet folgt die Segmentierung gespannterSaiten in die Fünf- unddann Acht-Tonleiter; mathematische Ausmessung der Intervalle und Erstellung der mathematischenFormeln durch die Pythagoras-Schule; parallel dazu die Geometrisierung des Raums, vollendet durch Euklid (=Segmentierungaller Körper und Flächen in Dreiecke, Quadrate, Kegel etc.; gültig bis heute). Die Griechen denken die Welt (ohne es experimentell zu beweisen) als aufgebaut aus Atom-Segmenten.

Nächster großer Einschnitt: die Kartografierung der Welt und ihrer Meere durch Weltkarten mit Koordinatensystemen; begonnen von Ptolemäus (der die Erde nicht für eine Scheibe hielt!) um 200 herum; komplettiert im Jahr 1507 in Martin Waldseemüllers Weltkarte, die zum ersten Mal den 360-Grad-Umfang der Kugel auf eine Weltkarte projiziert; die Erdkugel erfasst in einem System aus Längen- und Breitengraden; dargestellt in Planquadraten; ein Verfahren, das in der Tat Ptolemäus begonnen hatte. – Auch inihrer technischen Herstellung war diese Karte (über 2 Meter breit und 1,50 hoch = nicht druckbar auf einer der bis zum Jahr 1507 entwickelten Druckmaschinen) ein Qualitätssprung: Waldseemüller teilte sie auf in zwölf Segmente; Auflage: 1000 Stück; das ergibt 12.000 Druckvorgänge (produziert in einer Druckerei in Straßburg). Auf dieser Karte erstmals das Wort „America“ (abgeleitet von Amerigo Vespucci); Bezeichnung, die sich durchgesetzt hat.

Gleichzeitig mit diesem Kartografieren wird der Blick auf die Welt neu gerechnet und justiert in der Erfindung der linearen Zentralperspektive. Es folgt die Durchmathematisierung aller Räume sowie des menschlichen Körpers in Planquadraten, die zum Bildhintergrund hin kleiner werden, in die man alle Architekturen und Körperteile einrechnen = einzeichnen kann. Was die Kinder unserer Kultur bis etwa zum zwölften Lebensjahr erlernt haben und danach für den „natürlichen Blick“ des Menschen auf dieWelt halten.

Perspektivismus, ballistische Kurven etc. perfektionieren den Waffenbau und die Anwendung der Waffen.

Um 1600 folgt Galilei mit der Vermessung des Himmels. Mit den in Holland entwickelten (und von ihm zum Teleskop verbesserten) Fernrohren sucht er Stück für Stück(= sehr begrenzter Sehraum des einzelnenTeleskop-Blicks) den Himmel ab; er zeichnet diese Ausschnitte auf und entdeckt auf diese Weise die vier Jupitermonde (die beweisen,dass sich nicht alles im All um die Erde dreht). Folgen bekannt.

Circa 50 Jahre später folgen ein paar Holländer und Engländer mit der Erfindung desumgedrehten Teleskops: Mikroskope zurErkennung von Molekular- und Bakterien-Strukturen.

Gesetz der folgenden Entwicklungen: DieTeile werden immer kleiner, die Ketten ihrer Verbindungen (=Sequenzierungen) immer länger; ihre Bewegungen immer schneller. Erkenntnis von Molekularstrukturen; Atomstrukturen. Schließlich die unendliche Sequenzierung von 1 und 0 in den Kalkulationen von Konrad Zuse, Alan Turing, Claude Shannon u.a., die zum Computer führen; die Suche der Physiker nach dem Immer-noch-kleineren-Teilchen (Quarks, Higgs etc.); bis hin zur Annahme unmaterieller Materie: Geteilt bis ins Allerkleinste, ist schließlich ein einzelnes Segment kaum mehr ausmachbar.

Die Auswirkungen der ständig weiter getriebenen Segmentierung, Sequenzierung und neuer Konzeptualisierung liefern den Rahmen der allermeisten heutigen Forschungsprogramme der sog. Naturwissenschaften. Deren Resultate reichen in immer schnellerer Umsetzung in alle lebensalltäglichen, industriellen, medialen wie militärischen Objekte hinein (Nanotechnologie).

Die technologisch-ideelle Überlegenheit der „westlichen“ (in ihrem Ursprung: eurasiatischen) Kulturen über den Rest der Welt seit spätestens der Renaissance und der Kartografierung des Erdballs resultiert aus diesen Technologien und der ihnen zugrunde liegenden Art und Weise, die Welt wahrzunehmen und (immer neu) zu konstruieren.

Die Aufbau-, sowie die Spalt- und Abspaltverfahren der Psychophysis der beteiligten Menschen sind von solchen Miniaturisierungs-, Vervielfältigungs- und Beschleunigungsverfahren nicht unberührt geblieben; das heutige „Ich“ ist ein Produkt dieser technologischen Verfahren; es ist ein „Segment-Ich“.


II.
Historische Schritte, Sprünge, in Stichworten.
Sezieren des Körpers in der Anatomie. Anatomie wird zum Leitwort für alle Sorten „Analysen“: Anatomie eines Mords etc. Der Sezierwahn ist Ableger und Steigerung des Segmentierwahns. Sezieren... anatomisieren...atomisieren...

Architektur: Städte aus Block-Segmenten. Straßen nach Nummern. Stadtpläne wie Koordinatensysteme.

Buchseiten; Wissenssegmente; Umblättern als Vorstufe der Filmmontage. Bücherborde, Stacks.

Mathematisierte Musik; gleiche Notenlängen. Sechzehntel. Bach hören = segmentistisch gedrilltes Ohr. Wohltemperiert= exakt voneinander abgegrenzte Tonhöhen,haarkleine Zerlegung des Klangspektrums in genau abgezirkelte Intervalle und Tonabstände. Die „klassische Musik“ Europas entsteht aus der Abschaffung von Tonverschleifungen. Bach ist wie das phonetische Vokalalphabet; nur noch strenger. Ein Zuchtmeister der Tonsegmentierung und ihrer befehlsmäßig geregelten Sequenzierung.

Barockgärten. Linien, Quadrate, Rechtecke, Kreise. Gartensegmente.

Kamera/Film: 16 bzw. 24 Bilder pro Sekunde. Projektor, Filmritzel. Die Bewegungsfotografien (Zerlegung der Pferdeschritte in ihre Einzelsegmente) von Muybridge.

Blick aus dem Flugzeug: parzellierteLandschaft. Schrebergärten. Mondrian von oben. Nach dem Globus, den Weltmeeren und dem Himmelsbogen wird die nächstumliegende Gegend kartografiert und aufgeteilt; im Innern der Häuser: quadratische Segmente für Leute in quadratischen Klein-Mietwohnungen.

Linguistik: rekonstruiert alte Sprachen in Koordinatensystemen.

Freizeit-Vergnügen: Puzzles aus 10.000 Segmenten. Legosteine. Jedes Kind lernt die Weltsegmente aus Legosteinen und Playmobil.

Nach 1950: PVC-Böden; quadratische Bodenplatten in jeder neuen Küche. Das Kachelbad.

Zonen: Zonen des Pferdekörpers, an die durch Beindruck bestimmte Befehle weitergegeben werden. Entsprechend beim Menschen: die Behauptung erogener Körperzonen. (Die Mitschüler im Gymnasium, die genau anzugeben wussten, wohin man dieMädchen fassen muss, damit sie anspringen.)

Segmente in den Bildern der Impressionisten. Bilder aus Farbpunkten, Pixeln. Zerlegung des Lichtspektrums in verschiedenfarbige Lichtstrahlen. Wissenschaftliche Maltheorien auf Pixelbasis. Dahinter, in zweiter Linie, die Kubisten. Konstruktion der Körper und Gesichter aus geometrisierten Körperteilen, zerlegt in Dreiecke, Quadrate, Kuben und andere abstrakte Formen.

Die Politik der Modelle: Man konstruiert ein Automodell, etwa den Ford T20, und produziert mehrere Millionen davon im Zusammenbauen der Einzelteile am Fließband. Fließband: von Ford zuerst eingesetzt 1913.

Taylorismus: Zerlegung der industriellen Arbeitsvorgänge in einzelne Arbeitsschritte. Vermessen der einzelnen Segmente mit der Stoppuhr. Gängiges Prinzip der Bündelung und Beschleunigung aller Arbeitsvorgänge bis heute, ob in Fabrik oder Büro.

Schneiderei: Schnittmusterbögen; Kleidungsstücke in Segmenten; von Papier auf Stoff zu übertragen. Burdas Reichtum stammtaus dem Verkauf von Schnittmusterbögen nach WW II in der Sowjetunion.

Oder man konstruiert ein Haus als ein Ready-made für zukünftige Hausbesitzer;und verkauft 50.000 Exemplare in der ganzen Welt. Das Fertighaus aus Segmenten.

So ähnlich mit allen anderen Warender Welt. „Fließbandproduktion“ wird zwar eine Art Schimpfwort, aber wer von uns fährt ein individuell konstruiertes Auto; ein paar Gangstertun dies, ein paar gepanzerte Großpolitiker undein paar Tausend Wohnwagenbesitzer.

Genereller Zug der Entwicklung: vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. VomUnsichtbaren zum nurnoch Vorstellbaren. VomVorstellbaren zum Undenkbaren; zum Nicht-mehr-Vorstellbaren. Die Segmente der involvierten Partikel werden immer kleiner; die Sequenzen, in denen sie organisiert sind, werden immer länger.

Nanotechnologie; die Technologie immerkleiner werdender Kohlenstoffverbindungen. Praktische Seiten: Raketenbau, Konstruktion von Raumschiffen. Man arbeitet daran, Informationen auf Lichtstrahlen transportieren zu können; kommende nano-mediale Vernetzung weit auseinanderliegender Galaxien. Aber auch: Autoindustrie; Oberflächenvergrößerung von Bratpfannen; Kosmetikindustrie: je kleiner die Teilchen, desto leichter der Zugang zu den Poren der Gesichtshaut etc.

Revolution des Transportwesens, Container; Containerschiffe. Das größte Frachtermodell heute: Maersk McKinney Möller, Triple E class. Kapazität: bis zu 18.270 Standard Container. Die „Warenwelt“ in Standardsegmenten.

Taylorismus übertragen auf Lebensvorgänge der Gesellschaften führt zum Ausleseprinzip. Steigerung der Segmentierung: Selektionierung. Immer angewandt, wenn „es nicht für alle reicht“, tatsächlich nicht oder angeblich nicht „reicht“ (Heiner Müller). Folge: willkürliche Selektionierung; rassistische Selektionierung. Bestimmung „lebensunwerten Lebens“ durch Aussonderung des „Minderwertigen“ (Euthanasie, Vernichtung minderwertiger „Rassen“ etc.). Prinzip der Konzentrationslager ist die Steigerung des Prinzips alltäglichen Konkurrenzkampfs;von der Segmentierung zur Selektionierung zur Erhöhung der Frequenz der Aussonderung: = Massenmord.


III. Hirnforschung.
In den letzten 15 Jahren der Entwicklung der menschlichen Wissenschaften, und erst in den letzten 15 Jahren, sind endlich auch die Neurologen, Neurobiologen und andere Hirnforscher, d.h. Hirnzerleger, in ihrem Segmentieren undSequenzieren weit genug gekommen, ein brauchbares Theoretisieren über die angesprochenen Prozesse zu verbessern bzw. erst zu ermöglichen. Hatten sie sich jahrzehntelang abgemüht, das Ensemble menschlicher Verhaltensweisen in bestimmten Gehirnarealen zu verorten, deren Funktionen sie darüber hinaus als anatomisch festgelegt betrachteten (Sprach-, Hör-, Gefühls-, Denk-Zentren; linke vs. rechte Hirnhälfte etc.), hat sich in den 10er-Jahren des 21. Jahrhunderts die Erkenntnis durchgesetzt, dass unsere Hirne in wechselnden Verschaltungen, sog. Synapsenschaltungen, funktionieren. Diese Synapsenschaltungen gelten als prinzipiell veränderbar: sowohl nach gemeinsamen, also geteilten, gesellschaftlichen Bedingungen wie auch nach der Einwirkung persönlicher Umstände und Erfahrungen. Es kommt jeweils darauf an, welche Synapsenverschaltungen angeregt und weiter stimuliert werden (nicht erst beim Kleinkind, sondernschon beim Fötus).

Prinzipiell gilt, dass bei allen komplexeren Aktionen des Hirns zumeist alle Hirnregionen beteiligt sind und dass die Komplexheit seiner Verschaltungen den Grad seiner Leistungsfähigkeit bestimmt. Dieser sinkt, je geringer die Vernetztheit seiner Synapsen beim Einzelnen oder der Gesamtheit der Angehörigen einer Kultur ist. Dabei gilt das praktische Gesetz: Use it, or loose it. Areale oder Verschaltungen, die nicht benutztwerden oder nie aktiviert worden sind, verkümmern. Belebbar sind alle Hirnverschaltungen; abstellbar aber auch. Entscheidend ist die Feststellung der sozialen Verfasstheitdes Hirns sowie die Feststellung von der genetischen Weitergabe sozial erworbener Verschaltungen; das schließt die Möglichkeit rapider Sprünge und Umbauten in den neurologischen Verschaltungen ein, die ebenfalls genetisch weitergebbar, also „vererbbar“, sind. Auch biogenetisch Vererbbares kann zuvor vom Vererbenden erworben worden sein.

Solche zunächst rapiden und dann innerhalb einer Kultur allgemein erworbenen Veränderungen der Hirnstruktur, die einen besonderen Haltbarkeitsgrad für eine jeweilige Kultur erlangen und damit auch ihre Vererbbarkeit, bezeichne ich als Gehirnsprünge.

Genauer aber müsste es wohl Zellsprünge heißen. Erst springt der Körper, dann das Gehirn.

Hirnforscher Antonio Damasio, Harvard („Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins“, 2010): Im hoch entwickelten Gehirn der komplexeren Lebewesen ahmen Neuronennetzwerke am Ende den Aufbau der Körperteile nach, denen sie zugeordnet sind. Sie repräsentieren den Zustand des Körpers, indem sie ganz buchstäblich eine Landkarte des Körpers, für den sie arbeiten, darstellen und eine Art virtuelles Abbild, ein neuronales Double, schaffen. Wichtig ist dabei, dass sie während des ganzen Lebens mit dem Körper verbunden bleiben, den sie nachahmen. Kurz gesagt, sind Neuronen auf den Körper ausgerichtet, und diese Gerichtetheit, dieser unaufhörliche Hinweis auf den Körper ist das definierende Merkmal von Neuronen, Neuronenschaltkreisen und Gehirnen. Nach meiner Überzeugung ist diese Gerichtetheit der Grund, warum der unterschwellige Lebenswille unserer Körperzellen sich jemals in einen mit Geist ausgestatteten, bewussten Willen umsetzen konnte. Der heimliche Wille der Zellen wurde in den Schaltkreisen des Gehirns nachgeahmt.

Für Damasio ist ausgemacht, „dass Gehirne und Neuronen vom Körper handeln“; zu erforschen bleibt im Einzelfall, „wie die Außenwelt in Gehirn und Geist kartiert wird“; also was für eine „Ich“-Struktur aus dieser muskulären Kartografierung der Außenwelt resultiert.

Eine solche Neukartierung der Außenwelt nahmen Körperzellen und Gehirne der Jäger und Sammler vor, als sie sich vor 12.000 Jahren von Wildbeutern zu Ackerbauernwandelten. Die aus der Wildtierdomestikation und der Getreideselektion resultierenden Wahrnehmungs- und Denkvorgänge Segmentieren und Sequenzieren werden hier zuerst bei kleineren Menschengruppen und dann im Lauf der folgenden Jahrtausende bei prinzipiell allen zu Standardverschaltungen der Gehirne der eurasiatischen Kultur. Sie bestimmen ihre weiteren Entwicklungsschritte.

An den Verfahren der frühen Tierdomestikation geht einem auch auf: Ab hier sind die menschlichen Lebensvorgänge nicht mehr primär „natürliche“; es sindselbst gemachte, selbst gesteuerte Eingriffe in die vorgefundene Welt. Es sind wissenschaftliche Prozesse, Prozesse künstlicher Erzeugung von Lebens- und Wirtschaftszusammenhängen; es ist, um einen modernen Begriff dafür zu benutzen, eine Form von Biopolitik. Es sind Züchtungsprozesse. Es sind nicht nur artifizielle, es sind auch Kunstprozesse. Menschen werden die Produzenten künstlich und kunstvoll erzeugter Lebenszusammenhänge; und das ist – zumindest in den eurasischen Bereichen – so geblieben seitdem.

Heutiger Stand, eine Revolution: Die modernsten elektronischen Technologien gelangen in die Hände aller Menschen aller Kulturen. Frage: Welche neue Formen der Psychophysis resultieren aus dem Zusammenstoß bzw. der Vermischung der verschiedenen Zivilisationsstufen? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2014)

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