Hier sind wir Großstadt

(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die Zukunft ist seit Kurzem ausgemachte Sache. Aber wie war das eigentlich mit der Vergangenheit? Mariahilfer Straße: zur Geschichte eines Boulevards der Sinne.

Gehet hin und höret! Die neu organisierte Mariahilfer Straße ist zu einem akustisch bemerkenswerten Ort geworden. Dort, wo einst lebhaftes Treiben und konstanter Verkehrslärm eine eng verwobene, jahrzehntelang gewohnte Soundkulisse bildeten, wird man heute – von Ruhe umhüllt. Zwar ist es keineswegs mucksmäuschenstill, aber doch so deutlich viel leiser, dass man verwundert die Ohren spitzt. Allzu internalisiert und für fast unveränderlich gehalten hatten wir alle bereits den Klang dieser größten Wiener Einkaufsstraße.

Die aktuelle Phase kann als historisches Zeitfenster gesehen werden, das zeigt, wie sehr unsere Wahrnehmungen von Gewohnheiten geprägt sind; und das uns zudem daran erinnert, dass die Mariahilfer Straße stets ein ganz spezieller Boulevard der Sinne war, dessen vielfältige Attraktionen immer wieder für Aufsehen bei Wiens Bevölkerung sorgten. Gesäumt von zahlreichen Handwerksbetrieben und Einkehrgasthöfen, stellte der Verkehrsweg eine der wichtigsten Verbindungen Richtung Westen dar. Auch und besonders für das Kaiserhaus, das die Straße regelmäßig für Fahrten zwischen der Hofburg und Schloss Schönbrunn benutzte. Stets wurden die kaiserlichen Kutschen von neugierigen Blicken der Bevölkerung begleitet: Ein erhöhter Schauwert war somit schon damals garantiert, für eine Straße, die – neben zahlreichen Bezeichnungen – auch einmal Schönbrunner Straße hieß und ihrer vornehmen Bestimmung zufolge eigentlich Kaiserstraße hätte heißen müssen.

Bereits ab 1826 war sie bis zum Linienwall gepflastert und als erste Wiener Vorstadtstraße durchgehend beleuchtet. Ein repräsentativer Stadtraum also, der sich deutlich abhob von den Straßen der Umgebung, die schummrig dalagen, aufgrund der fehlenden Befestigung staubig oder matschig waren und sich auch vom Klang her wenig auffällig präsentierten.

Mit dem Abbruch der Stadtmauern und dem im Dezember 1858 eröffneten Westbahnhof begann im innerstädtischen Abschnitt die Entwicklung hin zum modernen Geschäfts- und Handelszentrum. Nach dem Vorbild der Pariser Boulevards sollte auch auf der Mariahilfer Straße die Zirkulation von Personen und Waren im großen Stil befördert werden. Seit 1869 verkehrte hier die Pferdetramway, Handwerksbetriebe und Einkehrgasthöfe machten Ladengeschäften, Kaffeehäusern und Hotels Platz. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden schließlich die ersten Warenhäuser, riesige Konsumpaläste mit bisher unbekannten sinnlichen Verheißungen. Neue Formen der Warenpräsentation breiteten sich aus, verlockend inszeniert in großflächigen Schaufenstern, oft bis in die oberen Geschoße hinauf und weit in den Straßenraum hinein wirkend. Eine überwältigende neue Kulisse, vor der sich das urbane Leben nunmehr abspielte. Das moderne „Window Shopping“ war geboren.

Den Anfang machte Stefan Esders Warenhaus „Zur großen Fabrik“, im April 1895 in der Mariahilfer Straße 18 eröffnet und sogleich eine Sehenswürdigkeit ersten Ranges. Nicht nur die „Neue Freie Presse“ war voll des Lobes über das „großstädtische Bild voll Pracht und Glanz“, und einhellig war man der Meinung, dass es ein „Geschäfts-Etablissement von ähnlicher Großartigkeit in Wien noch nicht gegeben habe“ (heute Möbelhaus Leiner). Es folgte ein Jahr später das „Warenhaus D. Lessner“ in der Mariahilfer Straße 71 sowie 1897 an der Ecke zur Stiftgasse das „Warenhaus A. Herzmansky“. (Heute befindet sich in dem Gebäude das Bekleidungshaus Peek & Cloppenburg, in der Stiftgasse ist noch ein schöner Teil der originalen Herzmansky-Fassade erhalten.)

1904 öffnete das „Warenhaus A. Gerngroß“ seine Pforten, das alles Bisherige an Pracht und Größe übertraf. 1911 folgte als Letztes der Rundbau des „Mariahilfer Zentralpalastes“ (später Stafa), der auf seinem obersten Stockwerk eine Aussichtsterrasse mit Fernrohren eingerichtet hatte.

In allen Warenhäusern war die technische Ausstattung auf dem neuesten Stand. Elektrische Beleuchtung war selbstverständlich, Hunderte Bogenlampen und Tausende Glühbirnen boten nachts einen verführerisch glitzernden Anblick. Die Etablissements erschienen in „goldiges Licht“ getaucht, verströmten eine geradezu „feenhafte“ Atmosphäre. Ebenso selbstverständlich war der Einbau von Aufzügen, mit denen die Kunden der Kaufhäuser das neuartige Gefühl des Transports in der Vertikalen erproben konnten. Wohl nicht ohne Unbehagen, denn die Angst vor einem Absturz war, trotz wiederholter Beruhigungen auch in den Zeitungsberichten, durchaus lebendig. Gleich fünf Aufzüge gab es bei Gerngroß, der zudem erstmals in Wien eine Rolltreppe vorführte. Im Zentralpalast wiederum konnte man zusätzlich zu den herkömmlichen Aufzügen mit einem Paternoster fahren.

Auch die Verkehrsinfrastruktur wurde zurJahrhundertwende den Erfordernissen einer modernen Metropole angepasst. 16 Meter hoch aufragende Lichtmasten mit Bogenlampen, sogenannte „Bischofsstäbe“, sorgten künftig für die Beleuchtung der Straße. Diese erfuhr eine Verbreiterung zum Boulevard, im Zuge dessen man unter anderem die Laimgrubenkirche in die Windmühlgasse zurückversetzte. Die Straßenbahn wurde elektrifiziert, auf Wunsch des Kaisers zur Bewahrung des Stadtbildes zunächst mit unterirdischer Stromführung, aufgrund von technischen Problemen ab 1915 dann doch mit Oberleitung. Den Passanten stand an der Ecke zur Amerlingstraße eine unterirdische Bedürfnisanstalt zur Verfügung, elegant und nach dem neuesten Stand der Technik eingerichtet mit Wasserspülung und gestanksmindernden Öl-Urinoirs.

Eine metropolitane Straße war entstanden, würdig der Reichshaupt- und Residenzstadt, wie ein Zeitgenosse euphorisch formulierte: „Es gibt wohl keine zweite Straße in Wien, welche einen so imponierenden Eindruck geschäftlichen Lebens machen würde. Den Fremden setzt das großartige Getriebe in dieser langen Straßenzeile in Erstaunen, und der Wiener fühlt es dort: ,Hier sind wir Großstadt.‘“ Fußgänger waren angehalten, sich auf ein anderes Körper- und Raumgefühl einzustellen, auf ein Austarieren von Nähe und Distanz, eine Begegnung mit der Masse, die auf der Straße und in den Geschäften beständig hin und her strömte. Schon Max Winter, dem Journalisten und aufmerksamen Zeitdiagnostiker,war aufgefallen, dass man hier beständig „gedrängt und geschoben wird, wenn man nicht selbst drängt und schiebt“. Die „verzerrten Züge der Hast“ seien zu bemerken und ein andauerndes Lärmen, kurzum: der „Pulsschlagder Zeit“. Denn die Mariahilfer Straße war keine leise Straße, im Gegenteil. Ihr geschäftiges Treiben war zum Inbegriff von Modernität und Prosperität geworden.

Zu ihren Hauptattraktionen gehörten neben den Warenhäusern auch die zahlreichen Lichtspieltheater, die sie schon bald als die bedeutendste Kinomeile Wiens auswiesen. Neben zwei kleineren, nur wenige Jahre bestehenden Vorführstätten eröffneten fünf Großkinos mit jeweils mehreren hundert Sitzplätzen: Schäffer-Kino (1906), Flottenvereins-Kino (1913), Haydn-Kino (1917), Maria-Theresien-Kino (1918), Zentralpalast/Stafa-Kino (1920). Das größte war das Flottenvereinskino mit 800 Sitzplätzen, das architektonisch bemerkenswerteste das Stafa-Kino mit einem runden Zuschauersaal. Im Jahr 1937 wurde noch das am Beginn der Mariahilfer Straße gelegene Non-Stop-Journalkino eröffnet, ebenfalls eine Spezialität, da es keine Spielfilme, sondern Aktualitäten und Wochenschauen zeigte. Als Architektur für die Nacht, bei der das Licht im Außen- wie im Innenraum eine zentrale Rolle spielt, passte das Kino ideal in eine Geschäftsstraße, in der neben unzähligen anderen Waren auch der Film intensivst gehandelt wurde. Ein zumindest in den Anfangsjahren überaus lukratives Unternehmen angesichts der generell hohen Kundenfrequenz vor Ort.

Ab den 1920er-Jahren tauchten neue visuelle Signale auf: Leuchtreklamen kletterten die Fassaden empor, machten das Straßenbild abwechslungsreicher und vor allem bunter. Absolutes Highlight war die riesige rote Neonreklame des Kaufhauses Gerngroß, zwölf Meter hoch und sieben Meter breit. Auf dem Dach des Hauses hatte man zudem einen Leuchtturm montiert, dessen weißer Strahl nachts im Minutentakt über die umliegenden Dächer kreiste und beachtliches Aufsehen erregte. Auch das mondäne Warenhaus Zwieback, das seinen Stammsitz in der Kärntner Straße hatte, auf der Mariahilfer Straße aber gleich drei Filialen besaß, machte durch eine überdimensionale Lichtsäule von sich reden, die mitten auf der Straße stand, vor dem noblen Damenmodengeschäft „Elysée Zwieback“ auf Nummer 111. Im Volksmund als „Zwiebacksäule“ bezeichnet, mutete die Leuchtreklame wahrhaft großstädtisch, ja – wie es hieß – „geradezu amerikanisch“ an.

Die Straße war zum metropolitanen, von der Ökonomie dominierten Wahrnehmungsraum geworden, eingerahmt von hohen Gebäuden, von Glas, Schrift und Reklame, durchflutet von Lichtsignalen, akustisch dominiert von den Geräuschen der Passanten und des Verkehrs, wobei sich neben der Straßenbahn die motorisierten Fahrzeuge immer deutlicher bemerkbar machten.

Sie waren es auch, die dröhnend die Luft erfüllten, als Hitler im März 1938 an der Spitze eines Autokonvois in die Stadt einfuhr. Nicht zufällig hatte er dafür Wiens Prachtstraße gewählt, die in ihrer ganzen Länge festlich dekoriert worden war mit Flaggen und weißenSäulen, an denen Blättergirlanden und goldene Hakenkreuze prangten. Über die Straße waren Transparente mit nationalsozialistischen Parolen gespannt, die Menschen jubelten am Straßenrand oder schauten gebannt durch die Fenster, deren Öffnen strengstens verboten war. Ein schauriges Spektakel angesichts der in der Folge zahllosen Opfer vor allem unter den jüdischen Geschäftsinhabern der Mariahilfer Straße.

Die Nachkriegszeit begann mit dem Versuch der Rückkehr zur sogenannten Normalität. Die jährliche Weihnachtsbeleuchtung wurde wieder eingeführt, mit dem Generali Center eröffnete 1968 ein neues Kaufhaus, und mancherorts gab es auch neue Geschmäcker zu erkunden. Etwa im stadtbekannten Lokal Quisisana, zwischen Herzmansky und Gerngroß gelegen, in dem man, für viele erstmals in Wien, amerikanische Speisen und Getränke konsumieren konnte: Milchshake mit Hawaii-Ananas und Schlagobers beispielsweise oder verschiedene Arten von Sandwiches mit extra viel Mayonnaise.

Doch der Aufschwung erreichte seine Grenzen. Die Mariahilfer Straße geriet in Bedrängnis, ausgelöst durch steigende Konkurrenz und sich wandelndes Einkaufsverhalten. Als Aufsehen erregendes Symbol dafür kann der Großbrand des Kaufhauses Gerngroß gesehen werden, der im Februar 1979 die Krise der Warenhäuser ebenso wie jene der Kinos, die sukzessive aus der Straße verschwanden, auf den Punkt brachte.

Die Geräusche der Straßenbahnen verschwanden; die U-Bahn, 1993 eröffnet, brachte den Anschluss an ein hochleistungsfähiges öffentliches Verkehrsnetz; die Gehsteige wurden verbreitert, überdimensionale neue Beleuchtungskörper installiert. Eine zweispurige Fahrbahn für die Autos blieb in der Mitte bestehen. Eine stadtplanerische Lösung, die nun erneut zur Disposition steht. Eines scheint klar: Die Stärke dieser Straße liegt im Transitorischen. Es sind die Dynamik des Kommerzes und das Eintauchen in eine andere Sinneswelt, die seit je die Attraktion dieses Standorts ausmachten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2014)

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