Auf möglichst kleiner Fläche möglichst viele Arbeitsplätze, der Mindestlohn liegt bei 80 Dollar im Monat – davon kann man aber auch in Kambodscha nicht leben. Streiks, Demonstrationen, junge Leute, die Polizei schießt auf die Menge. Unterwegs in Kambodscha.
Wie wohl die meisten Touristen bin ich wegen der Tempelanlagen von Angkor nach Kambodscha gereist. Sie begeistern durch ihre Weitläufigkeit und schiere Größe einerseits, durch die Feinheit der Ausführung andererseits, durch Strenge des geometrischen Plans der Anlagen drittens, die in denkbar schroffem Kontrast zum unbändigen Wuchern des umgebenden Dschungels steht. Es ist etwas Märchenhaftes um diese von Alter und Regen dunkel gefärbten, trotz ihrer Wucht feingliedrigen Türme, Treppen, Rampen undMauern, die sich unversehens aus Dunst und Miasma erheben. Freilich kommt einem bald der Gedanke, dass all diese großartigen Monumente, mögen es die ägyptischen Pyramiden sein, die Tempel von Angkor oder die Wolkenkratzer von NYC, Ausdruck von Gesellschaften sind, die das Leben der Einzelnen einem einzigen Willen unterordnen. Was ist denn menschliche Architektur, das heißt, eine dem menschlichen Maß angemessene? Doch wohl ein kleines Haus mit Garten. Das erfüllt die menschlichen Bedürfnisse. Alles andere ist zum Staunen und Träumen da. Staunen und Träumen sind wohl auch menschliche Bedürfnisse.
Mit der beiläufigen Bemerkung unseres Führers, eines jungen Mannes um die 30, schwarzhaarig, klein und zart von Wuchs, grundsätzlich sanft und umgänglich wie die meisten Khmer, nimmt alles eine andere Richtung. Er sagt: „Wenn wir nicht leben können, brauchen wir keine Monumente.“ Es stellt sich heraus, dass die großen Einnahmen aus dem Tourismusgeschäft in der Hauptsache ein paar Firmen zufließen, die die Lizenzen vom Staat gepachtet haben. Unlängst erst sollte der Antransport der Gäste zu den Tempeln auf Elektroautos umgestellt werden, zum Schutz der Anlagen. Damit wären die lokalen Tuk-Tuk-Fahrer aus dem Geschäft gewesen. Sie haben sich gewehrt und die Elektroautos angezündet.
Als ich mich entschloss, nach Kambodscha zu fahren, wusste ich, was mich erwartet: ein von schier endlosen Kriegen traumatisiertes Land, korrupte politische Verhältnisse, latenter Bürgerkrieg, wie er fast alle vorderasiatischen Länder kennzeichnet. (Schon beim Begriff „Arabischer Frühling“ hat sich mir der Magen umgedreht. Die Hauptaufgabe unserer hiesigen Kommentatoren besteht vor allem darin, dem p.t. Publikum den Eindruck zu vermitteln, es sei alles auf gutem Weg und durchaus beherrschbar. Tatsächlich ist es ein Weg voller Leid, eine Straße der Opfer. Not erscheint als Kollateralschaden, als bloße Begleiterscheinung: Alles wird gut. Wenn es doch so wäre! Und bis dahin?)
Die längste Zeit fahren wir an einemFlusslauf entlang, die Ufer gesäumt von den landesüblichen Stelzenbauten. Das reicht von der postmodernen Protzvilla bis zum Einzimmerverschlag aus rohen Brettern. Wir kommen an größeren Hütten vorüber mit offenen Veranden, den typischenLiege- und Sitzplattformenaus poliertem Holz, den Hängematten, die jetztleer, auf bloße Striche verkürzt, von den Balkenhängen. „Abends ist alles voll, das sind Restaurants für die Reichen“, erklärtunser Führer: „Hin undwieder komme ich mitmeiner Frau heraus, zum Essen – ganz wie die reichen Leute. Meine Eltern waren noch nie in Angkor.“
In Phnom Penh, der Hauptstadt. Nach Absolvierung des touristischen Pflichtprogramms – Königspalast, Silber-Pagode, Nationalmuseum – gehen wir vom Vat Phnom, einem von einer Pagode gekrönten Stadthügel, zum Freiheitspark hinüber. Meine Frau hat auf dem Hügel oben einen Singvogel freigekauft, da fliegt er – angeblich verschafft einem das die sofortige Vergebung aller Sünden. Seit Wochen ist der Freiheitspark jetzt Zentrum der Proteste gegen die Regierung. Gleichzeitig ist er Versammlungsort der für höhere Löhne streikenden Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter. Man hat mir die Lage so erklärt: Aus Kostengründen haben die Fabrikbetreiber, Amerikaner, Chinesen und Koreaner in der Hauptsache, auf möglichst kleiner Fläche möglichst viele Arbeitsplätze eingerichtet – dementsprechend sind die Arbeitsbedingungen. Der monatliche Mindestlohn liegt bei 80 Dollar, davon kann man auch in Kambodscha nicht leben. Man wird davor gewarnt, politische Versammlungen zu besuchen, Demonstrationszüge soll man meiden. Der Freiheitspark ist eigentlich ein großer, lang gestreckter Platz, von kümmerlichen Baumreihen eingefasst. Als wir ankommen, es ist früher Abend, sehr heiß noch, steht dort eine tausendköpfige Menge und hört den Reden von Anführern zu, die man weit, weit vorn auf einer Tribüne sehen kann. Die Stimmung ist aufgeheizt, immer wieder schwenken die Leute ihre mitgebrachten Fahnen, oder sie heben zustimmend die geballten Fäuste. Ich kann mir nicht helfen: Der Eifer, die Wut, die kaum verhüllte Hoffnung, all das springt auf mich über. Es zieht mich hinein in die Menge, immer tiefer hinein, ich weiß nicht . . . Erst als meine Begleiter sich weigern weiterzugehen, kehre ich um.
M. ist Beamtin,knapp an die 60, klein und zierlich, große, dunkle Augen, ein schwarzer Zopf, geht wie ein Kind neben mir her, ganz verfangen in die schrecklichen Bilder, die ihr beim Erzählen aufsteigen. Sie spricht stockend, sucht nach Worten, nicht radebrechend: „Nachts kommen die amerikanischen B52-Bomber herein. Erst werden ,Christbäume‘ geworfen, die alles taghell erleuchten. Wir sind im Erdbunker. Dann die Kanister – auf die geschossen wird. Jetzt läuft das brennende Öl herunter. Meine kleine Nichte wird ganz verbrannt, stirbt,keiner kann ihr helfen.“ (Auf Kambodscha, leseich später, wurden während des Vietnamkrieges, ohne Kriegserklärung,mehr Bomben abgeworfen als auf Japan während des ganzen Zweiten Weltkrieges.) „Als die Khmer Rouge in Phnom Penh einmarschieren – die Leute jubeln! Die Kinder sind ihnen entgegengelaufen. Man hat mich in den Dschungel geschickt, zu Rodungsarbeiten. Wir alle mussten gehen. Viele sterben. Nachts schlafen wir in den Bäumen, hoch oben, wegen der Tiger. Kam einer in die Nähe, schlugen wir mit Stöcken und Pfannen gegeneinander, bis er weglief.“ M. erzählt, wie ich merke, sie erzählt gar nicht mir, ich bin nur Zeuge oder Vorwand – es muss heraus, alles will sie sagen: „Unsere Regierung ist schlecht. Unsere Regierung bestiehlt uns. Sie verkaufen den Wald, die Diamanten – sie verkaufen alles.“
Kokospalmen, Mangobäume, Papayas, Ananas, Gemüse, Gewürze, Palmöl, aber vor allem Reis. Die zentralkambodschanische Ebene ist sehr fruchtbar. Schaut man von den Hügeln von Oudong, ehemals stand dort der Königspalast, auf die Ebene hinunter – sie greift weiter aus, als das Auge reicht, verliert sich draußen im Dunst. Kleine Dörfer, Reisfelder, Reisfelder, Palmen und Buschgruppen.
Auf den Feldern arbeiten Bauern, man sieht kaum Maschinen, dafür diese kegelförmigen Hüte aus Reisstroh, wie man sie aus chinesischen, japanischen Tuschezeichnungen kennt. Fehlen nur noch die Ochsen und Wasserbüffel – dort drüben weiden sie! Jetzt ist Erntezeit, Trockenzeit. Der Reis wird mit der Sichel geschnitten, die Garben werden mit Stöcken ausgedroschen. Ochsenkarren. Unterhalb der auf Stelzen stehenden Häuser Arbeitsvorrichtungen, Ställe, Hängematten und Plattformen zum Essen und Wohnen.
Der Morgenverkehr ist heute wie immer sehr lebhaft, deutlich verstärkt allerdings durch mit Fahnen bestückte Tuk Tuks sowie von Kolonnen vom Kleinlastern, die man mithilfe von quer über die Ladeflächen gebundenen Brettern in eine Art offener Busse verwandelt hat: Auf den Ladeflächen sitzen, eng gedrängt, meist junge Leute, die zur großen Demonstration unterwegs sind. Es ist Sonntag, arbeitsfrei. Wir winken ihnen vom Gehsteigrand aus spontan zu. Ihr Trotz, ihr Mut, ihre Siegesgewissheit stecken an. Da fällt mir, für einen Augenblick, ein, man könnte uns, als Fremde, als barang, wie sie hier sagen, für Leute von der anderen Seite halten, für Agents provocateurs: Vielleicht halten sie uns für Feinde, fällt mir plötzlich ein. – Aber nein, sie tun es nicht, sie winken freundlich zurück und recken die Fäuste.
Schon in den vergangenen Tagen sind mir Aufläufe, ein irgendwie ratloses Durcheinander an den Fabrikstoren ist mir aufgefallen, da und dort von Polizisten beobachtet: Die Menge versuchte die Arbeiterinnen davon abzuhalten, zur Arbeit zu gehen. Streikposten sah ich keine. Die Fabriken, weitläufige, lang gestreckte Hallen, stets von hohen Mauern umgeben, die man oben mit Stacheldrahtrollen zusätzlich gesichert hat.
Jetzt geht es die lange und endlos gerade Veng Seng Straße hinunter, Richtung Industriezone und Flughafen. Auf den Gehsteigen, vor den Läden mit ihren ausgelegten Waren patrouillieren Militärpolizisten in schwarzen Monturen, mit weißen Helmen, Sturmgewehre vor der Brust. Weiter draußen auch reguläre Truppen in Tarnanzügen, sie kampieren auf den Rasenflächen, stehen müßig herum, die Tuk Tuks mit den Fahnen, die Kleinlaster mit den jungen Leuten rollen vorbei. Dicke Luft. Ein paar Tage später schießt die Polizei mit scharfer Munition in die Menge.
Wer einmal die Torbauten von Angkor Tomgesehen hat, die aus Stein gehauenen, gottgleich lächelnden Köpfe oder Gesichter, wer über die Schlangenbrücke auf die wuchtige und zugleich zarte, filigrane Baumasse von Angkor Wat zugegangen ist, wer von einem der hoch aufragenden Tempel über dem Urwald, spiegelnde Wasserflächen und das schachbrettförmig gegliederte Bauernland hingeschaut hat, er wird es nie vergessen.
Während ich eine der verdreckten Hauptstraßen in einem der an den Nationalstraßen aufgefädelten Provinzkaffs hinuntergehe, die Sonne scheint grell auf den Dreck, auf die immer gleichen Stapel aus Cola-Dosen, Mineralwasserflaschen, Crackers und Kokosnüssen, denke ich plötzlich: Warum muss es nur immer jetzt sein – weshalb kann es nicht später sein, meinetwegen, in hundert, inzweihundert Jahren?
Man könnte sagen, die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wiederholt sich in Ländern wie Kambodscha. Ob das ein Trost ist? Die Europäer, als ehemalige Kolonialherren, sind an den herrschenden Zuständen zwar nicht allein schuld, aber sie sind mit schuld. Wir machen uns weiter schuldig, wenn wir nicht achtsam sind. Viele unserer europäischen Markenfirmen lassen auch in Kambodscha produzieren, freilich hinter Auftragnehmern und Strohmännern vertarnt.
Bleibst du daheim, bekommst du Wissen und Information gleichsam desinfiziert über die Medien. Fährst du hin, setzt du dich aus oder, genauer: Du kannst dich aussetzen. Das tut weh. Aber das sollte ich besser für mich behalten.
Schlussbemerkung: Während sich etwa die deutsche Bundesregierung der Verantwortung für die Vorgänge in Kambodscha gestellt und dagegen protestiert hat – hat es die unsere nicht getan. Unsere Leute haben geschwiegen. ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2014)