Die dünne Schicht

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58 Wiener Opernball 2014 Wiener Opernball 2014 Staatsoper Wien 27 2 2014 Johannes B KERNER Chr(c) imago/Viennareport
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Prekäre Verhältnisse. Jedes Stadtviertel: ein heimliches Schlachtfeld. Jeder Nachbar: dein Rivale. Hundert Jahre nach den Schüssen von Sarajewo: Was bedeutet „Krieg“ heute?

Die Welt von 1914 lebte in dem Bewusstsein, an einem Wendepunkt zu stehen. Heute, hundert Jahre später, hat sich vieles, ja alles verändert. Alles: Unsere Arbeit ist digitalisiert, die Freizeit technologisiert, und unsere täglichen Gewohnheiten sind völlig neu programmiert worden. Doch trotz aller Unterschiede improvisieren anscheinend auch wir unser Leben oft amRande eines Abgrunds. Viele Menschen haben das Gefühl, dass der Rand der Klippe zu unserer Wohnstätte geworden ist.

Wie kann das sein? Welche Verbindung überspannt einhundert Jahre?

Ich beginne meinen Versuch einer Antwort mit der Überraschung, die sich mir bei meinen Recherchen aufgedrängt hat. Eine unwillkommene Schlussfolgerung starrte mir ins Gesicht: Nicht die Herrschenden haben den Weltkrieg vom Zaun gebrochen. Ihre Untertanen wollten ihn offenbar. Der Zar weinte, als er die fatale Erklärung unterzeichnete; der deutsche Kaiser zitterte; der österreichische Kaiser, so heißt es, hielt die Feder mit so unsicherer Hand, dass der Tintenfleck auf seinem Schreibtisch noch heute sichtbar ist. Doch bei beiden Kontrahenten im bevorstehenden Abschlachten hallten Jubelschreie auf den Straßen.Überall in Europa, in den Hauptstädten wie auch in den Provinzorten, überall stoppte der Verkehr, damit die Massen auf den Straßen tanzen konnten.

Wie konnten sie nur?, fragen wir heute von unserem ernüchterten, narbenübersäten Standpunkt aus. Was bewegte sie?

Was sie bewegte, war eine Naivität, die wir seither abgelegt haben und die ich ein bisschen später diskutieren werde. Doch was sie außerdem bewegte, war ein Unbehagen, das auch uns heute heimsucht – und zwar noch hartnäckiger als gestern.

Wir tragen diese Krankheit in uns seit dem Beginn der industriellen Revolution, die die Effizienz der Güterproduktion enorm steigerte, während sie mit gleicher Vehemenz das gesellschaftliche Gefüge in Stücke riss. Durch sie wurden Millionen entwurzelt, verließen ihren heimatlichen Herd, ihre althergebrachte Lebensart, den Schutz der Gemeinschaftlichkeit. Ohne diese natürlichen Bande wurden sie zu einer amorphen Masse aus vereinzelten Atomen. Das Einzige, was sie wahrscheinlich am ehesten gemeinsam hatten, war eine neidvolles Streben nach dem persönlichen Erfolg, der durch denGrad, in dem man andere übertrumpfte, definiert und demonstriert wurde.

Die Gesellschaft hatte sich in einer Arena einander bekämpfender Individuen aufgelöst; in Einzelmenschen, die sich um dieVorherrschaft rauften, wobei Geld ihr Maßstab war; in Einzelmenschen, die keine Erfüllung fanden, wenn sie nicht die Spitze erreichten; und die, wenn ihnen dies gelang, isoliert auf einem Gipfel zu stehen kamen, belagert von Neidern. Ob man sich nun in Wohnblocks abmühte oder in glitzerndem Luxus verbarrikadierte – jedes Atom musste ständig bereit sein zum Angriff oder zur Verteidigung. Doch zur gleichen Zeit brauchte jedes im Tiefsten die anderen und sehnte sich nach der Nähe und Vollständigkeit des Miteinanders.

Der westliche Individualismus setzt den Homosapiens, den die Anthropologen als soziale Spezies definieren, dem Stress dieser Ambivalenz aus. Einmenschliches Wesen ist einTeilchen, das nur durch die Wärme und Nähe anderer Teilchen vollständig werden kann. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war aber das Leben bereits kalt, distanziert und aufreibendgeworden.

Der Krieg war der Ruck, durch den das Leben wieder zu leuchten begann in einer verführerisch gemeinschaftlichen, erhebenden Leidenschaft – im Gottesgeschenk eines Notfalls. Aus diesem Grund jubelten die Massen in Paris und Berlin, in Sankt Petersburg nicht weniger als in Wien. In ihrer bereits erwähnten Naivität glaubten sie, dass der große Krieg ihnen eine ebenso grandiose Erleichterung verschaffen könne. Der Krieg war die Antwort auf das brennende Bedürfnis, sich hinter einer flammenden Erfordernis zu vereinen; die Gemeinschaftlichkeit angesichts eines gemeinsamen Feindes wiederzuentdecken; an die Front zu stürmen Arm in Arm, Schulter an Schulter; die Vertrautheit, die man einst im Dorf genossen hatte, wiederzugewinnen, indem man –gemeinsam! – das bedrohte Vaterland verteidigte.

So ausgelöst, dauerte der Feuersturm der Bomben, Kugeln und Granaten vier Jahre. Dann endlich verstummten die Kanonen ebenso wie das Lied „Over there“, das George M. Cohan als Hymne des amerikanischen Expeditionskorps geschrieben hatte. Zu seinem erhebenden Rhythmus waren die amerikanischen Fußsoldaten in den Untergang marschiert. „Over there“, lautete der Refrain. „Over there... the Yanks are coming, theYanks are coming and they won't come back till it's over over there!“ (Dort drüben... kommen die Amis, kommen die Amis, undsie kommen nicht zurück, bis es dort drüben vorbei ist!)

Als 1918 alles vorbei war, kamen mehr als Hunderttausend der Yanks nicht mehr zurück. Und die, die zurückkamen, konnten einander weniger begegnen denn je. Durch den Frieden wurden Kriegskameraden zu Individualisten in Zivil, die sich um Jobs drängelten oder sich in die Scharmützel des Unternehmertums stürzten. Hemingways verlorene Generation musste das öde Land von T.S. Eliot ertragen.

Aus diesem Grund inspirierte der Zweite Weltkrieg niemanden zur Komposition eines fröhlichen zweiten „Over there“. Doch in demMonat, als er begann, im September 1939, veröffentlichte der amerikanische Drehbuchautor Dalton Trumbo einen Roman, für dessen Titel die Anfangszeile dieses Lieds abgewandelt wurde. Im Film über George M. Cohans Leben hatte James Cagney diese Worte noch voll Begeisterung gesungen: „Johnny get your gun, get your gun, get your gun...“ 30 Jahre später widerrief Cagney seine Begeisterung als Star eines Hörspiels, das auf Trumbos Roman „Johnny Got His Gun“ basierte. Darin verleiht er dem Leid eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg Ausdruck, der intubiert in einem Veteranenspital liegt, mit qualvoll funktionierendem Gehirn in einem Körper aus Stümpfen. Schrapnelle hatten ihm beide Arme, beide Beine und den Großteil seines Gesichts weggerissen.

Der erste große Krieg hatte den Westen in ein gebranntes Kind verwandelt, das sich vor einem weiteren derartigen Feuer fürchtete – wohl mit der Ausnahme eines Landes. Hitlers Fantasie vom jüdischen Ungeheuer vereinte Deutschland hinter ihm. So war für die Alliierten der Griff zum Gewehr angesichts der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie eine düstere Notwendigkeit.

In dem neuen Krieg wurde wie im vorhergehenden viel Blut heldenhaft vergossen. Die Soldaten von Okinawa und vom Omaha Beach wurden gerechtfertigterweise von den Medien bejubelt, von den Generälen mit Medaillen überhäuft und profitabel von Hollywood glorifiziert. Doch für die meisten Soldaten waren der Kampf, das Leid und der Tod eine Sache der Pflicht und nicht der Ehre. Zwischen 1939 und 1945 erstand keine inspirierende Legende aus den Schützengräben wie die des amerikanischen Helden Sergeant York 1917. Gut, es gab Audie Murphy, den höchst dekorierten amerikanischen Soldaten des zweiten Krieges. Wie York stammte er aus ärmlichen Verhältnissen aus den Südstaaten, und wie York war er ein fantastischer Schütze. Doch York war Pazifist gewesen und nur widerwillig zum Soldaten geworden. Murphy hingegen vermittelte als der Filmstar, zu dem er dann wurde, in der Rolle von Jesse James oder Billy the Kid ein Image, das einem Prototypen von Rambo ähnelte, der, selbst wenn er sich zur gerechten Sache bekehrt hatte, die glamouröse Bösartigkeit eines exzellenten Killers ausstrahlte. Er wirkte nicht wie ein normaler Fußsoldat, der verbissen in seinem Schützenloch durchhielt.

Nein, der Ami, der im Zweiten Weltkrieg nach dort drüben kam, wurde am treffendsten in einer Karikatur dargestellt. Bill Mauldin fasste seine Befindlichkeit in sieben Worten unter einer Zeichnung zusammen. Sie zeigte einen verbundenen, verdreckten, unrasierten G.I., der gerade eine Medaille ablehnt: „Vergesst den Orden! Gebt mir einAspirin!“

Doch im zweiten globalen Abschlachten gab es Stars, die es in früheren Kriegen nicht gegeben hatte. Die Namen der Führenden im Ersten Weltkrieg vergilbten rasch. Wer erinnert sich heute noch an den britischen Premierminister Asquith, den französischen Regierungschef Viviani oder den starkenMann des Zaren, den Großfürsten Nikolai? Der Versuch, aus dem Befehlshaber des amerikanischen Expeditionskorps, General Pershing, einen Präsidentschaftskandidaten zu machen, verpuffte rasch.

Im Zweiten Weltkrieg war es anders aufgrund des zunehmenden Prominentenkultes, mit anderen Worten: wegen der fortschreitenden Fetischisierung der durchschlagenden Erfolge Einzelner. Der charismatischeKahlkopf Eisenhower eroberte das Weiße Haus im Fluge. Der lächelnde Roosevelt, der seine Zigarettenspitze hochhielt wie ein Fahnenträger seine Fahne, Churchill, der mit bulldoggenartiger Entschlossenheit seine Zigarre anbiss, Stalin mit seinen gefährlich schlauen, schrägen Augen... die alle drei auf den „Führer“ losgingen. Dieses Tableau war die Ikone des weltweiten Flächenbrandes.

Diese eindrucksvollen Persönlichkeiten gingen auf in der subtilen Personifizierung des Kalten Krieges, der nach 1945 zu brodeln begann. Die Jahre des Eisernen Vorhangs sahen den wahrscheinlich letzten Zusammenprall kollektiver Glaubenssätze im Abendland. Doch die Auseinandersetzung wurde nicht kollektiv ausgetragen. Ihre Krieger waren allein, Freibeuter der CIA oder Maulwürfe des KGB, die raffiniert schmutzige Tricksersannen. James Bond,der coole, glatte, elegante Haudegen, glorifizierte ihren Beruf. John le Carrés mürrische und illusionslose Spione zeigten, wiesie wirklich waren.

Als sich die Sowjetunion 1989 auflöste, trat ein anderer wichtiger, wennauch weniger dramatischerZerfallsprozess in Westeuropa in ein neues Stadium. Unter seinen zunehmend individualistischen Nationen war nicht mehr genug Gemeinschaftsgefühl vorhanden, um einen militanten Nationalismus auszulösen. Nehmen wir zum Beispiel Elsass-Lothringen, das lange Zeit ein Pulverfass zwischen Frankreich und Deutschland war. Frankreich hatte es zurückbekommen; doch nun war Deutschland viel zu sehr damit zu beschäftigt, seine wirtschaftliche Hegemonie über Europa aufzubauen, als die „Wacht am Rhein“ zu singen. Oder Südtirol, das nach dem Ersten Weltkrieg Österreich weggenommen und Italien gegeben wurde. Doch im Gegensatz zu ihren Großvätern sorgen sich die heutigen Österreicher nur mehr darum, dass die italianisierten Dolomiten ihnen Skitouristen aus ihren Alpenregionen abspenstig machen könnten. Im „fortschrittlichen“ Westen streitet man nicht mehr um nationale Grenzen, sondern um Profite und persönliche Karrieren.

Natürlich gibt es noch Krieg von der altmodischen, von der tödlichen Art. Der Westen hat ihn immer wieder unter dem Mantra „Wir müssen unsere Freiheit verteidigen“ geführt. Nachdem sich dieses früher gegen die Sowjetunion richtete, wurde es später ausposaunt, um die Zerstörungen in Vietnam, in Afghanistan und im Irak zu rechtfertigen. In diesen Feldzügen, die im Grunde einem alten Kolonialinstinkt entsprungen waren, wurde der neue Trend zur Personalisierung weitergeführt; durch ihn wurden Luftangriffe, schweres Artilleriefeuer und Fallschirmjägereinheiten überflüssig. Sie alle verbreiten nicht mehr ausreichend Angst und Schrecken. Ein einzelner Navy-SEAL tötet effizienter und präziser – genauso wie der Download des Verderbens, dieser interkontinentale Killer, die Drohne.

Dasselbe Prinzip der Zersplitterung gilt auch für die Taktik des militanten Islamismus, unseres derzeit liebsten Feindes. Al-Qaida hetzt keine Janitscharenhorden mehr auf uns wie in alten Zeiten. Sie lässt Selbstmordattentäter und Terroristen los.

Der zeitgenössische Krieg wird daher am besten von einem professionellen Serienkiller geführt. Er ist nicht länger ein nationales Unternehmen, das einer gemeinsamen Mission dient. Er wird nicht mehr durch die Genfer Konvention geregelt, die beide Seiten achten. Seine Parameter werden weder zeitlich noch räumlich gemeinschaftlich definiert. Sein Beginn wirdnicht durch eine Kriegserklärung signalisiert und sein Ende nicht mit einem Waffenstillstand oder mit einer Kapitulation. DieFrontlinie kann überallund zu jeder Zeit aufbrechen, bei einem Marathon ebenso wie in einem Büroturm oder bei einer moslemischen Hochzeit.

Kein Wunder, dass wir das Gefühl haben, dass der Abgrund überall und von Dauer ist und wir als vereinzelte Menschen von ihm umgeben sind. Ähnlich prekäre Verhältnisse durchziehen unsere gesamte Kultur. Mehr denn je macht der „freie Markt“ aus Nachbarn Rivalen und aus jedem Stadtviertel ein heimliches Schlachtfeld.

Hier wetteifern konsumgeile Gladiatoren oftmals unter einer dünnen Schicht von Cocktailmanieren um die Vorherrschaft, ein jeder verzweifelt darauf aus, der Abfallgrube der Verlierer zu entkommen, indem er die anderen hinunterstößt. Die Reality-Shows im Fernsehen sind aus einem allzu guten Grund so beliebt. Ihr unbarmherziges „Du bist draußen!“ passt gut zum Zeitgeist, der nicht vorsieht, dass Gefangene gemacht werden.

Können wir nun endlich, hundert Jahre nach den fatalen Schüssen von Sarajewo,von den Anthropologen lernen und gesellig leben, wie das eine gesellige Art tun sollte? Können wir die Kluft nicht nur zwischen den Nationen, sondern auch zwischen ihren Bewohnern schließen?

Das ist, da bin ich mir sicher, schwerer zu tun als zu fordern. Doch es ist leichter, meine ich, als sich am Abgrund häuslich niederzulassen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2014)

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