Die ersten Europäer

Davidstern
Davidstern(c) Stanislav Jenis
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Das alte Österreich, die Europäische Union und das Judentum hatten und haben einen gemeinsamen Gegner: die Nationalismen. Angesichts der Katastrophen, die nationalistisches Denken herbeigeführt hat, können Europas Juden heute stolz darauf sein, dass sie einst „vaterlandslose Gesellen“ waren.

In seinem Theaterstück „3. November 1918“ bringt Franz Theodor Csokor die Problematik der österreichischen Identität am Ende der Habsburgermonarchie auf den Punkt. In einem Lazarett hoch in den Alpen werden Offiziere der österreichisch-ungarischen Armee von der Nachricht der Kapitulation überrascht. Und sofort zeigt sich, dass – hinter der elitären Kameraderie verborgen – explosive nationale Gegensätze existieren, die nun voll hervorbrechen. Die Loyalität der einzelnen k.u.k. Offiziere gehörte nun Ungarn oder Polen, Italien oder der Tschechoslowakei, Jugoslawien oder Deutsch-Österreich. Der das Kommando führende Oberst begeht Selbstmord, weil für ihn die Welt – seine Welt – zu Ende ist. Beim Begräbnis finden die Offiziere nochmals zusammen und werfen dem Oberst Erde aus ihren neu entstandenen, national bestimmten Staaten ins Grab. Nur der jüdische Militärarzt legt dem Oberst „Erde aus Österreich“ auf den Sarg.

Damit ist ein Grundakkord angeschlagen, der die Stellung der Jüdinnen und Juden in Österreich-Ungarn charakterisiert: In der Doppelmonarchie waren sie Objekte von antisemitischen Vorurteilen und Attacken. Ritualmordlegenden waren lebendig, und der sich von einem religiösen zu einem „rassischen“ Vorurteil wandelnde Antisemitismus galt auch den Juden, die sich taufen ließen. Die wüsten antisemitischen Anfeindungen, mit denen Gustav Mahler als Hofoperndirektor in Wien konfrontiert war, sind dafür ein Beleg.

Und nicht zufällig war es der österreichische Journalist Theodor Herzl, der sich in seinen Assimilierungsbemühungen nicht belohnt, sondern bestraft sah, der zur charismatischen Gründungspersönlichkeit des Zionismus wurde. Wenn die Juden im Konzert der Nationalitäten nicht willkommen waren, dann sollten sie sich selbst auch als Nationalität begreifen. Wenn die Nationalismen jedweder Prägung die Adaptions- und Integrationsbemühungen der Juden nicht akzeptierten, dann war – für Herzl – die Antwort der Nationalismus der Juden. Doch den meisten Jüdinnen und Juden war – spätestens 1918 – zumindest indirekt deutlich, dass die mit Berufung auf Selbstbestimmungsrecht aus der Erbmasse Österreich-Ungarns gebildeten Nationalstaaten mehr Bedrohung brachten als die nationale Vieldeutigkeit der Doppelmonarchie. Die Jüdinnen und Juden waren die programmierten Verlierer der Neuordnung Mittel- und Südosteuropas. Antijüdische Quotenregelungen in Polen und Ungarn waren Vorboten des massenmörderischen Judenhasses, der in Deutschland ab 1933 zur Staatsdoktrin wurde, der aber einen Gutteil seiner Wurzeln im alten Österreich hatte.

Gegenüber dem, was sich noch vor Hitlers „Machtergreifung“ in Polen und in Ungarn abspielte, war der Antisemitismus Karl Luegers „nur“ ein Wortantisemitismus, dem eine entsprechende politische Umsetzung fehlte. Und die vulgär antisemitischen Bemerkungen, die in der alten Oberschicht zu hören waren – zum Beispiel vom Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand –, waren Ausdruck einer weit verbreiteten, hässlichen, dummen Vorurteilsstruktur; sie waren aber nicht Ausdruck offizieller Politik.

Österreich-Ungarn war kein Paradies für Jüdinnen und Juden. Österreich-Ungarn war weder der Judenstaat der Zionisten, noch war die Doppelmonarchie ein Reich der geglückten Integration, in dem Menschen jüdischen Glaubens mit Menschen christlichen oder anderen Glaubens vorurteilsfrei zusammenleben konnten. Doch gemessen an den real existierenden Alternativen, war das Reich der Habsburger ein kleineres Übel. In beiden Reichshälften versuchten populistische Parteien und Politiker religiöse und nationale Vorurteile zu instrumentieren – gegen „die Juden“; gegen getaufte und ungetaufte, gegen orthodoxe und andere. Doch in beiden Reichshälften hielten die grundrechtlichen Garantien wie das für Österreich geltende Staatsgrundgesetz von 1867 bis zum Schluss; und verhinderten, dass aus Vorurteilen und Demütigungen das wurde, was aus der Zeit davor bekannt war – und was später wiederkehren sollte: eine Politik der offenen Entrechtung und Verfolgung.

Österreich-Ungarn war ein Vielvölkerstaat. In ihm lebten die als Nationalitäten definierten Sprachgruppen nebeneinander, gelegentlich auch miteinander. Österreich-Ungarn bestand aus zwei Teilen, die sich höchst unterschiedlich definierten: Ungarn, das Land der Stephanskrone, verstand sich als Nationalstaat, in dem die Magyaren die Rolle kultureller, politischer, ökonomischer Hegemonie beanspruchten; und in dem den anderen Nationalitäten – in Summe der Mehrheit – die Rolle von mehr oder weniger tolerierten Minderheiten zukam. Österreich hingegen war eine Föderation, in der autonome Landesteile mit unterschiedlichen nationalen Mehrheitsverhältnissen existierten; und in dem keine Nationalität Hegemonie beanspruchen konnte – jedenfalls nicht konstitutionell. Dass aus der Sicht der Nichtdeutschen die Deutschen dennoch de facto eine Hegemonie hatten, drückte den Gegensatz zwischen dem multinationalen Anspruch und einer ungleichen empfundenen Wirklichkeit aus.

Österreich-Ungarn war ein asymmetrischer Bundesstaat. Die beiden Reichshälften waren durch die gemeinsame Außen-, Finanz- und Verteidigungspolitik verbunden. In anderen Politikfeldern gingen sie unterschiedliche Wege. Während Österreich 1907 das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht einführte, herrschte in Ungarn bis 1918 ein abgestuftes Wahlrecht, das auf die Vorherrschaft der Magyaren zugeschnitten war. Und während die ungarische Politik durchaus mit Erfolg auf die Magyarisierung der Slowakei und Rumäniens, der Vojvodina und – eingeschränkt – auch Kroatiens setzte, war die Nationalitätenpolitik in Österreich von Anfang an das Feld heftiger Auseinandersetzungen. In Ungarn dominierte ein magyarisches Zentrum. In Österreich bestand der Konflikt zwischen den verschiedensten Subzentren, der – von Prag und Krakau, von Triest und Lemberg und Laibach aus – einen Wiener Zentralismus verhinderte.

Das hatte Konsequenzen: In den Jahrzehnten vor 1914 ging der Anteil der DeutschSprechenden in Österreich leicht zurück,während in Ungarn der Anteil der Ungarisch Sprechenden ständig stieg. Und während die Wahlordnung für das ungarische Parlament die Magyaren durch das ungleiche Wahlrecht massiv bevorzugte, war das Wahlrecht für die Wahl zum österreichischenReichstag 1907 und 1911 durch eine weitgehende Fairness gekennzeichnet. Wie bei Robert Kann nachzulesen ist, war die einzige österreichische Nationalität, die Grund hatte, durch die Einteilung der Wahlkreise sich benachteiligt zu fühlen, die der Ruthenen – also die Ukrainer.

In der Terminologie Österreich-Ungarns existierte freilich eine Nationalität nicht: die jüdische. Juden waren, je nach ihrer Sprachzuordnung, Deutsche oder Tschechen, Ungarn oder Polen. Nur in der Bukowina gab es vor 1914 regional die Anerkennung einer jüdischen Nationalität. Österreich-Ungarn sah in den Jüdinnen und Juden eine Religionsgemeinschaft – und keine Nationalität. Österreich-Ungarn ging von einer teilweise – aber eben nur teilweise – der Realität entsprechenden Integration der Juden in die Gesellschaft aus. Österreich hatte ja auch der jüdischen Gemeinde den Status einer offiziell anerkannten Religionsgemeinschaft verliehen, formal gleichberechtigt mit der katholischen Kirche, den anderen christlichen Konfessionen und dem Islam, der mit der Okkupation und Annexion Bosnien-Herzegowinas auch eine österreichisch-ungarische Realität geworden war.

Die Kapitulation Österreich-Ungarns unddie Friedensordnung, festgeschrieben in den Pariser Verträgen, war eine Ordnung zum Unfrieden. Die in Paris diktierte Welt bestand aus einem Kompromiss zwischen dem nicht genauer definierten neuen Grundsatz des „Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ und dem alten Grundsatz, dass Siegermächte zu belohnen, Verlierermächte zu bestrafen seien.

Die Schwäche des von Woodrow Wilson vertretenen „Selbstbestimmungsrechtes“ besteht darin, dass nicht klar ist, für wen es gelten soll – für Regionen, aber mit welchen Grenzziehungen? Für städtische Großräume, aber bis wohin? Vor allem geht das Selbstbestimmungsrecht von der Fiktionaus, es wäre klar, was ein Volk ist. Rumänen waren 1918 ein Volk, und Italiener. Aber Roma – waren sie auch ein Volk? Und Juden? Und was tun mit den gemischtsprachigen Gebieten – in Böhmen und Mähren, in der Slowakei und in Transsylvanien, in der Vojvodina, im Raum Triest, aber auch in Oberschlesien und im Raum Posen? Der Erfolg einer Friedensordnung, die auf dem Selbstbestimmungsrecht aufbaut, setzt nationale Eindeutigkeit voraus. Und die war 1918 nicht gegeben, ist auch heute nicht gegeben.

Das war für die Jüdinnen und Juden der alten Habsburgermonarchie das Hindernis bei allen ihren Versuchen, sich in dem Europa nach 1918 zurechtzufinden. Jüdinnen und Juden, die sich – im Sinne des Zionismus – als Volk definierten, hatten nirgendwo ein klar abgrenzbares Gebiet, für das sie mit Berufung auf Mehrheitsverhältnisse das Selbstbestimmungsrecht in Anspruch nehmen konnten. Und diejenigen unter ihnen, dienicht die nationale Option vertraten, mussten sich an eine national definierte Umwelt anpassen.

Diese Umwelt war abervon einer Judenfeindschaft geprägt, die religiös und national zugleich war. Verstand sich das Judentum als Religionsgemeinschaft, sah es sich mit den Hegemonieansprüchen christlicher Kirchen konfrontiert – in Polen etwa mit einer katholischen, in Rumänien mit einer orthodoxen Hegemonie. Und wo das Judentum sich national definierte, konnte es – bestenfalls – auf die Tolerierung als nationale Minderheit hoffen.

Die Erwartung eines Teils des Judentums, sich in einer säkularen und aufgeklärten Gesellschaft bewegen zu können, wurde noch vor Hitler enttäuscht – etwa von den antijüdischen Quotenregelungen in Polen und in Ungarn. Und überall, auch im neuen, kleinen Österreich, stieß man auf einen Antisemitismus, der national definierte Juden ebenso ablehnte wie religiöse – und erst recht die, die mit Berufung auf Aufklärung und Grundrechte nicht als Juden, sondern etwa als Ungarn oder Österreicher oder Polen oder Rumänen anerkannt zu werden versuchten. Was immer die Juden taten, wie immer sie sich definierten, sie konnten der Judenfeindschaft nicht entkommen.

In einem nationalstaatlich geformten Europa waren Jüdinnen und Juden nicht willkommen, konnten sich nicht willkommen fühlen. Da war das alte Österreich mit seinem Anspruch auf Transnationalität bald der Bezugspunkt einer Nostalgie, die etwa Joseph Roth literarisch so eindrucksvoll vertrat. Und auch wenn dieses alte Österreich alles andere als frei von antijüdischen Ressentiments und faktischer Diskriminierung war – die auf der Fiktion nationaler Eindeutigkeit aufbauenden Nachfolgestaaten Österreich-Ungarnswaren, mit Ausnahme der Tschechoslowakei Tomáš Masaryks, ganz eindeutig weniger einladend für religiöse oder für säkulare,für nationale oder nichtnationale Juden.

Die logische Zuspitzung der Idee des Nationalstaates war das nationalsozialistische Deutschland. Die schon davor existierenden Idee von „Blut“ und „Rasse“ – in ihrer Absurdität von Anfang an erkennbar, dennoch aber geschichtsmächtig – transformierte die Nation zu einem mystischen Ganzen, zu einer quasi natürlichen Einheit, in die man hineingeboren sein musste. Die Opfer waren, wider jede Vernunft, aber eben deshalb dem Irrsinn des Blut- und Rassegedankens entsprechend, Juden und Roma. Jüdinnen und Juden wurden, wie auch Roma, zu den Sündenböcken, zu den „defining others“ des deutschesten aller deutschen Nationalstaaten. Der Nationalismus war zum Nationalstaat, der Nationalstaat war zum Nationalsozialismus geworden. Am Ende standen Babi Jar und Auschwitz-Birkenau.

Als 1945 Europäer wie Jean Monnet darangingen, ein Europa zu entwerfen, das die Erfahrungen der ersten Hälfte des Jahrhunderts zur Grundlage eines „Nie wieder“ machen sollte, als die europäische Integration einsetzte, war dies die Umkehr der Logik des Nationalismus. Die Staaten sollten ihre Souveränität relativieren, nationale Identität sollte als Identitätsmix verstanden, der Nationalismus sollte zivilisiert werden. Das Europa, das sich aus der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl über die Römischen Verträge von 1957 zur Europäischen Union von heute entwickelte, warnicht die Fortsetzung eines Europa von gestern. Dieses Europa war nicht die aktuelle Version der alten Reiche – nicht des Römischen Reiches und nicht des Reiches Karls des Großen.

Dieses Europa war neu, es verstand sich als Antithese zum Europa der Vergangenheit. Es definierte sich als das Gegenteil von dem, was Europa in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts ausgemacht hatte. Es sollte ein transnationales Europa werden, mit der Zielrichtung eines Bundesstaates, bestimmt von einer Teilung politischer Macht zwischen den Mitgliedsstaaten und neuen, supranationalen Institutionen. Wer sollte darüber mehr begeistert sein als die Opfer der Nationalismen der Vergangenheit?

Dass Juden und Roma die Opfer der Ausmordungspolitik des nationalsozialistischen Deutschland werden sollten, das hatte seine Vorgeschichte in der in Versailles, St.Germain und Trianon geschaffenen Ordnung. Diese Ordnung war von dem ausschließlich ethnonationalistisch und territorial verstandenen Prinzip der Selbstbestimmung gekennzeichnet, machte aus Juden und Roma vaterlandslose Gesellen.

Das Österreich vor 1918 war die gescheiterte Generalprobe multikultureller, multinationaler, supranationaler Staatlichkeit. Bürgerrechte waren nicht an Sprache oder Religion, auch nicht an Herkunft und Ethnizität gebunden. Jüdinnen und Juden waren Angehörige einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft – wie die Angehörigen der christlichen Kirchen auch. Österreich war vor 1918 nicht nur multinational, es war auch antinational – wenn man unter national den unbedingten Vorrang einer nationalen Identität versteht. Dass dieses Experiment nicht nationaler, übernationaler Staatlichkeit scheiterte, hat verschiedene Ursachen: die Unfähigkeit der hegemonialen Nationalitäten, auf ihre faktischen Vorrechte zu verzichten; und die allgemeine Unfähigkeit, sich dem nationalistischen Denken zu entziehen.

Der überbordende Nationalismus von 1914 ist Geschichte. Im Europa der Union ist es unvorstellbar geworden, dass deutsche Armeen in Frankreich einfallen – wie 1870, wie 1914, wie 1940. Und in diesem Europa findet nationale Identität ihre Relativierung: Niemand ist nur durch eine einzige Identität bestimmt; jeder und jede ist Niederländer oder Polin, politisch links oder rechts orientiert, der jüngeren oder der älteren Generation zugehörig –und katholisch oder protestantisch, christlich-orthodox oder jüdisch, muslimisch oder agnostisch.

In diesem Europa der Vielfachidentitäten können sich die von der Friedensunordnung nach dem Ersten Weltkrieg Vernachlässigten eher und besser als je zuvor beheimatet fühlen: vor allem auch die Jüdinnen und Juden. Sie, die Opfer des ungebremsten Nationalismus, können von der Eindämmungdes Nationalismus nur gewinnen. In einem religiös wie national säkular definierten Europa der Vielfalt können sie Bürgerinnen und Bürger wie alle anderen auch sein. Das, was vor 1918 im alten Österreich ein Versprechen war, ist im Europa von heute ein Stück Wirklichkeit geworden; in einem Europa, das sich nicht als Antithese zu jemandem anderen definiert – nicht zu Amerika oder zum Islamoder sonst wem, sondern zum Europa der Vergangenheit.

Schon 1914, unmittelbar vor dem Ausbruch des Großen Krieges, hatte der britischeLabour-Politiker Keir Hardie die Etablierung der „Vereinigten Staaten von Europa“ gefordert – um die sich abzeichnende Katastrophe doch noch zu verhindern; um dem Wahn unbeschränkter staatlicher Souveränität die Rationalität einer transnationalen Friedensordnung entgegenzustellen. Nach 1918 war es der Österreicher Richard Coudenhove-Kalergi, der mit seiner Paneuropa-Idee die grundsätzliche, freilich folgenlose Unterstützung von Politikern wie Aristide Briand und Gustav Stresemann erhielt. Doch es bedurfte einer weiteren, noch größeren Katastrophe; es bedurfte eines weiteren Weltkrieges und eines erstmaligen Verbrechens gegen die Menschheit – des Holocaust –, um die Einigung Europas real auf die Tagesordnung der Politik zu setzen.

Der französische Nationalismus hatte denPatriotismus des Alfred Dreyfus nicht belohnt – und der deutsche Nationalismus nichtden Patriotismus des Walther Rathenau. Dreyfus konnte für Frankreich tun, was er wollte – für die Nationalisten blieb er immer ein Jude. Rathenau konnte für Deutschland tun, was in seiner Macht lag – für die Nationalisten blieb er immer ein Jude. Und der wird, wie Lessing uns im Nathan vorführt,auf jeden Fall entsprechend behandelt: „Tut nichts, der Jude wird verbrannt.“

Das Europa der Nationalstaaten bot den Jüdinnen und Juden letztlich keine Heimat. Einer Heimat konnte und durfte das europäische Judentum im Habsburg-Österreich nahekommen – bis dieses Österreich an seiner Unfähigkeit zerbrach, den Nationalismen wirksam eine transnationale politische Ordnung entgegenzusetzen. Einer Heimat kann das europäische Judentum heute in einem Europa nahekommen, das dieNationalismen von gestern zu überwinden versteht.

Das alte Österreich, die EuropäischeUnion und das Judentum hatten und haben einen gemeinsamen Gegner: die Nationalismen. Diese zu zähmen liegt im Interesse der Union und aller Bürgerinnen und Bürger, vor allem aber im Interesse derer, die als Juden punziert sind. Angesichts der Katastrophen, die vaterländisches und nationalistisches Denken herbeigeführt haben, können Europas Jüdinnen und Juden heute stolzdarauf sein, dass sie damals „vaterlandslose Gesellen“ waren.

Das Europa, das sich seit 1945 schrittweise entwickelt, ist das beste Europa, des es je gab; für alle Menschen in Europa; speziell aber für die, die – wie Alfred Dreyfus und Walther Rathenau – vom Europa der Vaterländer brutal zurückgewiesen worden sind. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2014)

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