„Ich werde bald sterben“

Er lag neben mir im Krankenzimmer. Hustete, keuchte, stöhnte vor Schmerz, schimpfte, aß kaum noch. Sein kurzes Haar war schlohweiß. Er wusste, er würde bald gehen. Ich wusste es auch.

Die Sanitäter haben ihn dann geholt. Es war gegen Mittag, ein milder Tag Ende Juni. Draußen in der Hügelwelt schien die Sonne auf den grünen Schaum der Wälder, einzelne fette Wolkenbänke zogen nach Osten. Er saß zusammengesunken auf dem Bettrand und schaute irgendwohin, vielleicht aus dem Fenster, vielleicht auf die Wände.

Die Sanitäter haben ihn auf die Rollbahre umgelagert. So lag er da, ein schmales Menschlein. Zwei Krankenschwestern standen im Raum und sagten „Alles Gute“. Ich stand neben meinem Bett, trat vor und gab ihm die Hand. Sein Händedruck war kräftig und die Haut warm. Ich hörte, wie ich etwas zu ihm sagte. Er nickte. Dann rollten ihn die Sanitäter zur Tür hinaus, und er verschwand.

2013 war nicht mein Jahr. Im Mai kam eine Verkühlung. Sie wurde zur Bronchitis. Ich fing an Blut zu spucken. Die Sache geriet aus den Fugen, Antibiotika hin oder her, bald lag ich mit einer üblen Lungenentzündung mit schmerzhaften Komplikationen in Wien auf dem Operationstisch. Zur Erholung kam ich in eine Anstalt im südlichen Niederösterreich. Dort angekommen, war rasch spürbar, dass etwas nicht gut lief: Die in Wien hatten mich als Privatversicherten, der ein Klassezimmer wollte, nicht angekündigt. Worauf ein Herumgedruckse begann.

„Also“, sagte die Stationsschwester, „die Klassezimmer sind voll. Bis auf eines. Aber da ist so eine Sache . . .“ „Was?“, fragte ich müde und hielt mich im Gang an der Wand fest. „Da sind ein Patient und seine Begleiterin. Sie will bei ihm sein und übernachtet dort. Auf dem Boden, im Schlafsack. Stört Sie das?“ – „Hm, was ist los?“, fragte ich und sah, wie ihre Augen zu irrlichtern begannen. „Hm, es geht ihm nicht gut. Er hat Schmerzen. Er wird nimmer lang leben.“

Irgendjemand goss heißes Blei in mich, und der Gang wurde länger und wie verglast. Er werde nur noch zwei, drei Nächte hierbleiben, hieß es, dann hätte ich den Raum vorerst für mich allein. Wenn ich nicht wollte, würde man die Frau wegschicken. „Nein. sie bleibt“, antwortete ich. „Das ist okay.“

Ich trat ins Krankenzimmer. Durch die südseitigen Fenster strömte warmes Licht, es roch frisch gewischt, nach Bettwäsche, Handdesinfektionsmittel und Blumen. Da waren zwei Betten. In dem näher dem Balkon lag zugedeckt ein schmächtiger, alter Mann. Der Kopf war recht klein, aber markant eckig, die Haare waren sehr kurz und schlohweiß, ebenso weiß waren der Vollbart und die dichten Augenbrauen. Sein Gesicht war milchig-gelblich und glatt, es glänzte speckig, vielleicht war da auch ein blutdruckbedingter Rotstich. Der Mann schlief. „Er schaut aus wie ein kranker Nikolaus“, dachte ich und musste grinsen – das war in der seltsamen Situation wie ein Anker.

Ich verstaute meine Sachen und legte mich aufs Bett. Die Operationswunde schmerzte, ich war kurzatmig. Beim Fenster saß eine Frau, sie kam her und grüßte. Ihr Händedruck war matt. Dunkelhaarig, klein und zierlich war sie. Sie wirkte verheult, wenngleich hübsch. Ich schätzte sie auf 50, vielleicht weit jünger, vielleicht weit älter, sie entzog sich präziser Einordnung. Da war ein osteuropäischer Einschlag in ihrer Sprache, Ungarisch war's eher nicht, ich kam nie drauf. Ich fragte auch nie. Ich würde viel nicht erfragen oder sagen in diesen Tagen, vielleicht auch, weil ich gleich zu Beginn in den Fettnapf trat: „Ist das ihr Vater?“, fragte ich. „Das ist mein Mann!“, antwortete sie mit einem Unterton, der zwischen Empörung und aufschäumenden Tränen pendelte.

Er hieß Rudolf (die Namen hier sind erfunden; persönliche Details werden nur teilweise wiedergegeben) und hatte Krebs, Endstadium. Eine Lungenentzündung war dazugekommen. „Die Ärzte sagen, dass die Medikamente nicht mehr wirken“, sagte die Frau. Und: „Er hat nur noch drei, vier Wochen.“

Ich lag mit Zeitungen und Laptop im Bett und wartete, was geschehen würde. Am besten den Kopf tief halten. Kurz vor dem Mittagessen wachte er auf. Er bemerkte mich, ich grüßte, und er zurück. Man fuhr das Rückenteil seines Bettes hinauf, und er kam keuchend hoch. Er keuchte viel, sprach aber auch viel. Oft merkte man dann, wie der Schmerz hinter seinen Worten bohrte.

Rudolf aß aber nicht mehr viel. Den Löffel konnte er noch führen, aber meist half ihm seine Frau. Sie hieß Angelika und sah mit Schrecken, wie der Appetit aus ihrem Mann geflohen war wie ein Geist: Mehr als etwas Suppe, ein paar Löffel von diesem und jenem wollte er nicht. Als die Schwestern das fast unberührte Mahl wegtrugen, heulte sie auf: „Er wird verhungern!“ „So leicht verhungert man nicht“, lachte eine Schwester, und ich fand, dass das das kleinere Problem war.

So lebte ich die nächsten drei Tage und Nächte mit einem Sterbenden zusammen. Ich machte, um zu Kräften zu kommen, täglich Spaziergänge, atmete die Waldluft ein, spürte die Wärme der Sonne. Er schlief untertags viel und lag einen Großteil der Nacht wach, stöhnte, hustete. Ihm machten auch der Venflon im Handrücken und der Katheder im Unterleib zu schaffen, „Ah, es tut so weh“, rief er. „Reißt's das Zeug doch raus.“ Das gehe nicht, hieß es, er brauche das. Man gab ihm Schmerzmittel, ich krümmte mich im Bett und versuchte, schlafend zu wirken.

Wenn man ihn wusch, sah man, wie dünn er war. Seine Haut an Oberkörper und Beinen war hell wie Elfenbein. Ich half ihm einmal beim Abtrocknen, hob Dinge auf, die aus seinem Bett gefallen waren, richtete seine Decke. Ich wollte mit ihm reden, aber wusste nicht, worüber. Wir wechselten nur kurze Sätze über praktische Dinge. Etwas hielt meine Wörter zurück, sie lagen wie an einer Leine. Wahrscheinlich hielt die Angst sie fest. Im Internet fand ich seinen Namen und entdeckte, dass er 76 Jahre alt war und ein durchaus bekannter Künstler. Geboren in Niederösterreich, gelernter Maler und Anstreicher, Akademie der bildenden Künste, freischaffender Künstler, Lehrer für bildnerische Erziehung, Gründer eines lokalen Kulturvereins, Träger des Landes-Kulturpreises. Ich fand Bilder von ihm: stark abstrakte Sachen oft in Pastell, teils, als habe man bei einem Bild von Hieronymus Bosch den Figuren die Gesichter genommen, das Bild zerschnitten und neu zusammengeklebt. Es war nicht so meines.

Er rief Freunde an. Die Gespräche, die von Husten zerrissen waren, begannen meist so: „Hallo, hier ist der Rudi. Geht es dir gut? Schön. Horch: Ich ruf an, um dir zu sagen, dass ich in Kürze sterben werde.“ Dabei rollte er das r in Sterben, mir wurde schwindlig, und ich fasste es nicht, wie locker ihm das von der Zunge zu gehen schien. Bei den Telefonaten verschenkte er Dinge aus seinem Besitz und rang jemandem das Versprechen ab, den Kulturverein zu übernehmen. Er beendete die Gespräche mit „Pfiat di“ oder „Bis bald“. Es klang surreal, und ich wollte nicht am anderen Ende der Leitung gewesen sein – doch schlimmer: Ich war an seinem Ende.

Er konnte auch recht giftig sein und verlangte nach diesem und jenem, es war ihm zu warm, zu kalt, zu hell, zu dunkel, sein Bett war ihm nicht richtig eingestellt, und wenn man seine leidend vorgetragenen Wünsche nicht rasch verstand, wurde er fast wütend. Manchmal herrschte er seine Frau an, einmal gab's einen Disput mit einer Schwester. Der Mensch neigt, wenn der Tunnel am Ende des Lichts in Sichtweite kommt, offenbar leicht zu tyrannischem Gehabe. Ich kannte das von einer meiner Omas und fand, dass einem das zusteht. Es kann einem dann auch alles scheißegal sein. Es sollte einem schon viel früher viel mehr scheißegal sein.

Irgendwann musste seine Frau weg, um Rudolfs letzte Tage vorzubereiten. Man werde ihn am Samstag entlassen, sagten die Ärzte: „Machen Sie ihm eine schöne Zeit.“ Also fuhr sie weg, um Sachen zu besorgen, eine besondere Matratze, einen speziellen Sessel, eine Heimhilfe etc. „Das Wetter ist schön jetzt“, sagte sie. „Du kannst im Garten unter deinem Nussbaum sitzen.“

Rudis Tochter kam als Ablöse. Sie war etwa 20, ein anarchistischer Punktyp, ballonartiger Rock, Schwabbelpulli, bunte Haare, behaarte Achselhöhlen, leicht herb, aber nicht unhübsch. Und hinter allem ein Häufchen Trauer in Tränen gelöst. Sie hieß Norma und machte auch was mit Kunst oder Grafik.Es war drückend, wenn die beiden miteinander sprachen. Es legte mir mehrmals Steine aufs Herz, oft ging ich einfach weg. Sie sprachen von früher. Wie Norma das erste Mal das Meer sah. Wie sie gespielt hatten. Wie er sie auf Schultern getragen hatte. „Du hast mich immer so hoch geschaukelt, weißt du noch?“, fragte sie. „Oh, Papa, wieso musst du gehen?“ Ihre helle Stimme brach, dann malte sie etwas auf einem Zeichenblock und zeigte es ihm. Es waren Gesichter, Frauenfiguren. Er sah es sich an. „Ja ja,“, keuchte er.

Ich hatte entdeckt, dass Rudolf in seiner Jugend kurz in Vorarlberg, meiner Heimat, gelebt hatte. Das, nahm ich mir vor, sollte einen Gesprächseinstieg schaffen. Es kann doch nicht wahr sein: Du liegst neben einem Menschen, der bald geht, und nützt nicht die Chance zu reden! Ihn zu fragen, was gewesen sei; was er glaube, was sein werde. Was er fühle. Was ihn das Leben gelehrt habe. Was, im Nachhinein gesehen, wichtig sei, und was unwichtig. Ich legte mir einen Satz zurecht: „Ich hab gelesen, Sie waren schon im Ländle?“, setzte mehrfach zu Anläufen an. Aber es ging nicht. Die Worte lagen an der Leine, die Luft im Raum war aus Panzerglas, und zwischen unseren Betten ein Abgrund.

„Ach ja. Es war . . . bunt“, sagte Rudolf einmal vor sich hin, und ich wusste, es war ein Resümee. Später sagte er: „Man muss mehr machen.“ Und: „Sie tun einem zu viel an.“ Mir war klar, wen er mit „sie“ meinte.Einmal, kurz nach Mitternacht, geschah Seltsames. Er war ruhig gewesen und ich am Eindösen, als er anfing zu stöhnen. Unverständliche Wortfetzen folgten, dann sagte er mit Pausen zwischen den Wörtern: „Norma! Irgendwas ist seltsam. Irgendwas . . . passiert!“

Mir wurde eiskalt. und das Blut sauste in meinen Ohren. Ich drehte mich hinüber. Er würde doch. Jetzt. Nicht. Etwa. Sterben? Kam der Tod in den Raum? Ging da der Tunnel auf, und ich sah ihn bloß nicht? Im Raum trat eine Veränderung ein, die nicht beschreibbar ist. Etwas waberte durch die Luft. Oder stand still. Beides gleichzeitig. Norma rief die Schwester. Die kam, aber es geschah nichts weiter. Rudolf blieb hier. Er jammerte, dass sich im Bett etwas bewege, dass etwas krabble. Man drehte die Bettwäsche um und fand nichts. Das Ganze ging eine halbe Stunde so. War wohl ein Insekt, denn am Morgen lief mir ein Käfer durch die Unterwäsche. Ich sprach Nora auf den Nussbaum an: „Dein Vater wird's dort im Sessel fein haben.“ Ach, da kam ein Licht in ihr Gesicht, und ich wusste, dass dieser Baum für sie bald sehr wichtig sein würde.

Dann kamen die Sanitäter, an einem sonnigen Samstag. Die Ärzte machten Schlussvisite. Aber was sollten sie sagen zu jemandem, auf den der große Übergang wartete? „Alles Gute“, brachten sie hervor. „Wiedersehen“ sagte keiner. Als man Rudolf hinausrollte, stand ich da wie am Rand einer Prozession und gab ihm die Hand. „Alles für die Kunst“, sagte ich. Und: „Es wird bunt.“ Ich weiß nicht, wieso. Er grinste und nickte. Und entschwand. 2013 war auch nicht sein Jahr.

Eine grellgelbe Sommersonne hing am Mittagshimmel und heizte die Wälder auf den Hügeln. Sie sank allmählich gen Westen, das Licht wurde satter, dann fahler. Rosa schimmernde Wolken zogen über den violetten Abendhimmel. Dann kam die Nacht.

Im Herbst fand ich heraus, dass Rudolf am 23. Juli gestorben war, fast genau drei Wochen später. Er sei jemand gewesen, den man „schrullig, originell oder Spinner nennt“, hieß es in einem Nachruf. Und: „Er war es gern.“

Bald kam ein neuer Zimmernachbar. Der hatte auch Krebs – und schon Metastasen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.03.2014)

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