Meine jüdische Nachbarin: Schalom, Grete!

Der letzte Satz ihres autobiografischen Berichts lautet: „Ich bin zufrieden und denke ohne Hass und Bitterkeit an die Vergangenheit zurück.“ Meine bunte jüdische Nachbarin. Ein Nachruf.

Ich bin im Waldviertel, mein Handy läutet, die Telefonnummer auf dem Display sagt mir nichts. Eine Frauenstimme meldet sich mit einem Namen, den ich nicht gleich zuordnen kann, und fragt, ob ich einen Schlüssel zur Wohnung von Frau Lendvay hätte. Nach ein paar ratlosen Sekunden geht mir ein Licht auf – die Anruferin ist Daniela M., die liebenswürdige Nachbarin von der linken Stiege des Wiener Gründerzeithauses, in dem ich wohne. Wenn ich ihr, ihrem Mann oder einem ihrer Söhne im Flur begegne, grüßen wir einander freundlich. Telefoniert haben wir noch nie miteinander.

Frau Lendvay, Grete mit Vornamen, ist meine Nachbarin auf der rechten Stiege. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, immer wieder einmal am Abend bei ihr vorbeizuschauen; sie erzählt, was sie heute in der Tagesheimstätte im Maimonides-Zentrum der Israelitischen Kultusgemeinde erlebt hat; wir unterhalten uns über aktuelle Ereignisse oder kommentieren das Fernsehprogramm. Grete ist 92 Jahre alt; mit ihrem Rollator ist sie flott unterwegs, sie ist humorvoll und vielseitig interessiert; von Demenz keine Spur. Sie kleidet sich modisch und bunt; ihre Lieblingsfarben sind Kornblumenblau und Pink. Einmal im Monat geht sie zum Friseur und kommt mit einem bombastischen Lockenkopf in leuchtendem Kastanienbraun zurück. Regelmäßig trifft sie sich mit ihren Freundinnen in einem Espresso am Graben. Als es den Damen schließlich zu mühsam wird, auf dem Weg zum Klo eine Wendeltreppe überwinden zu müssen, übersiedeln sie in den „Wienerwald“. Dort ist das Klo im Erdgeschoß. So ist das eben, man ist nicht mehr die Jüngste.

Kein Grund, deswegen in Trübsal zu verfallen. Wenn ich mich nach meinen abendlichen Besuchen von Grete verabschiede und die zehn Schritte zur Eingangstüre gehe, fragt sie formvollendet: „Finden Sie allein hinaus?“ Und ich antworte ebenso formvollendet: „ Danke, ja. Ich glaube, das schaffe ich. Machen Sie sich keine Umstände.“ Und dann müssen wir beide grinsen.

„Nein“, sage ich am Telefon zu Daniela M., „ich hatte früher einen Schlüssel zur Wohnung von Grete, aber den hat sie zurück haben wollen. Ihr englischer Neffe war zu Besuch und benötigte den Schlüssel, um raus- und reingehen zu können, ohne läuten zu müssen. Außerdem bin ich derzeit gar nicht in Wien.“ Ich bin alarmiert. „Ist etwas passiert?“ Ja, es ist etwas passiert. Eine Freundin will Grete besuchen, klingelt an der Wohnungstür und wartet auf das vertraute Geräusch der schnellen, kleinen Schritte, die sich nähern. Nichts. Statt dessen hört sie Stöhnen; es klingt, als ob es vom Fußboden käme. Panisch rennt die Freundin durch das Haus, linke Stiege, rechte Stiege, von Stockwerk zu Stockwerk, sucht Hilfe, trifft auf Daniela M., die von meinen Besuchen bei Grete weiß; vielleicht bin ich ja zu Hause und habe einen Schlüssel zu ihrer Wohnung. Nein, ich bin nicht zu Hause, und Schlüssel habe ich, wie gesagt, auch keinen mehr.

Am Abend meldet sich Daniela M. neuerlich bei mir. Sie hat Polizei, Rettung und Feuerwehr angerufen, die in Windeseile angerückt kommen. Die Eingangstüre kriegen sie auf, ohne das Schloss zu beschädigen. Grete liegt auf dem Boden, sie ist bei Bewusstsein, kann aber nicht sprechen. Sie wird ins SMZ Ost gebracht. Morgen wird man mehr wissen.

Am nächsten Tag ruft Daniela M. wieder an. Ja, also, die Ärzte haben bei Grete eine Gehirnblutung diagnostiziert. Es lässt sich nicht sagen, ob die Blutung den Sturz oder der Sturz die Blutung verursacht hat. Grete sei mehr oder weniger bei Bewusstsein, wirke aber verwirrt, erkenne niemanden, und das Sprechen falle ihr schwer.

Zwei Tage später bin ich wieder in Wien und fahre ins SMZ Ost, um Grete zu besuchen. Ein paar Leute aus ihrem Bekanntenkreis sind auch da. Grete hat die Augen geschlossen und atmet mühsam mit offenem Mund. Sie reagiert nicht, wenn man sie berührt oder anspricht. Bedrückt starren wir auf das armselige Bündel Mensch im Spitalsbett, angehängt an Infusionen und umgeben von Monitoren. Vom medizinischen Personal ist nichts zu erfahren. „Sind Sie Familienmitglied?“, lautet die abweisende Gegenfrage. Nun gut, in zwei Tagen kommt Peter, der englische Neffe. Er ist Gretes einziger Blutsverwandter, Sohn ihrer mittlerweile verstorbenen älteren Schwester, die es im Jahr 1938 noch ins britische Exil geschafft hatte. Man gibt Peter zu verstehen, dass wenig Hoffnung bestehe.

Nach drei Wochen stirbt Grete und wird im jüdischen Sektor des Wiener Zentralfriedhofs beerdigt. Als ich nach Wien zurückkehre, ist die Wohnung von der Hausverwaltung bereits ausgeräumt worden. Irgendwann wird es einen neuen Mieter geben...

Ich muss nicht lange suchen im Stapel der Bücher neben meinem Schreibtisch, die ich gewissermaßen „in Gebrauch“, also noch nicht ins Regal gestellt habe. Grete hat mir dieses schmale Buch mit dem gelben Einband vor einigen Jahren geschenkt. Auf Seite 94 ist ein Lesezeichen eingelegt.

In einem kleinen Café in Terezín / trinkstdu den Tee und den Kaffee / und denkst an Wien. / Man bestellt für sein Geld was / und ist wer / und gibt lässig ein Trinkgeld / nachher. // In einem kleinen Café in Terezín, / da spürst du erst, was du entbehrst. / Die Stunden fliehn. / Du denkst an die Ferne, / vergisst die Kaserne. / Dann wachst du auf und siehst: / Du bist in Terezín.

Dieser Text ist zu singen nach der Melodie des Wiener Lieds „In einem kleinen Café in Hernals“. Es gibt vier Strophen. Mit ihrer klaren, gar nicht brüchigen Altfrauenstimme singt mir Grete alle vier Strophen vor. Auswendig. Sie hat den Text nicht vergessen, in denmehr als 70 Jahren, seit sie von Wien nach Theresienstadt deportiert worden ist und dort zwei Jahre verbracht hat. Sie war eine junge Frau, knapp über 20. In Theresienstadt/Terezín hat sie als Serviererin gearbeitet.

Servieren tun dort Weiberln mit Schürzen undHauberln, / ein Piccolo wird nicht gebraucht. /Man muss sich halt gfretten, / es fehlen Zigaretten, / sonst wär das Lokal ja verraucht...

Das Buch heißt „Von Sehnsucht wird man hier nicht fett“. Texte aus einem jüdischen Leben. Erschienen im Mandelbaum Verlag 1998. Es enthält Kurzprosa, Lyrik und kabarettistische Texte des jüdischen Autors Walter Lindenbaum, geboren 1907 in Wien, deportiert 1943 nach Theresienstadt. Dem Vorwort von Herbert Exenberger entnehme ich, dass die in Theresienstadt geschriebenen Texte dort auch aufgeführt wurden, auf Dachböden, in Hinterhöfen, in Krankensälen.

Das Lied von Theresienstadt: Wir sind hier40.000 Juden, / es waren viel mehr an diesem Ort, / und die wir nicht nach Polen verluden, / die trugen wir in Särgen fort. / Und in den Höfen der Kasernen, / da stehn wir abends sehnsuchtsbang, / und blicken zu den ew'gen Sternen / hinauf und fühlen hier den Zwang...

Im Jahr 1944 wird der Autor Walter Lindenbaum in das KZ Buchenwald deportiert und stirbt am 20. Februar 1945. Die mittlerweile 23-jährige Grete kommt, ebenfalls im Jahr 1944, nach Auschwitz. Sie überlebt und kehrt nach Wien zurück. Grete Lendvay ist also das, was man ein wenig euphemistisch eine „Zeitzeugin“ nennt. Solange sie gesundheitlich dazu in der Lage ist, nimmt sie Einladungen an, hauptsächlich von Schulen, um über ihre Erlebnisse 1938 bis 1945 zu berichten, über die Verfolgung in Wien, die Deportation nach Theresienstadt und Auschwitz. Auch die jungen Historiker, die nach der Ausstrahlung von Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ vom Regisseur beauftragt werden, die Schicksale von Holocaust-Überlebenden zu recherchieren, machen eine Video-Interview mit ihr.

Natürlich ist Gretes Schicksal immer wieder Gegenstand unserer abendlichen Gespräche. Aber als ich jetzt, nach ihrem Tod, den Versuch unternehme, über sie zu schreiben, merke ich, dass ich Wissenslücken habe. Ein Buch erweist sich als hilfreich. Es heißt „Radetzkyschule 1938. Eine Spurensuche“ und ist das Ergebnis eines Schulprojekts, das im November 2008 im Realgymnasium in Wien III, Radetzkystraße, stattgefunden hat und das man nicht genug würdigen kann. Ziel des Projektes war es, die Schicksale ehemaliger jüdischer Schüler dieses Hauses zu dokumentieren, dem Vergessenwerden zu entreißen und im Bewusstsein junger Menschen von heute zu verankern. Grete war keine Schülerin der Radetzkyschule. In ihrer Funktion als Zeitzeugin und Referentin findet ihre Geschichte trotzdem Aufnahme in das Buch und wird von einem Mitglied des Lehrerkollegiums, Gertrude Zwieback, niedergeschrieben. Ich bin dankbar, dass ich daraus zitieren kann.

Mein Vater war vor dem Krieg Herrenwäschefabrikant und besaß in Wien eine Firma, von der er 1938 enteignet wurde, und zwar von seinem Zuschneider. Unsere schöne Wohnung mussten wir innerhalb von drei Stunden räumen, weil sie einem Nazi sehr gut gefiel... Wir hatten ein Visum nach Südamerika, aber der Kriegsbeginn vereitelte unsere Abreise... Im Oktober 1942 wurden wir nach Theresienstadt deportiert. Meine Mutter und ich wurden im Dachboden einer Kaserne untergebracht, zusammen mit 30 anderen Frauen und Kindern. Mein Vater musste für die Wehrmacht Wäsche nähen und ausbessern. Das sicherte sein Überleben... Manchmal kam das Rote Kreuz, da wurden die Straßen geschrubbt und die Krankenhäuser gereinigt ... Die Kinder mussten – gut hörbar für die Leute vom Roten Kreuz – zum SS-Aufseher Rahm sagen: „Schon wieder Sardinen, Onkel Rahm!“ 1944 kam ich mit einem Transport per Viehwaggon nach Auschwitz. Nach der Ankunft waren wir in fünf Minuten splitternackt. Die Kleider wurden eingesammelt, und in einem großen Raum wurden wir kahl geschoren. Wir mussten unter die Dusche. Die Frage war allerdings: Wasser oder Gas? Es kam Wasser, mir war es egal...

Im November wartete wieder ein Viehwaggon, und wir fuhren nach Chemnitz. Wir mussten in einer Munitionsfabrik arbeiten. Es gab zwei Toiletten, auf einer stand „Für Arier“, auf der anderen „Für Häftlinge“. Das konnte ich nicht verstehen. Ich hatte keinemMenschen etwas getan,warum war ich ein „Häftling“? Wenn wir schlafen gingen, habe ich den Kolleginnen manchmal etwas vorgesungen. Meistens wollten sie die Arie aus dem „Zarewitsch“ hören: „Hast du da droben vergessen auf mich?“ Danach wurde viel geweint...

Mit dem Vorrücken der russischen Armee werden die Konzentrationslager nach und nach geräumt. Grete kommt wieder nach Theresienstadt und schlägt sich im Mai 1945 mühsam nach Wien durch. Ihre Eltern sind in einem Auffanglager in der Schweiz gelandet und kehren ebenfalls nach Wien zurück. Grete heiratet einen Schneidermeister. Gemeinsam betreiben sie eine kleine Firma, die Bluejeans erzeugt. 1984 stirbt der Schneidermeister, die Jeans-Produktion wird eingestellt. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, Grete ist in den Siebzigern, heiratet sie noch einmal, den Herrn Lendvay, einen pensionierten Schiffskapitän aus der Slowakei. Die Ehe ist glücklich, aber kurz. Sie endet mit dem Tod des Herrn Lendvay.

Das Lied von Theresienstadt: Und wird es einmal anders werden, / sind Mühsal und Beschwerden aus, / wird wieder Frieden sein auf Erden, / dann singe ich mein Lied zu Haus.

Der letzte Satz des autobiografischen Berichtes von Grete Lendvay im Zeitzeugenbericht der Radetzkyschule lautet: Ich bin zufrieden und denke ohne Hass und Bitterkeit an die Vergangenheit zurück. Ohne Hass und Bitterkeit. Schalom, Grete. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2014)

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