Masada im Sinn

Vor 50 Jahren wurde die Festung Masada am Toten Meer von freiwilligen Helfern ausgegraben. Ich war dabei – als eine von 150 Personen aus 40 Nationen. Heute schaue ich mein verletztes Paradies, wie es heimgesucht wird von Touristen.

Denk ich an Masada, denke ich an den Ursprung der Farben. Das Erste, was jeden Morgen in mein Bewusstsein dringt, sind jedoch ein Lied und eine Stimme – die hohe, klare Stimme der Joan Baez aus dem Lautsprecher auf einem Pfahl am Ende der Zeltgasse. Sie soll uns Freiwillige punkt fünf Uhr früh aus den Feldbetten holen. Ein dunkles Blau über weißem Sand zeigt einen tiefvioletten Rand über der scharfen Linie der Nachbarberge – die, gerade in der Höhe, in Scharten abfällt zum Toten Meer. Wer zum Waschen geht, den Weg hinunter zu einem langen Metalltrog im Freien, der schreitet im Purpurlicht, und wer den Kopf hebt, sieht das Versprechen auf ein leuchtendes Türkis. Wenn das Purpur heller wird und die Sandhügel es weinrot zurückstrahlen, sitzen wir im Frühstückszelt, wo die israelische Armee ein Feldessen bereithält: Salat und Pitah-Brot und dünnen Tee. Draußen entflammen die Wege rosarot, und wer nicht bei Jacques Brels Chanson „Bruxelles“ unterwegs hinauf auf den Berg ist, der kommt zu spät, und das ist nicht gut. Denn am Fuß der Rampe steht Yigael Yadin persönlich – der Archäologe, große Organisator, General; hochgewachsen, lässig auf sein abgespreiztes Standbein gestützt – und mustert seine Freiwilligen-Heerschar (über 150 Menschen aus 40 Nationen und drei Generationen). Das hell leuchtende Orange folgt uns auf dem mühseligen Aufstieg über die Rampe auf das Plateau und liefert uns dort dem blendenden Gelb und Weiß unter gleißend blauem Himmel aus.

Die steile Eroberungsrampe der Römer: Ich bin ein Jahr zuvor über den Schlangenpfad von der Meeresseite her aufgestiegen (den schon Josephus Flavius in seiner Schrift „Der jüdische Krieg“ beschreibt): weil ich in der Arava unterwegs war, im Abendbus von En Gedi nach Arad die Frau des Polizisten getroffen hatte, die mich einlud, in der Polizeistation zu übernachten, am Fuß des Tafelbergs (ich stieg sofort aus und schlief dann in der Kammer bei ihren Kindern). In der Morgenbläue ging ich hinauf, in steilen Windungen, durch alle Farbspiele bis ins Weiß. Das verwunderte und begeisterte Freunde in Jerusalem, sodass sie mir später schrieben – und mich die Nachricht von der Ausgrabungskampagne des Yigael Yadin rechtzeitig erreichte. Der London „Observer“ hat sich der Unternehmung angenommen und lockte Menschen aus aller Welt herbei. Ein fröhliches Volk, das jetzt auf dem Plateau arbeitet, um die Kasematten, den Westlichen Palast, die Gebetsstätten und Vorratsräume freizulegen, auf der Suche nach der Geschichte, die Josephus Flavius berichtet.

Masada war zunächst eine Festung und Wohnstätte Herodes des Großen. In die spitze Bergnase gegen Osten sind drei Terrassen gehackt, die Wände mit Malereien verziert, ist die römische Palastanlage mit Aussichts- und Ruhepunkten reichlich versehen, der römische Komfort mittels Hypokausten-Heizung, reicher Lager von Leckereien und Bäder gewahrt... Jedoch nach dem Fall des Tempels in Jerusalem 70 n. Chr., flüchten sich2000 Männer, Frauen und Kinder – Essener? Sadduzäer? – herauf, um in Freiheit und Kargheit hier zu leben, eingenistet in die Kasematten der Umfassungsmauer.

Belagerung und Vernichtung

Die römische Allmacht kommt und belagert sie, will sie aushungern – sie aber haben Felder da oben angelegt und Regenwasser-Zisternen und Vorratskavernen. Nach zwei Jahren Belagerung (mithilfe von acht heute nochin Spuren sichtbaren Kastellen und einer Umfassungsmauer) verlieren die Römer die Geduld, bauen diese weiße Schotterrampe für ihre Wundermaschinen, deren Katapultsteine aber nur die Mauern oben verfestigen, die aus Lehm und Gras gemacht sind. Die Römer begreifen schnell, und anstelle der Steine schießen sie Fackeln nach oben – was weich ist, muss gut brennen... aber die noch übrig gebliebenen (960?) Sadduzäer? Essener? wollen nicht im Triumphzug durch Rom geschleift werden. Der römische Bürger jüdischer Abstammung Josephus Flavius berichtet mit distanziertem Respekt die Gräuel, die folgten, die zwei überlebende Frauen (mit ihren fünf Kindern in einem Versteck) berichtet haben sollen: Erst töteten die Männer ihre Frauen und Kinder, dann brachten zehn Ausgewählte die noch Übriggebliebenen zu Tode, dann einer durch Los Bestimmter die neun, bis er sich selbst...

Wir suchen mit feinen Hämmerchen unter der Asche – und finden: Knochen; keine Waffen, kaum Gerätschaft, keine Leichen. Ach ja, da in der Ecke kleine Kupfermünzen, verstreut zwischen Tonscherben, und eine Amphore mit aufgesplittertem Bauch – wir ahnen den Fuß des römischen Soldaten, der sie freigestampft hat, die Geldstücke aus ihrem Versteck. Die silbernen wird er mitgenommen haben, die kupfernen ließ er uns zur Freude, und sein Würfel ist ihm aus der Tasche gefallen, mit zartem Knack zersprungen in zwei Teile – mit Nut und Feder, geschnitten ins Elfenbein, füllst du Parfum hinein, fällt der Würfel auf die sechs oder die eins, wir testen mit Sandkörnern.

Wir sind hier sechs junge Mädchen in Shorts und mit Beduinen-Tüchern um den Kopf gewickelt gegen den Sand. Der die schweren Steine für uns bewegen soll, heißt Josef, ist schmächtig und kommt aus Pakistan. Zu unserer Unterhaltung sagt er alle Bahnstationen zwischen Karachi und Lahore auf, immer wieder im Singsang seiner Heimat – weil er Schaffner gewesen war, bevor er floh... und sitzt jetzt im Schatten der Kasematten, und wir in der weißen Glut hoffen auf Lebenszeichen aus lange verlorener Zeit, auf den erregenden Moment, wenn das Schnäuzchen einer Öllampe aus dem Sand lugt – und wird mehr herauswachsen unter vorsichtigen Händen? Der Tonbauch? Der Henkel? Ein Strohkorb darunter... wir auf den Spuren der Geschichte mit unseren Geschichten, Inseln von Klappern und Plappern und dem Rattern der Siebe und Rufe und Lachen und – Stille. Angespannte Aufmerksamkeit. Einer hat sich verstiegen, ist abgerutscht, ein Menschlein in einer steilen Sandrinne am Har Eliazar, im Fels uns gegenüber. Als könnte nur ein Laut die Sandlawine lösen, so harren wir, als könnte unsere Anspannung ihn halten, den kleinen dunklen Fleck Mensch... einer ist unterwegs zu ihm, Moshe, der Kibbutznik, Moshe, der Sabre mit dem festen Tritt eines Bauern, wir sehen, wie er aufsteigt und mit bloßen Händen einen Weg zum Verunglückten in den Sand formt... der, heil zurück, flog aus dem Camp, weil er Moshe gefährdet, weil eigenes Abenteuer in der Wüste nicht erlaubt, weil wir an Feindesgrenze zu Jordanien, damals, 1964.

Die Abende sind friedvoll, goldfarben, voll müde entspannter Reden, in vielen Sprachen kreuz und quer – der andere Österreicher außer mir, Professor Dr. Herbert Siedl oder auch Pater Suitbert genannt (vom Karmeliterorden), spricht Hebräisch mit Sabre-Akzent, das Akkadische, einen altaramäischen Dialekt, die Redeweise von Jesus (und Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch sowieso), Latein mit den Archäologen – und über philosophische Fragen mit mir, im peripatetischen Auf und Ab, im Wadi zwischen den Römerlagern. Unser Grabungslager ist von der israelischen Armee perfekt organisiert, zwei Zeltstraßen mit Zelten für jeweils zehn Personen, am Freitag, vor Sonnenuntergang, ist Badestunde – hinter einer Wellblechwand unter an Stangen montierten Duschen. Ein Jemenite betreibt einen Ofen, der draußen steht, das Wasser heizt und wie ein Teerkocher dampft, donnert und poltert. „Change sexes in shower“, schreit er, „out go, girls!“ Out go, girls – zum Schichtwechsel der Freiwilligen nach jeweils 14 Tagen feiern wir am Lagerfeuer mit Gesängen quer durch die Welt – und Sturm kommt in der Nacht, versenkt unsere Feldbetten im Schlamm, reißt an den Zelten, trägt fort, was nicht angebunden, wirbelt Holzplatten durch die Luft wie fliegende Untertassen.

Am Morgen aber hat er uns eine feucht leuchtende Landschaft hinterlassen – einen Teppich lila Blümchen auf jenem und gelben auf diesem Hügel, Duft und Jubel – eine Stundenpracht, auf den Hauch der Hitze wartend. Doch der Samen für neue Wunder ist schon ausgelegt... Das Volk Israel hat lange Zeit Masada als ein Überlebensmahnmal angesehen, seine Soldaten dort oben angelobt. Die Archäologen haben indessen weitergegraben... wo sind die Leichen geblieben? Warum findet man Vorräte und Hausrat auf halber Höhe des Bergmassivs auf Plattformen und in Kavernen, wenig aber in der Festung oben? Vielleicht haben die Römer nur sechs Wochen lang das störrische Volk belagert, und vielleicht waren es nur sonderliche Wüstenfamilien, die eine seltene Parfumpflanze auf dem Plateau im Verborgenen kultivierten? Aber warum sollten die Römer acht Lager errichten, um Parfumhersteller zu verjagen – weil Parfum ein hohes Ansehen im alten Rom genoss? Den Respekt eines solchen Kampfes gönnt man nur religiösen Querdenkern, politischen Widerständlern, fremden Freiheitskämpfern... Warum also dieser Vernichtungsfeldzug? Eine ethnische Säuberung? Ist keine römische Tradition.

Keine Fragen nach dem Warum

Archäologen aber fragen nicht nach dem Warum, das überlassen sie den Historikern, und das Wie-genau geben die Historikerinnen an uns Dichterinnen weiter, und das Zu-was-ist-es-gut wissen Tourismusmanager – und so wurde Masada zum Historienwunderland. Eine Seilbahn hievt neugieriges Volk hinauf, das auf breit getrampelten Wegen zwischen den Erinnerungsstücken wandelt, mit Frauen und Kindern in lockeren Menschenschlangen dahinzieht, das vor Wüstenkulissen alte Geschichten sich vorstellt und neue Mutmaßungen über Bild und Ton sich vorspielen lässt – den Mythos Masada: erst ein herausragender Fels in der wüsten Wunde der Erde, dann Festung und Prunkpalast eines vom Verfolgungswahn gepeinigten Mächtigen, darauf letzte Zuflucht einer verschworenen Gemeinschaft und mit uns dank Yigael Yadin ein Ankunftsort einer fröhlichen bunten Schar, bald wieder ein pathetisches Monument einer jungen Nation und heute Besichtigungsspaß für Reisende... wo ist die richtige Erzählung, was ist der Sinn von Masada? Was ist Wahrheit?, fragte ein berühmter Jahrhundertgenosse des Josephus Flavius (Pilatus bei der Vernehmung des Jesus). Das Volk ist mittlerweile wohlgelaunt in die Shopping Mall eingezogen, hat sich mit Erinnerungsbildern, duftendem Sand vom Toten Meer, T-Shirts und Tonlämpchen eingedeckt und Karten für die nächste Opernaufführung dort oben besorgt („Carmen“ zum Sonnenuntergang). Eine Erlebnisfestung Masada...

Ich aber, 50 Jahre nach jener Ausgrabung (und Eröffnung des Mythos Masada), finde in der Ecke der Südburg, wo die Aussicht in die steilen Felsen und rauen Wadis am schönsten ist, eine Ahnung von der Stille, die Masada einmal umgab, von dem fröhlichen Flimmern, das wir erlebten – und halte den Blick ab von den Stahlskeletten für Scheinwerfer, von den Aufzügen und Betonkojen... und schaue mein verletztes Paradies. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2014)

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