Wie viel Geheimnis braucht der Mensch?

Young girl friends whispering
Young girl friends whispering(c) Erwin Wodicka - BilderBox.com (Erwin Wodicka - BilderBox.com)
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Wer etwas versteckt, der hat etwas zu verbergen. Alles ist offenzulegen. Totale Transparenz oder: Vom Leben in einer Welt, in der auch noch das Intimste ans Tageslicht gezerrt wird.

Das Geheimnis – das durch positive oder negative Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten – ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit“,notiert der deutsche Sozial- und Kulturphilosoph Georg Simmel in einem Essay aus dem Jahr 1907. Dieser Satz steht eigentümlich quer zum aufgeregten politischen Diskurs unserer Tage, in dem das Geheimnis und jene, die eines haben oder es dazu machen, unter Anklage stehen. Aber das Pathos der Transparenz, jene Forderung, dass prinzipiell alles geklärt werden muss und alles offengelegt sein soll, schlägt um in den Verdacht, in einer gläsernen Gesellschaft zu leben, in der auch noch das Intimste ans Tageslicht gezerrt werden kann. Orwells „Big Brother“ und Michel Foucaults „Panoptikum“ beschreiben ein und dieselbe Dystopie. Sie geht Hand in Hand mit dem Verdacht undder Offenlegung der Tatsache, wonach wir in einem riesigen Gefängnis leben und prinzipiell so überwacht sind wie in jenem berühmten Panoptikum des Gefängnisses, das der liberale englische Aufklärer Jeremy Bentham erschuf. Was auf den ersten Blick als stimulierendes Ziel erscheint, dass wir, privatwie politisch, voreinander keine Geheimnisse haben, schlägt in einer Artnegativer Dialektik in sein Gegenteil um: in puren Horror, in die Tatsache, dass wir keine Geheimnisse mehr haben dürfen. Eine Gesellschaft, in der es kein Geheimnis geben darf, ist ihrer ganzen Beschaffenheit nach totalitär. Sie erzeugt zugleich eine Heerschar von Menschen, die die Geheimnisse anderer archivieren und zugleich unter Verschluss halten. Jenseits des Geheimnisses lebt der Wahn der vollständigen Kontrolle der Menschen durch Menschen.

Aus einer ganz bestimmten Perspektive genießt das Geheimnis einen schlechten Ruf. Dies hat damit zu tun, dass der und die andere, als Person wie als Gruppe, einem etwas vorenthalten möchte. Wer ein Geheimnis hat oder haben soll, der gerät fast automatisch unter Verdacht: Der Grund, den sie, die Geheimnisträger, haben, kann nur problematischer Art sein. Wer ein Geheimnis hat, wer etwas versteckt, der hat etwas zu verbergen – so wie beispielsweise in Ibsens „Gespenstern“ in der bürgerlichen Familie oder im politischen Raum in jenen höchst problematischen Milieus von Geheimdiensten und Geheimbünden.

Wie schon Freuds Überlegungen zumUnheimlichen zeigen, haben alle Worte, die sich auf die Wortfamilie des „Heimischen“ beziehen, keine simplen Gegenstücke. Das „Heimliche“ ist nicht der Gegensatz zum „Unheimlichen“. Worte wie „Heimnis“ oder „Ungeheimnis“ existieren erst gar nicht.Wenn es überhaupt eine „positive“ Negation des Geheimnisses gibt, so ist es eben die Transparenz, die Forderung nach Durchsichtigkeit als eines Elements politischer Korrektheit, die das Amtsgeheimnis, das in Österreich offenkundig besser geschützt wirdals in anderen Ländern, oder Geheimabkommen von vornherein anprangern, eben weil sie dem Normalbürger, der Normalbürgerin etwas vorenthalten, was zu wissen er und sie Anrecht haben. Nicht ganz ohne Grundgilt die Geheimnisproduktion, die Geheimniskrämerei, als eine Form derAkkumulation von Macht. Das weiß der Ortskaiserunserer Tage ebenso wie der Abteilungsleiter einerFirma oder ein moderner universitärer Manager: Information, vor allem deren Hintanhaltung im rechten Augenblick, ist Politik, eine Politik, die effektiv, wennauch nicht ohne Risiko ist. Wenn sie auffliegt, ist jenes Vertrauen verspielt, von dem menschliche Beziehungen nicht unmaßgeblich getragen sind.

Dieses Pathos der Transparenz hat mit dem medialen Wandel ebenso zu tun wie mit einem in fast allen westlichen Ländern zu konstatierenden neuen Unbehagen an der Politik. Es basiert auf der Gegenüberstellung von guten Bürgern und böser Politik, von Praktiken, die den Bürgern Informationen vorenthalten und ihnen etwas systematisch verschweigen. Nur so ist es verständlich, warum der WikiLeaks-Begründer Julian Assange oder Edward Snowden in einem nicht unbeträchtlichen Segment beinaheKultstatus erlangt haben, eben weil sie, die Whistleblowers, die Geheimnisse der Mächtigen verpfiffen und publik gemacht haben. Die Geschichte dieser neuen medialen Helden ist in ein ganz bestimmtes, durchaus traditionelles narratives Format gefasst, es ist der Kampf der Davids gegen die Goliaths dieser Welt, ganz besonders gegen den „Hegemon“, die USA, eine Auseinandersetzung, die von der List und der neuen Waffentechnik bestimmt ist, in der die jungen Davide dem imperialen Goliath überlegen sind.

Die Anschuldigung des Geheimnisverrats wird durch die hübsche Metaphorik des Pfeifenblasens („to blow the whistle“) umgekehrt. Dass jemand „auspackt“ und ein Geheimnis preisgibt, verliert damit seine Anstößigkeit, die es aus Sicht jener Gruppe besitzt, die bisher im Besitz ebendieses Geheimnisses war, zum Beispiel der Diplomatie oder ebenjener Einrichtung, die die allzu euphorische Bezeichnung trägt, dem Geheimen zu Diensten zu stehen. Hinter der allgemeinen Empörung über die heimliche Bespitzelung steht überdies die Frage, inwiefern politische Geheimnisse in Diplomatie und Militär mit den Spielregeln derDemokratie vereinbar sind oder sich stets durch eine Art von Ausnahmezustand und antizipierte Notfallsituation zu rechtfertigen trachten.

Womit wir dabei angekommen sind, dassdas Geheimnis ein merkwürdig perspektivisches Phänomen darstellt, bei dem es darauf ankommt, ob man das Geheimnis aus der Binnen- oder aus der Außenperspektive betrachtet. Das Geheimnis schließt systematisch andere Menschen aus, es etabliert eine unsichtbare Grenze und setzt damit all jene psychischen und politischen Energien in Bewegung, die auf Enthüllung abzielen. Das Verstecken ist also viel weniger ein Handeln für etwas als vielmehr eine Handlung gegen jemanden. Robinson hat nichts zu verbergen: weil er offenbar allein auf der Insel ist. Überdies enthält es eine radikale Form „politischer“ Asymmetrie zwischen jenen, die über ein als wichtig und entscheidend eingestuftes und imaginiertes Wissen verfügen, und jenen, die von diesem Wissen ausgeschlossen sind.

Idealtypisch verdankt sich die Feindschaft gegen das Geheimnis zunächst einer aufklärerischen Denkfigur. Aufklärung in ihrer metaphorischen Bedeutung meint ja, dass alles Dunkle, Verdächtige, alle Machenschaften der Mächtigen ans Tageslicht gezerrt werden sollen. Und dass das prinzipiell möglich ist. Helligkeit ist nur ein anderes Wort für die Herstellung eines Zustandes von Geheimnislosigkeit, der bei genauerem Betrachten selbst unheimliche Züge aufweist. Das griechische Wort für „aletheia“ hat, wie Heidegger und seine Schule nicht müde wurden zu betonen, die etymologische Bedeutung von Unverborgenheit und Nacktheit; damit verwandt ist übrigens eine heute fast vergessene Bedeutung von „Apokalypse“: Enthüllung. Am Ende der Zeiten wird es kein Geheimnis mehr geben, alles wird ans Tageslicht kommen.

Die aufklärerische Feindschaft gegen das Geheimnis zielt auf alle Lebensbereiche, auf die dynastische Geheim- und Kabinettspolitik, auf die vermeintlichen Geheimnisse und Wunder der Religion, die als Lug und Priestertrug entlarvt werden, aber auch auf die Geheimnisse, die sich hinter den Lügen der aristokratischen, später auch der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Beziehungen auftun. So ist es in Balzacs großartiger Erzählung „Eugénie Grandet“ der unermessliche Reichtum des Vaters, der von diesem systematisch zum Geheimnis gemacht wird. Diese Enthüllung tritt in der modernen Gesellschaft in mehreren Formen auf, als wissenschaftlicher Impetus, die Geheimnisse der physikalischen Welt durch Wissenschaft aufzulösen, literarisch als Gesellschaftskritik und journalistisch als die Etablierung einer Institution, die systematischen Enthüllungsdienst gegen alle falschen, aber auch relevanten Geheimnisse dieser Welt betreibt.

Die Aufdecker, Auspacker und Verpfeifer unserer Tage sind nur die auffälligsten Repräsentanten – und wie alle Feinde, wie alle „Antis“, befinden sie sich in einem systematischen Abhängigkeitsverhältnis zu dem, was sie bekämpfen. Sie sind negativ fasziniert von einem Phänomen, das bestimmte Aufladungen in sich trägt. Denn die erotisch durchtränkte Welt des Geheimnisses erscheint aus der Außen-, zuweilen aber auch aus der Innensicht als bedeutsam und wichtig. Diese Welt weckt die Fantasie, die des Begehrens und die der Angst. Die geheimnisvolle und angsterregende Frau etwa des französischen oder österreichischen Fin de Siècle ist das erotische Objekt männlichen Begehrens schlechthin, und die Angst vor der Unübersichtlichkeit der modernen Gesellschaft erzeugt Horrorfantasien, die in grellen und aberwitzigen Verschwörungstheorien kulminieren.

Die Erzählung von der „jüdischen Weltverschwörung“, jene postaufklärerische Erzählung, die Autoren wie Umberto Eco und Danilo Kiš literarisch ausgebreitet haben, ist wohl die abstoßendste Form einer falschen Enthüllung, an der nur eines wahr ist: die Kombination aus Angst und Aggression gegen „den anderen“ in der eigenen Kultur, den Juden. Jede Verschwörungstheorie operiert in ihrem Kern mit einem vorgeblichen und verfänglichen Geheimnis. Der Aufdecker schreibt sich dabei stets ein Sonderwissen zu. Wenn dieses von anderen anerkannt wird, wächst dessen symbolisches Kapital in jenem Teil der Gesellschaft, die sich vom Verborgenen ausgeschlossen sieht. – Die Aufklärung ist ihrer ganzen Grundbeschaffenheit nach antimysteriös, und doch hat sie in ihrer historischen Formation, eben der Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert, interessanterweise eine Fülle von Geheimgesellschaften hervorgebracht, von denen die Freimaurer nur die bekannteste sind. Das Wissen, das doch der gesamten Menschheit zur Verfügung stehen soll, wird hier zum Geheimnis einer kleinen Gruppe, die sich sozial betrachtet durch ebendieses Geheimnis konstituiert. Vermutlich ist diese funktionale Eigenschaft einer der Gründe, warum Simmel das Geheimnis als soziale Errungenschaft bezeichnet hat. Am Beispiel der Freimaurer, deren Geschichte in unserem Raum der Innsbrucker Historiker Helmut Reinalter ausführlich beschrieben und analysiert hat, lässt sich übrigens der Mechanismus, den das Geheimnis in Gang setzt, sehr gut beschreiben. Was man der Freimaurerei seit ihrem Bestehen nachgesagt und angedichtet hat und was ihr erbitterte, durchaus affektiv durchsetzte Feindschaft – Hass und Ressentiment bis hin zum Vernichtungswunsch – eingetragen hat, ist ebendieser systematische Entzug vermeintlich wichtigen Wissens und der damit verbundene Verdacht, dass, ganz ähnlich wie im antisemitischen Traktat der „Weisen von Zion“, der Kern dieses Geheimnisses die undurchsichtige und manipulative Weltherrschaft ist.

Die Aufklärung, die historische, aber auch die strukturelle, hat, so ließe sich sagen, ein unaufgeklärtes Verhältnis zum Geheimnis. Sie zehrt in ihrer Abneigung gegen Priestertrug, Unwissenheit und Mysterium von der Sogkraft alles Geheimnisvollen – denn die schon erwähnten Geheimgesellschaften sind, ähnlich wie die geheim organisierten sozialrevolutionären Parteien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, mehr als nur Notmaßnahmen gegen den Zugriff absolutistischer Regime. Gewiss auch in dem Bedürfnis nach Schutz manifestiert sich im Übrigen eine wesentliche politische und private Funktion des Geheimnisses, eine, die mit Selbsterhalt und Selbstkonstitution verbunden ist. Mitglieder von Geheimgesellschaften und revolutionären Gruppen verstehen sich als Eliten und Avantgarden, als politische Bannerträger von morgen – in diesem sozialen Akt besteht in Wahrheit ihr ganzes diskursives und politisches Geheimnis.

Wenn man die Moderne im Panoramablick als Widerspiel von Aufklärung und Romantik auffasst, so lässt sich die historische, eben auch deutsche Romantik in ihremVerhältnis zum Geheimnis als Gegenpol begreifen. Die durch die Aufklärung etablierte Welt wird als prosaisch und leer empfunden. Literatur ist in der Romantik nicht mehr ein Medium der Aufklärung, sondern der Ort des Geheimnisses, jenes Poetischen, das die Verordnungen der Vernunft gleichsam ins Exil getrieben haben, so wie in E.T.A. Hoffmanns hintersinniger Geschichte „Klein Zaches, genannt Zinnober“. Ziel der romantischen Poesie und Politik ist von daher die Restitution all jener Phänomene, die der aufklärerische Diskurs diskreditiert hat. Dazu gehört in diesem neuen psycho-ästhetischen Diskurs neben dem Wunder, der Fantasie, dem Gemüt und der Magie eben auch das Geheimnis. In einem berühmten Fragment aus den Jahren 1797/98 beschreibt Novalis die „Operation“ des Romantisierens: dass es „dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein“ gibt.

Damit wird eine neue Umgangsweise mit dem Geheimnis etabliert, die über die Aufklärung hinausweist. Ein ästhetischer Konstruktivismus kommt zum Vorschein, in demdas Geheimnis gleichsam sekundär wird, in dem dessen Produktionscharakter, aber auch dessen Unhintergehbarkeithervorgehoben wird. Die Welt, die nicht zuletzt aufgrund bestimmter Verfremdungstechniken inein ungewöhnliches Licht oder auch Dunkel gerückt wird, erscheint aller Wissenschaftlichkeit zum Trotz als ein Geheimnis so wie das Gesicht eines Gegenübers. Summarisch formuliert, lässt sich sagen, dass jedwede romantische und postromantische Literatur von der Erotik des Geheimnisses getragen ist.

Warum aber bezeichnet Simmel das Geheimnis als Errungenschaft? Ganz einfach auch deswegen, weil es für den Prozess der Individualisierung von entscheidender Bedeutung ist. Was auf den ersten Blick als ein sekundäres Phänomen anmuten mag, ist bei genauerem Hinsehen zentral für unsere soziale Befindlichkeit, die sich im Wechselspiel von Eigenem und Fremden abspielt. In der Poetik des Raumes (Bachelard) hat das Geheimnis seinen festen Platz. Schon kleine Kinder verbergen bestimmte Dinge vor den anderen, nicht zuletzt vor den Erwachsenen. Was kostbar für ein Kind ist, will es mit niemandem teilen, das versteckt es in Schachteln, Schubladen oder in verschließbaren Gefäßen so wie später die ersten Liebesbriefe. Nicht umsonst hat Simmel einen inneren Zusammenhang zwischen Brief und Geheimnis gesehen. Auch wenn im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit das Briefgeheimnis anachronistisch erscheinen mag, so sorgen doch bestimmte Zugangscodes im Computer dafür, dass nicht jeder unsere Geheimnisse kennt. Es ist also das Geheimnis, das etwas Eigenes, ein „Heim“, schafft.

Immer strebt das Geheimnis auf seine Auflösung und Offenlegung zu. Das ist, was man als seine erotische Struktur bezeichnen kann. Weil etwas verborgen ist oder zu sein scheint, löst es das Begehren der Entblößung aus. Sozial besehen vermag es intensive Beziehungen zwischen jenen Menschen zu stiften, die ein Geheimnis teilen. Jemandem unter dem Siegel der Verschwiegenheit ein Geheimnis von sich oder anderen mitzuteilen besiegelt eine Art vonVertrauenspakt, der nicht selten ritualisiert ist. Die „Blutsbrüderschaft“ zum Beispiel ist solch ein Ritual – ebenso wie die verschiedenen Feiern von Geheimgesellschaften und Religionsgemeinschaften. „Geheimnis des Glaubens“ heißt es im katholischen Messeritual.

Die kleinste Gruppe in einer Gesellschaft ist das intime Paar. Zwei Menschen gründen dabei ihre Beziehungen nicht zuletzt auf den Austausch von (narrativen) Geheimnissen von sich selbst, die sie niemandem oder nur ganz wenigen je mitgeteilt haben. Auch wenn das Pathos dieser Beziehung im Stadium totaler Verliebtheit suggeriert, niemals Geheimnisse voreinander zu haben, so bleibt doch ein gewisser Vorbehalt und bleibt ein Vorrat von kleineren oder größeren eigenen Geheimnissen. Umgekehrt wissen sich Paare im Besitz von gemeinsamen Erlebnissen, deren Intimität auch darin besteht, dass man sie miteinander teilt, aber anderen, Dritten, nicht mitteilt. Die Geheimnisse, über die Paare gegenüber der Außenwelt verfügen, markieren die unsichtbare Grenze einer Intimität, die nur durch die Struktur des Verbergens, jener merkwürdigen Kommunikation des Schweigens, konstituiert wird. Das Private ist ebenjener Raum, der für die anderen nichtzugänglich ist und tendenziell verschlossen bleibt.

Dass das Geheimnis aus der Welt des Menschen verschwinden könnte, wie in E.T.A. Hoffmanns erwähnter Erzählung, ist also jenseits der aufklärerischen Vorbehalte gegen das Geheimnis und jenseits der romantischen Sehnsucht nach ihm höchst unwahrscheinlich. Es ist übrigens gar nicht ausgemacht, dass die modernen Naturwissenschaften das Geheimnisvolle, Abgründige und Unbegreifliche dieser Welt eliminiert haben. Romantik und Aufklärung sind und waren im Hinblick auf das Geheimnis ihrer Tendenz nach und auf unterschiedliche Weise naiv: die Romantik, weil sie die politische und soziale Brisanz des Phänomens systematisch ausblendet; die Aufklärung, weil sie die anthropologische Verankerung des Geheimnisses geflissentlich übersieht. Dass Geheimnisse geschaffen und auch offengelegt werden, ist Teil jener individuellen und sozialen Prozesse, die um Individualisierung und Sozialisierung kreisen.

Am Ende ist übrigens das, was das lange wohlbehütete Geheimnis preisgibt, zumeist enttäuschend. Solange es ungelüftet blieb, hielt es die Energien der Fantasie in Gang. Das ist es, was so viele Bücher über Geheimlehren so trivial macht, so banal wie jene historischen pornografischen Werke, die die verbotenen Geheimnisse der Sexualität preisgeben. Viele der Stasiakten und selbst der diplomatischen und militärischen Geheimnisse sind sehr viel weniger sensationell, als sie anfänglich schienen. Es ist oder war die Aura des Geheimnisvollen, das sie umgab. Insofern hat die Romantik recht, wenn sie davon ausgeht, dass das Geheimnis eine ästhetische und darüber hinaus eine soziale Operation ist. Und zugleich eine Erfahrung: Stets behält das Gesicht des anderen und selbst der entblößte Körper gerade für den aufmerksam beobachtenden Menschen ein Moment des Undurchdringlichen. Von Canetti stammt die aphoristische Sentenz: „Rätsel hinterlassen, oder du stirbst wirklich.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2014)

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