Das Gedächtnis der Heimat

In einem Wiener Wohnhaus überstanden sie Bombenschäden und Plünderungen: die Briefe, die Thomas Mann an den Literaten Paul Amann richtete. Jetzt sind sie erstmals in Wien zu sehen. Erinnerung an einen Vergessenen.

Die Friedlichsten, die Gutmütigsten waren von dem Blutdurst wie betrunken“, erinnerte sich Stefan Zweig an den Sog der Kriegsbegeisterung, dem kaum einer von Österreichs Intellektuellen zu Beginn des Ersten Weltkriegs widerstehen konnte. Schriftsteller, Gelehrte, Künstler, sie alle waren besoffen von Patriotismus und Nationalismus. Jene wenigen, die nicht in den Chor der Heimattrunkenen einstimmten, verstummten oder wurden geflissentlich überhört. In einem Brief beschreibt Zweig das Gefühl der Isolation, das Kriegsgegner verspürten, und nennt dabei nur einen einzigen Gleichgesinnten: „Alle Wiener Literaten (außer Amann) stehen mir so fern.“ Paul Amann ist nur noch Thomas-Mann-Kennern geläufig, weil er einen – mit Unterbrechungen – über vier Jahrzehnte gehenden Briefwechsel mit Mann unterhielt. Eine nicht publizierte Diplomarbeit von Robert Gangl und die Erwähnung auf einer Gedenktafel im Wiener Goethe-Gymnasium sind die wenigen heute in Wien auffindbaren Spuren des vertriebenen und vergessenen Literaten, Philosophen und Übersetzers, dessen Hauptaugenmerk dem französischen und deutschen Nationalcharakter sowie der kulturellen und sozialen Stellung des Judentums in Europa galt.

„Wenn Geschichte einen Kreis schlägt, dann ist die Gravitationskraft des Zufalls stärker als jene des Vergessens“: Unter diesem Motto möchte die Volkshochschule Hietzing Amann zu einem Platz im kulturellen Gedächtnis seiner Heimat verhelfen. Der angesprochene Kreis schließt sich, indem Amman im Rahmen einer Ausstellung nach Hietzing zurückkehrt, wo er bis zu seiner Flucht im Jahr 1939 lebte und als Realschulprofessor unterrichtete. Die Schau in der Volkshochschule ist zum größten Teil jenen Briefen gewidmet, durch die Amann in Erinnerung geblieben ist. Es ist ein geistreicher Dialog auf durchaus gleicher Augenhöhe. Amanns Position erschließt sich allerdings nur indirekt über Manns Erwiderungen, da allein die Briefe Thomas Manns an Paul Amann erhalten sind.

Amanns Weltanschauung ist durchdrungen von tiefer Zuneigung zu Frankreich und seiner demokratischen Kultur. Er zeigt sich als großer Bewunderer des Literaturnobelpreisträgers Romain Rolland, des Wortführers der Kriegsgegner auf französischer Seite; später wird Amann mehrere Werke Rollands ins Deutsche übersetzen. Hart geht Amann mit Deutschland ins Gericht, das er als reaktionär betrachtet und als unfähig, neue Ideen hervorzubringen. „Der Faszination des Krieges scheinen Sie nicht sonderlich zugänglich zu sein“, schreibt ihm Mann halb erstaunt, halb Nase rümpfend. Solche am sicheren Schreibtisch formulierten Sätze müssen Amann, der während des Kriegs an verschiedenen Fronten als k. u. k. Offizier diente und zweimal verwundet wurde, zum Widerspruch reizen.

Thomas Mann gehörte zu jener großen Mehrheit der deutschen Intellektuellen, die mit Beginn des Ersten Weltkriegs emphatisch für ihre Heimat Partei ergriffen. Die Westmächte hätten Europa verraten, Frankreich verhalte sich wie ein böses Kind, das nach Schlägen schreie, schreibt Mann an Amann: Der Westen sei alt, naiv, während Deutschland Modernität und Zukunft verkörpere. Sein Feindbild ist der „Zivilisationsliterat“, der „Freiheitsdoktrinär“, der „die Intellektualisierung, Politisierung, kurz: Demokratisierung Deutschlands betreibt“. In einem Brief versteigt sich Mann in die Aussage: „Ich hasse die Demokratie.“

Der Briefwechsel scheint für Mann höchst anregend zu sein. So mancher der in den Briefen an Amann formulierten Gedankengänge fließt in die 1918 veröffentlichten „Gedanken eines Unpolitischen“ ein. Dieses von Mann später als „donquixotesque Verteidigung des Nationalismus und des deutschen Krieges“ bezeichnete Manifest einer im Nachkriegsdeutschland verbreiteten reaktionären, antidemokratischen Geistesströmung führt den vorläufigen Bruch zwischen den beiden Literaten herbei.

Es ist weniger die ihm bekannte Haltung Manns, die Amann erzürnt, sondern dass sich Mann einiger Passagen aus einem unveröffentlichten Manuskript Amanns bedient, ohne ihn beim Namen zu nennen. Überdies benutzt Mann genau jene geklauten Zitate, um gegen den von Amann verehrten Rolland, in seinen Augen Personifizierung des verhassten „Zivilisationsliteraten“, zu polemisieren. Erst 1935 nimmt Amann den Kontakt zu Mann wieder auf, doch die Korrespondenz erreicht nicht mehr die seinerzeitige Intensität, zu sehr haben sich die weltanschaulichen Standpunkte angenähert. Amann hat inzwischen sein Hauptwerk, „Tradition und Weltkrise“, veröffentlicht, eine ziemlich spekulative kultur- und menschheitsgeschichtliche Abhandlung, die von den nationalsozialistischen Behörden in Deutschland verboten wird. Mann wiederum hat sich längst von seiner damaligen Position distanziert und dem Faschismus den Kampf angesagt. Seit 1933 lebt er im Exil – ein Schicksal, das auch Amann ereilt.

Unmittelbar nach dem „Anschluss“ wird Amann aufgrund seiner jüdischen Abstammung zwangspensioniert. Knapp ein Jahr später gelingt ihm und seiner Familie die Ausreise nach Frankreich, 1941 schließlich die Flucht in die USA, wo er sich als College-Professor durchschlägt. Wie durch ein Wunder überstehen die Briefe den Krieg: Amann hatte sie seinem Freund Otto Brechler übergeben, dem Direktor der Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek. In dessen Hietzinger Wohnhaus überlebt dieses Stück Kulturgeschichte Bombenschäden und Plünderung der Wohnung durch russische Soldaten. Nach Brechlers Tod 1951 werden die Briefe entdeckt und an Amann in den USA zurückerstattet.

Im emigrantenfeindlichen Klima Nachkriegsösterreichs ist man weder an Amman selbst noch an Manns Briefen an ihn interessiert. Anders in Lübeck, Manns Heimatstadt: Die dortige Stadtbibliothek erwirbt die Briefe von Amann und veröffentlicht sie 1959. Die Publikation erlebt Paul Amann nicht mehr, er stirbt im Jahr davor 74-jährig in Connecticut. Sein Nachlass, der viel Unveröffentlichtes enthält, befindet sich im Leo Baeck Institute in New York. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2007)

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