Zweifel verboten?

Nein, ich bin nicht von der Erdölindustrie bezahlt. Ich nehme mir nur die Freiheit, in der Wissenschaft auf Exaktheit zu bestehen. Warum ich mich über die Klimawandel-Debatte ärgere: Korrekturen eines Klimaforschers.

Wir haben sie alle schon gesehen, die beeindruckenden Bildvergleiche von Alpengletschern aus der Anfangszeit der Freiluftfotografie im späten 19. Jahrhundert mit den kümmerlichen Resten des „ewigen Eises“ auf modernen Aufnahmen – eines Eises, das so ewig nicht mehr zu sein scheint. Wir bekommen sie in unzähligen Filmen vorgeführt, die mit Getöse abbrechenden Eismassen von ins Meer mündenden Gletschern Alaskas oder Patagoniens. Hunderttausende Kubikmeter Eis gehen bei einem derartigen Kalbungsvorgang offensichtlich verloren und lassen wieder einmal den Meeresspiegel ein Stück steigen.

Forscher vom Typ Abenteuerwissenschaftler – meist Franzosen – setzen noch eins drauf, indem sie mit Fallschirmen auf Eisbergen landen oder in Schmelzwasserrinnen grönländischer Gletscher eine polare Variante des auch bei uns immer beliebter werdenden Canyonings darbieten. Warum sie ausgerechnet die Fallschirmlandung als Mittel wählen, den Eisberg zu betreten, mag ein ganz klein wenig mit einem Schuss Show zu tun haben. Dass aber solche Abenteuer nur in selbstloser Absicht unternommen werden,um die Gefahren des Klimawandels zu verdeutlichen, darf wohl nicht bezweifelt werden.

Wenn dann noch im Fernsehen zur „Universum“-Zeit eine Eisbärenmutter mit zwei Kindern – meistens haben diese sogar Namen, damit wir uns mit ihnen besser identifizieren können – im nördlichen Eismeer schwimmt und weit und breit kein Eis zu sehen ist, dann, spätestens dann ist wohl dem letzten Zweifler klar, dass wir knapp vor einer Katastrophe stehen, die über die Menschheit gerade hereinbricht.

Warum eigentlich kommt bei mir ob all der öffentlichen Aufmerksamkeit für meine Wissenschaft keine rechte Freude auf? Ja schlimmer noch, warum ärgere ich mich zunehmend über den Zustand der öffentlichen Debatte über den Klimawandel? Was ist denn so schlecht daran, den Gletscherrückgang, das kalbende Polareis und die Eisbären dazu zu benützen, Betroffenheit zu erzeugen, um die Menschen zu einer Umkehr zu bewegen? Gehen die Gletscher denn nicht zurück, kalbt das Polareis denn nicht, ist es denn unwahr, dass die Eisbären zunehmend Schwierigkeiten bekommen, auf dem Packeis Robben zu killen?

Zweifellos sind alle drei Fragen mit Ja zu beantworten: Die Gletscher gehen seit mehr als 150 Jahren weltweit zurück, überall, wo Gletscherzungen ins Wasser münden, kalben sie mit Getöse, und die Eisflächen im nördlichen Polarmeer sind in den Sommern der vergangenen 30 Jahre um 9 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig erleben wir eine globale Erwärmung, an der wir durch das massive Verbrennen fossiler Energieträger (Erdöl, Erdgas, Kohle) selbst schuld sind. Diese Erwärmung betrug in den vergangenen 150 Jahren etwa ein Grad – ein Wert, den zwar ein Klimatologe in seiner Bedeutung versteht, den man der Allgemeinheit aber nur schwer als Problem näher bringen kann. Niemand hat in Wahrheit ein Sensorium dafür, einen globalen Temperaturanstieg von einem Grad in 150 Jahren wahrzunehmen. Was liegt also näher, als die Gletscher und die Eisbären zur Visualisierung des Klimawandels heranzuziehen? Warum bin ich Nörgler immer noch skeptisch, und warum schließe ich mich noch immer nicht so ohne Weiteres der Mehrheit der Klimaexperten an, von denen mancheschon vor Jahren gemeint haben: „Geforscht ist nun genug, der Fall ist klar! Nun ist es Zeit zu handeln!“ Bin ich vielleicht wirklich einer von diesen Climate Sceptics – eine Bezeichnung übrigens, die von einfacheren Gemütern gerne als Totschlagargument eingesetzt wird, wenn es bei ihnen für echte Argumentation nicht reicht.

Interessant, dass wir in der Klimadebatte schon so weit sind, Skeptizismus als etwas Negatives einzustufen – für mich ist er immer noch eines der Fundamente für wissenschaftlichen Fortschritt und einer der Hauptantriebe überhaupt, Wissenschaftler zu sein. Aber ich bin ja auch einer, der gerne Sätze mit mehr als fünf Worten schreibt, bei denen man sich konzentrieren sollte, wenn man sie liest.

Zurück zum Gletscherrückgang, einer der heiligsten heiligen Kühe des Klimawandelmarketings. Dieser Kuh habe ich selbst viel Futter gegeben. Seit jetzt schon mehr als 25 Jahren fotografiere ich im Herbst die Gletscher der Goldberg-Gruppe im Talhintergrund von Rauris. Vergleiche von historischen Aufnahmen mit meinen eigenen habe ich wiederholt dazu herangezogen, um den Gletscherrückgang zu illustrieren. Ich selbst bin immer wieder beeindruckt von seinem enormen Ausmaß, wenn ich etwa im leeren Gletscherbett des Kleinfleißkeeses stehe und 150 Höhenmeter über mir die Seitenmoräneder Gletscherzunge sehe, die vor 150 Jahren noch bis dort hinauf gereicht hat. Bevor man die Gletscher verstehen will, muss man über das Klima der Vergangenheit Bescheid wissen. Das ist kein simples Ablesen von Messdaten aus alten Manuskripten.

Um etwa eine Temperatur, die Franz von Zallinger im Jahr 1780 im Jesuitenkolleg in der Altstadt von Innsbruck von seinem Thermometer abgelesen hat, mit einer aus der modernen Messanlage des meteorologischen Instituts der Universität vergleichen zu können, muss viel echte Arbeit geleistet werden. Dieses Problem der Homogenisierung von Klimazeitreihen ist mit Fleiß und Köpfchen aber lösbar, und einige Gruppen haben weltweit diese Arbeit geleistet. Nur deshalb war es ja überhaupt erst möglich, die globale Erwärmung als reale Tatsache zu erkennen. Wir erinnern uns: Es geht um Änderungen von nur einem Grad pro Jahrhundert.

Wenn man dann die direkten Messdaten des Klimas mit indirekten Klimazeugen wie Baumringen, Eisbohrkernen oder historischen Dokumenten verbindet, kommt man mit der Rekonstruktion deutlich weiter zurück in die Vergangenheit. Dabei ergibt sich etwa für die vergangenen 10.000 Jahre in den Alpen das Bild eines zunächst warmen Abschnitts von mehreren tausend Jahren mit meist kleineren, sehr selten größeren Gletscherflächen als heute, dann eine langsame, aber ständige Abkühlung mit immer häufigeren Zeitabschnitten mit Gletschervorstößen. Das jüngste Jahrtausend begann zunächst mit einer Wärmeperiode im zehnten und zwölften Jahrhundert, die vergleichbar war mit dem Klima des 20. Jahrhunderts. Darauf folgte eine zunächst langsame Abkühlung, die zur sogenannten „Kleinen Eiszeit“ führte, die im frühen 17.und im 19. Jahrhundert die Alpengletscher zu ihrer größten Ausdehnung seit 8000 Jahren vorstoßen ließ. Die Moränen dieser 1620er-, 1820er- und 1850er-Vorstöße säumen noch jetzt die Vorländer der Gletscher. Der 1850er-Vorstoß ist als deutliche Vegetationsgrenze im Geländezu erkennen.

Mit warmen und trockenen Sommern in den1860er- und 1870er-Jahren begannen die Alpengletscher von diesemMaximalstand der jüngsten Jahrtausendeerstmals wieder zurückzuweichen. In den 1910er- und noch einmal in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde dieser Rückzug durch kleine Vorstöße unterbrochen. Im Jahr 1980 etwa befanden sich drei Viertel der Alpengletscher gerade in einem beginnenden Vorstoß. Erst nach 1980 begannen sie sich wieder stark zurückzuziehen, und zwar weltweit.

Es waren auch die 1980er-Jahre, in denen nach Einschätzung unserer Wissenschaft der menschliche Einfluss auf das globale Klima endgültig vergleichbar wurde mit all den natürlichen Gründen für Klimaschwankungen – und zwar über den schon oft beschriebenen Effekt der Treibhausgase, die wir in die Atmosphäre einbringen. Wahrscheinlich haben wir schon etwa ab den 1950er-Jahren merkbaren Einfluss auf das Klima genommen, als wir es durch ein enormes Wirtschaftswachstum auf der Basis schmutziger Technologien zustande gebracht haben, eine messbare Abkühlung zu erreichen. Für die Gletscher war das erholsam, für uns selbst höchst ungesund, und wir haben mit Erfolg viel investiert, die Atmosphäre von den Aerosolen und Partikeln zu befreien, die die Einstrahlung der Sonne verminderten. Übrig geblieben sind das Kohlendioxid und andere Gase, die die Wärmeausstrahlung vermindern und die wesentlich schwerer zu bekämpfen sind und sein werden.

Was ist nun also falsch an den Fotovergleichen der Gletscher? Schlicht und einfach ihre Benützung zur Verdeutlichung des menschlich verursachten Klimawandels. Sie zeigen natürlich den Einfluss des Klimas auf die Gletscher, der übrigens noch nicht völlig verstanden ist und etwas komplizierter abläuft, als das schlichte Denkmodell „Abschmelzen durch Erwärmung“. Aber was wir auf den Fotos sehen, ist zum weitaus überwiegenden Teil ein natürlicher Effekt, der zunächst über mehr als 100 Jahre lang lediglich einer Normalisierung nach dem anomal kalten Klimazustand der „Kleinen Eiszeit“ entsprach.

Zur Verdeutlichung des menschlich verursachten Klimawandels dürften nur Vergleiche von modernen Fotos mit solchen aus der Zeit um 1980 gezeigt werden. Diese sind natürlich weniger spektakulär und werden, da es ja offensichtlich hier weniger um Fakten als um Marketing des Klimawandels geht, kaum verwendet. Überzeugen Sie sich selbst davon, wenn Sie in Broschüren von „Greenpeace“ oder „Global 2000“, in „Geo“ oder „National Geographic“ auf die Bildpaare von Gletschern stoßen – das ältere der beiden Bilder wird immer aus einem Jahr deutlich früher als 1980 stammen.

Wenn Sie sich selbst einen Eindruck vom natürlichen und vom anthropogenen Gletscherrückgang machen wollen, wandern Sie doch zum Beispiel in Rauris auf dem Gletscherlehrpfad zum Goldbergkees: Mehr als 1000 Meter lang werden sie durch das „natürliche Rückzugsgebiet“ von 1850 bis 1980 gehen, etwa 200 Meter ist der letzte, der „anthropogene Teil“ – der allerdings wird von Jahr zu Jahr länger.

Was ist aber falsch an den Filmen der kalbenden Gletscher im Zusammenhang mit dem anthropogenen Klimawandel? Sie stören mich ganz besonders, da sie noch suggestiver arbeiten und noch falscher sind als die Fotovergleiche. Diese Filme zeigen gerade das Gegenteil von dem, was sie uns suggerieren. Sie suggerieren emotional Rückgang obwohl sie, rational gesehen, nichts anderes vorführen als einen natürlichen Vorgang an einer ins Wasser mündenden Gletscherzunge. Sie haben überhaupt nichts mit dem Rückgang der Eismassen in Zeiten des anthropogenen Klimawandels zu tun – im Gegenteil: Sie sind Zeichen von sehr aktiven Gletscherzungen, die mit hoher Dynamik meist in polare Ozeane münden. Bei Gletscherrückgang wird die Fließgeschwindigkeit des Eises geringer und der Kalbungsvorgang immer weniger beeindruckend. So viel in Kürze zur heiligen Kuh Nummer zwei.

Übrigens: Auch die im rapid abschmelzenden grönländischen Inlandeis plantschenden Kollegen aus Frankreich haben damit lediglich auf eine Tatsache hingewiesen, die wohl jeder von uns bereits in seiner Schulzeit gelernt hat: dass jeder Gletscher aus einem Nährgebiet und einem Zehrgebiet besteht. In seinen oberen Teilen häuft sich übers Jahr mehr Schnee an als abschmilzt (fortgeweht wird, durch Lawinen verloren geht), dieser verfestigt sich im Lauf der Zeit zu Eis, dieses gerät durch die Schwerkraft in langsames Fließen und damit in wärmere Umgebung. Hier, im Zehrgebiet, das etwa im riesigen Inlandeis Grönlands imponierende Ausmaße hat (und immer gehabt hat), gibt es dann all die reißenden Bäche, Gletschermühlen und hellblauen Schmelzwasserseen, in denen sich jede Menge Abenteuerforscher tummeln können – und das auf allen Gletschern, egal ob sie sich im Vorstoß oder im Rückzug befinden.

Mit der heiligen Kuh Nummer drei (paradoxerweise ist diese Kuh ein Eisbär) habe ich es leichter. Hier kann ich ein abgekürztes Verfahren wählen, das in der Wissenschaft ein allgemein anerkanntes ist. Man verbindet eigenes Fachwissen mit den in der Fachliteratur beschriebenen Ergebnissen von Kollegen und zieht daraus seine Schlüsse, die manchmal ins Neuland führen, manchmal (häufiger) Irrwege sind, die man besser wieder verlässt. In diesem Fall besteht mein eigener Beitrag aus der langjährigen Arbeit mit historischen Klimadaten. Aus der Fachliteratur habe ich eine ausgewählt, die mir wegen der dort detailliert und korrekt beschriebenen Vorgangsweise als nachvollziehbar und glaubwürdig erscheint: eine Studie zum Thema „Extending Greenland temperature records into the late 18th century“, verantwortet von Vinther, Andersen, Jones, Briffa und Cappelen und veröffentlicht im „Journal of Geophysical Research 111“. Sie wurde mir vor einigen Monaten von Phil Jones geschickt, übrigens einer der beiden Hauptautoren des Kapitels über das Klima der Vergangenheit im derzeit so häufig zitierten vierten Bericht des UN-Klimarats IPCC.

Auch er hat offensichtlich aus dem Temperaturverlauf der vergangenen 130 Jahre in Grönland seine Schlüsse über manche Vorurteile, das vergangene Klima in der Polarregion betreffend, gezogen, wie er mir schrieb: „Also attached a couple of papers for your train ride to Salzburg! Despite what you may hear it was warmer in Greenland in the 1930s and 1940s. Inuit memories of the past appear just as short as those elsewhere in the world.“

Es war also in Grönland in den 1930er-, 1940er- und auch noch in den 1950er-Jahren lange Zeit hindurch zumindest genauso warm wie heute. Mir drängt sich dabei neben dem von Phil angesprochenen schlechten Erinnerungsvermögen der alten Inuit (auch diese geistern oft mit sorgenvollem Blick durch Klimawandelfilme und beklagen das Ausbleiben ihrer Jagdgründe auf dem Eis) natürlich sofort die Frage auf, wie denn nun die Eisbären rund um Grönland damals mit diesen warmen 30 Jahren zurande gekommen sind. Leider gibt es ja aus dieser Zeit, vor Beginn unsere Satellitenmessungen, keine vergleichbaren Daten der polaren Eisbedeckung. Schade, sie wird wohl auch in diesem warmen Jahrhundert-Drittel recht gering gewesen sein. Können sich die alten Inuit aus Grönland vielleicht deswegen nicht an die vergangenen warmen Zeiten erinnern, weil sie relativ ruhig und ohne größere Hungerkatastrophen abliefen, wie sie so typisch für die Geschichte dieses Volkes sind, das am Rand der menschlichen Existenzmöglichkeit siedelt? Haben vielleicht auch die Eisbären diese Periode mit wenig Meereis problemlos überstanden?

Mein Über-Ich erinnert mich daran, dass es jetzt höchste Zeit ist, den nötigen Hinweis darauf zu geben, dass ich nicht von der Erdölindustrie bezahlt werde und in den vergangenen Jahren immer wieder brav die Grünen gewählt habe, dass ich nicht anzweifle, dass sich die untere Atmosphäre erwärmt und weiter erwärmen wird und dass ich sogar selbst zu dem Wissen darüber im Rahmen meiner Möglichkeiten beigetragen habe. Trotzdem nehme ich mir heraus, in der Wissenschaft auf Exaktheit zu bestehen, Zweifel immer zuzulassen, sie aber, genauso wie Übertreibungen im Dienste der guten Sache, nachzuprüfen und aufzuzeigen. Das Thema Klimawandel ist mir jedenfalls zu ernst, um es den Marketingstrategen von privaten Umweltorganisationen, von Kernkrafts- und Versicherungslobbyisten zu überlassen.

Nachsatz: Sollten Ihre religiösen Gefühle durch diesen Text gestört worden sein, tut es mir leid. Er ist ja ganz leicht zu widerlegen! Tun Sie das einfach, und Sie können wieder ruhig schlafen, im Bewusstsein, auf der richtigen Seite zu stehen. Sie können mich zum Beispiel als einen dieser unausgelasteten Wissenschaftler hinstellen, die ja immer ein Haar in der klaren Suppe der alleinigen Wahrheit finden und aus diesem kleinen Haar bekanntlich immer gleich einen Elefanten machen – oder eben einen Eisbären.

Sollte aber in Ihnen wirklich so etwas wie religiöse Gefühle beim Lesen erwacht und gestört worden sein, bitte ich Sie zu bedenken, dass es sich bei der Wissenschaft von Klima, von seinen Schwankungen und von unserem Einfluss darauf lediglich um eine ganz profane Naturwissenschaft handelt, weder um eine Weltanschauung noch um eine Religion. Damit bin ich wohl aus dem Schneider, oder?

Vielleicht, es sei gestanden, bin ich ein klein wenig einseitig, da im Zweifel immer auf der Seite des Schwächeren und somit für die Seehundebabys und gegen die, die sie umbringen. Auch gegen die Eisbären. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2007)

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