Wie weit sind 1000 Meter?

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Ein Jahr „Die Welt hinter Wien“, vier Jahre Leben in der Pressburger Vorstadt, einen Kilometer von der öster-reichischen Grenze entfernt: das Phantom Mitteleuropa – ein Abschied.

Im vierten Jahr meines slowakischen Exils bin ich so weit, dass ich mich nur noch bei Zeno Zenuni behaglich fühle. Zeno Zenuni ist der Inhaber eines zwischen Plattenbauten gelegenen Vorstadt-Cafés, ein älterer Herr von einfacher Eleganz. Er sieht fremdländisch aus und spricht sein Slowakisch mit einem fremdartigen Akzent. Im Normalfall spricht er gar nicht; nur wenn das Thema von Gewicht und einer seiner gestandenen Kumpane zu Gast ist, erhebt der Cafetier seine dunkel schnurrende Stimme. Was mich angeht, fühle ich mich in diesem halbgläsernen Pavillon auch deshalb so wohl, weil Zeno Zenuni mit mir nicht spricht.

Ich schränke ein, dass mein Leben in der Pressburger Vorstadt, einen Kilometer von der österreichischen Grenze, das große Prädikat Exil nicht verdient. Ich bin freiwillig hinter die March gezogen, komme jederzeit und innerhalb einer Stunde nach Wien, bin den Freunden und den Nachrichten der Heimat nahe. Dennoch scheint es für das menschliche Bewusstsein keine Kleinigkeit zu sein, wenn das Bett, der "Lidl", der Zahnarzt und das Finanzamt auf dem Territorium eines fremden Staates sitzen.

Wahre Exilanten zitieren gern den Spruch des mittelalterlichen Mönchs Hugo von St.Victor, mit dessen Hilfe ich mich überprüfen will: "Wer sein Heimatland liebt, ist noch ein zarter Anfänger; derjenige, dem jeder Fleck Erde so viel gilt wie der, auf dem er selbst geboren wurde, hat es schon weit gebracht; reif ist aber erst der, dem die ganze Welt zu einem fremden Ort geworden ist." Ich bin längst nicht in die Phase der letzten Reife eingetreten, doch wird das Streben nach vollständigem Befremden von meiner Vorstadt unterstützt.

Zum Beispiel die Alarmanlagen. Zwei Drittel aller slowakischen Kredite werden in der Pressburger Region vergeben, die Kreditsumme steigt jährlich um 40 Prozent, die Angst der Neubesitzer schallt vielstimmig durch die Nacht. Die eingesetzen Anlagen reichen vom kecken Kurzalarm über den halbstündig heulenden Klassiker bis zu den hysterischen Medleys, die im Vier-Sekunden-Takt den Warnton wechseln. Es schlagen nicht nur die Autos ohne Ursache los, auch die neuen giftgrün und stechgelb gestrichenen Villen und die Fassade der KFZ-Werkstatt stimmen ein. Dazwischen hauen sich die Halbstarken, für deren Eltern die Plattenbau-Siedlung in den Achtzigern errichtet wurden, quietschend in die Kurve.
Zum Beispiel das Haus, in dem ich wohne. Der achtstöckige Neubau beherbergt im Erdgeschoß Läden und Lokale. Typisch für die Boomtown Pressburg, hat hier nichts Tradition. Alles unterliegt einem fortwährenden Experiment, an dessen ungeduldig erwartetem Ende die gastronomische Utopie einer Verschmelzung aller menschlichen Bedürfnisse steht.
s-6;0Als in meinem Haus die erste "Café-Palatschinkeria" der Stadt entstand, war das zunächst eine Bar mit vorgelagerter Sofalandschaft, ausgerichtet auf einen Großbildschirm zum Eishockey-Schauen, und einem separaten Speisesaal. Nach kurzer Zeit wurden die Sofas herausgerissen, der Speisesaal nahm das ganze Lokal ein, und der Großbildschirm machte einem Holzofen-Schaubacken-Aufbau Platz. Vielleicht hat der irre Blick des Pizzabäckers die Gäste verstört, jedenfalls ist das Adventure-Cooking schon wieder abgeräumt. Mit dem Verkaufsraum daneben geht es ähnlich: Das Textilgeschäft wich einem Kino-Café, das Kino-Café wich einer Sprachschule, die Sprachschule wich einem Kleinmöbel-Geschäft. Natürlich ist das alles nicht schlimm. Auch die Spielautomaten sind nicht schlimm, der Schnellsprech des allgegenwärtigen Radioprogramms, die Camouflage-Mode und der Burschikos-Auftritt von Jungs und Mädels, die Farbverbrechen der slowakischen Architekten - und dass man mir demnächst ein Hochhaus vor die Nase stellt. Schlimm ist das alles nicht.

Im vierten Jahr meines slowakischen Exils stelle ich nur fest, dass ich an Zeno Zenunis halb gläsernem Café nicht mehr vorbeigehen kann, ohne dass es mich mit Macht hineinzieht. Es ist der einzige Punkt der Vorstadt, an dem sich nichts ändert. Dass die Kellnerinnen häufig wechseln, steht dazu nicht in Widerspruch, denn die Aura verströmt der Chef.
Zeno Zenuni ist immer im Café, sieben Tage die Woche, oft schon am frühen Morgen. Das Eis, für welches die Vorstadt an heißen Sommertagen Schlange steht, macht er selbst. Im Winter ist das Café oft leer.
Zeno Zenuni hat zwei Tageszeitungen aufliegen, die er selber gründlich liest, das Klatschblatt "Nový ?as" und die linksliberale "Pravda". Lange bin ich durch den Pressburger Großraum geirrt, auf der Suche nach einem Ort, an dem ich unbehelligt lesen kann. Bei Zeno Zenuni habe ich ihn gefunden.

Die Kellnerin macht mir einen "Presso" mit Milch, wahlweise nehme ich eine Punschschnitte oder Sacher. Ich lese auf meinem Platz, meistens liest auch der Cafetier auf seinem Platz. Er spricht nicht, ich spreche nicht, es ist die absolute Stabilität.
Ich unterdrücke die Neugier des Schreibenden und erkundige mich nicht über ihn. Ich weiß nicht, woher er gekommen ist. Von weit her, stelle ich mir vor, viel weiter als ich. In seinem Café sitzend, unter den grün in die Vorstadtnacht hinausleuchtenden Neon-Bögen, die zwei mal drei Gupfe Eis darstellen, mühe ich mich mit einem konfusen Gedanken ab.

Mit einem Gedanken von der Art, dass mir die Fremde bei ihm, dem einerseits absolut Fremden und andererseits in seinem Café absolut Beheimateten, so klar entgegentritt, dass es sich wie eine neue Kategorie von Zuhause anfühlt. Ob der mittelalterliche Mönch an einen solchen Zustand gedacht haben kann?
Genauer weiß ich nicht zu benennen, was mir im vierten Jahr meines slowakischen Exils als eine Zuflucht erscheint - und als ein Endpunkt zugleich.
Vor einem Jahr bin ich losgezogen, um für das "Spectrum" die Serie "Die Welt hinter Wien" zu beginnen. Es wurde ein Jahreszyklus daraus, beinahe 50 kleine Texte über Wiens nahen Osten, über den mitteleuropäischen Zentralraum zwischen Alpen und Karpaten, irgendwo um die Achsen Wien und Pressburg, Györ und Brünn herum.
Ich bin jede Woche an einen anderen Ort gegangen und in eine andere Sphäre getaucht, in Shoppingcenters und Roma-Slums, in Business-Towers und Dorfwirtshäuser, in Stauseen, Wohnstuben, Grenzorte, Puff-Hütten und Verkäufer-Seminare, in schwule Pferdefarmen und hussitische Messen. Heute ziehe ich Bilanz.

Freilich, ich könnte noch allerhand von der Art erzählen, was man landläufig eine hübsche Geschichte nennt. So bin ich zu meinem Bedauern nicht dazu gekommen, über ungarische Skipisten zu schreiben - der vergangene Winter war zu warm.

Als ich mich im Grenzstädtchen Hainburg an den ethnischen Verstrickungen zwischen Österreichern, Türken und Slowaken abgearbeitet habe, hätte ich liebend gern noch von Richardette berichtet, der jungen schwarzen Wirtin des Hainburger Donau-Cafés. Nachdem ich nur wenige Minuten ihrem karibischen Feuer ausgesetzt gewesen war, erschien mir das ganze österreichisch-türkisch-slowakische Problemknäuel schon nicht mehr der Rede wert - die physiognomischen Unterschiede läppisch, die Mentalität insgesamt dieselbe, ähnlich verhalten das Temperament.

Auch über den Pressburger Anfang 50 konnte ich nicht mehr schreiben, der sich als verbliebener Angehöriger der deutschsprachigen Minderheit erwies. Der Dialekt, den er sprach, hätte jedem Wiener Bierkutscher zur Ehre gereicht, und weil er wusste, wie gut er war, hatte er einen Nebenerwerb daraus gemacht - in einem mir bis dahin ganz unbekannten Berufsbild, "Dolmetscher Wienerisch-Slowakisch".
In dieser Art könnte ich weitererzählen und immer weitere Anekdoten aus jener kleinteiligen mitteleuropäischen Region ziehen, die sich auf vier Staaten und Staatssprachen verteilt und die ich notdürftig "die Gegend" nenne.

Am Tag der Bilanz muss ich aber eingestehen, dass ich zu einigen der wesentlichen Fragen kaum vorgestoßen bin. Fragen, die sich auf den ersten Blick abstrakt ausnehmen, die sich nicht an einen einzelnen Ort oder einen einzelnen Menschen knüpfen, unangenehme Fragen. In dem Jahr, das ich der Erforschung der Gegend gewidmet habe, habe ich einige Menschen kennengelernt, die etwas für die Gegend tun, Vermittler, Brückenbauer, Enthusiasten der Völkerverständigung. In solcher Gesellschaft kann man leicht romantisch werden, doch bewahren einen davor Veranstaltungen wie jene, die mich zum Thema "Twin-City" Wien-Pressburg ins Pressburger Rathaus führte.

Hunderte Mittelschüler aus Wien und Pressburg wurden herangekarrt, die meisten zwischen 16 und 18 Jahre alt. Als die feindselige Lethargie der Wiener Saalhälfte langsam nach Skandal roch, übermannte den Moderator der Mut der Verzweiflung, und er rief den Wiener Schülern eine geradezu märchenhaft entgegenkommende Frage zu: "Angenommen, man bietet euch euren Traumjob an und der Job ist supergut bezahlt, nur müsstet ihr dafür nach Pressburg ziehen - würdet ihr das tun?"

Eine Weile tat sich gar nichts, die Hunderten Angesprochenen saßen ungerührt da, dann gingen irgendwo hinten - ein wenig so, als ob sie sich eigentlich kratzen wollten - zwei, drei Wiener Hände hoch. - Dass Mitteleuropa ein Phantom ist, dem kein Gefühl entspricht, lässt sich jedes Jahr bei der Punktevergabe des "Eurovision Song Contest" beobachten - neben der Musik bekanntlich ein Referendum über Sympathien zwischen Europas Völkern. Die Skandinavier statten einander seit Jahrzehnten mit Höchstpunkten aus, die Völker des Westbalkans, eben noch im Kriegszustand, voten sich gegenseitig ins Spitzenfeld. Aber hätte man je davon gehört, dass einander Österreicher, Tschechen, Ungarn etwas schenken?

Im vierten Jahr meines slowakischen Exils behaupte ich, dass mein Bild von Österreich so ausgewogen ist wie nie zuvor. Ungeahnt neutral und analytisch, habe ich erstmals das Ergebnis einer Nationalratswahl vorhergesagt. Das waren nicht viele, füge ich rechthaberisch hinzu, die Gusenbauer im Kanzleramt sahen.

Auf manche rotweißrote Frontlinie blicke ich inzwischen mit müder Milde: Dort gilt einer als neoliberal, dessen Steuersystem links der March nicht einmal die außerparlamentarischen Kommunisten fordern. Erst aus der Nachbarschaft fällt mir auf, wie viel in Österreich außer Streit steht, was alles einem stillschweigenden Konsens unterliegt, wie breit und träg und gutmütig der Strom der öffentlichen Meinung fließt.
An durchschnittlichen Tagen meine ich, dass der eine Kilometer Abstand nach Österreich gereicht hat, um einen gesunden, gesetzten, unaufgeregten Patriotismus in mir auszubilden. An gewissen Tagen erscheint mir mein Land wiederum unzugänglich fremd.
Nachdem die Republik Österreich eine ganze Generation von Präsenzdienern an der Schengen-Grenze patrouillieren ließ, wollen die Minister und Landeshauptleute nun auch 2008, nach dem Verschwinden der Grenze, das Bundesheer dort platzieren. 2000 Rekruten, die mitten durch den Schengen-Raum spazieren - außerhalb Österreichs versteht das niemand. Die östlichen Nachbarn, welche ihre Ostgrenzen mit Gewalt aufgerüstet haben, sind beleidigt. Was halten die Österreicher von dem Vorhaben? Ich fürchte, sie finden es beruhigend. In meinem vierten slowakischen Jahr drängt sich mir der Gedanke auf, dass in der österreichischen Brust zwei widerstreitende Herzen schlagen: das starke einer Kolonialmacht und das zitternde einer bedrohten Nation.

Als eine Garde österreichischer Wirtschaftsführer nach 1990 aus den unbedeutenden Unternehmen einer kleinen Volkswirtschaft mitteleuropäische Konzerne formte, haben sie Österreich zu einem neuen Land gemacht - und das Land tut, als hätte es nichts davon bemerkt. Die Mutter aus westösterreichischem Beamtenadel, die ihr Kind im Parndorfer Shoppingpark fest umschlossen hält, "weil ja bekannt ist, dass die Slowaken immer wieder Kinder entführen" - sie bewohnt ein anderes Land.

Und dahinter, hinter dem Machtgefälle der Gegend, lauert die eine Frage, welche beide Seiten tunlichst umschiffen, mit Ignoranz, Höflichkeiten oder indem wir die Ähnlichkeit unserer kulinarischen Leckerbissen bis in die Lehnworte hinein beschwören.
Das ist die Kluft: Der Österreicher, ob er will oder nicht, betritt ein Land wie die Slowakei als Kolonisierer. Selbst wenn er nicht kolonisieren will, macht ihn seine Kaufkraft dazu, und wenn es ihm an der Kaufkraft gebricht, nimmt ihn das Gegenüber dennoch als Kolonisierer wahr - mit dem Bewusstsein eines Kolonisierten.

Die Slowakei hat mich herzlich aufgenommen, aber auch ich - mangels Besitz ein kolonialer Totalausfall - verspüre in der Slowakei gelegentlich die Kluft. Allein weil sie keine Deutschen sind, meinen die Österreicher, sie seien auf der ganzen Welt beliebt. Mittlere Slowakischkenntnisse belehren eines Besseren - mindestens für hochnäsig werden wir gehalten.
Die wenigen Slowakinnen und Slowaken, die Texte aus der Serie "Die Welt hinter Wien" gelesen haben, haben denn auch ganz anders als das österreichische Publikum reagiert. Was ich als freundliche Annäherung verfasst habe, haben die meisten stumm, irritiert oder verstimmt aufgenommen - als würde der Ausländer ihr Land von oben herab beschreiben.

Im vierten Jahr meines slowakischen Exils kneife ich manchmal die Augen zu und stelle mir ein großes Waswärewenn vor. Was wäre, wenn die Slowakei und Österreich wirtschaftlich auf gleicher Augenhöhe stünden? Wenn die Löhne gleich wären, die Preise gleich, wenn die slowakischen Banken und Versicherungen in slowakischer Hand wären? Wenn die einen nicht wegen der billigeren Gebrauchtwagen nach Westen zögen, die anderen nicht wegen der billigeren Restaurants nach Osten?

Ich sehe mich als einen fröhlichen Menschen, beglückt von all den Mythen, Differenzen, Begegnungen, die mir in diesem Winkel Europas widerfahren sind. Aber wenn ich mir dieses Waswärewenn ganz fest vorstelle, wird mir schummrig, und ich blicke in ein tiefes schwarzes Loch. Wenn auf der anderen Seite kein Vorteil mehr zu holen wäre - hätten die Völkchen der Gegend dann überhaupt noch miteinander zu tun?
Derweil sitze ich bei Zeno Zenuni und fürchte schon die trüben Tage, wenn er das Café wieder für Wochen schließt. Und wenn er gar nicht mehr aufsperrt? Danach sieht es zum Glück nicht aus, seit Kurzem hat auch er einen Flachbildschirm montiert.
So sitze ich im Café, lese eine slowakische Zeitung oder ein deutsches Buch und verhalte mich still. Ob der mittelalterliche Mönch mit meiner Fremdheit zufrieden wäre - wer weiß.

Manchmal spricht mich der Sohn des Cafetiers an und probiert eine deutsche Phrase an mir aus. Das ist mir peinlich, und darum habe ich ihm einmal eine Dummheit erwidert, einen Schlachtruf der slowakischen Nationalisten: "Na slovensku po slovensky!" Das österreichische Gegenstück würde lauten: "Bei uns wird deitsch gredt!"
Zeno Zenuni muss das gehört haben, denn ein paar Tage später hat er etwas Freundliches zu mir gesagt. Er zu mir, einen ganzen Satz! Ich bin zutiefst erschrocken und verstand kein Wort. Es ist wenige Wochen her, ich muss die Situation erst verarbeiten. Wenn das aber in dem Tempo weitergeht, fechten wir gegen 2020 den ersten Wortwechsel aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.10.2007)

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