Wenn der Schmock stejt

„Freud war in Bezug auf die Sexualität der Frau sehr ignorant. Er hat vermutlich meine Bücher nicht gelesen!“ Die Sexualtherapeutin Ruth Westheimer über Orgasmen und andere Liebesprobleme, über Israel und ihren letzten Lebenstraum.

Ein Meter 40 konzentrierter Sex: So beschreibt sich Dr. Ruth Westheimer – in Anspielung auf ihre Körpergröße – gern selbst. Sie ist die wohl bekannteste Sexualtherapeutin der USA, stammt aus einem sehr orthodoxen Elternhaus in Frankfurt, ist die einzige Überlebende ihrer Familie. Sie hat 32 Bücher geschrieben – ihr neuestes hat sie kürzlich auf Deutsch bei der Frankfurter Buchmesse vorgestellt.


Ruth Westheimer, als Sie vor 30 Jahren begonnen haben, waren Sie ein Pionier. Heute spricht man in jeder Talkshow über Sex, in jeder zweiten Fernsehserie dreht sich alles darum, Stichwort : Sex and the City. Ist das Thema schon ausgereizt?

Nein, auf keinen Fall. Schauen Sie, ich komme gerade von einer meiner wöchentlichen Fernsehsendungen, „Retirement Living“, für Leute über 50, da gebe ich Tipps, gleichzeitig habe ich ein Programm auf MTV. Es stimmt, dass man offener über Sex spricht, man weiß heute mehr über den Körper, es gibt viel mehr Studien zu dem Thema. Aber man braucht noch immer genauso viele Sexualtherapeuten wie damals. Dennoch haben wir viel erreicht. Auf dem Weg zum Interview mit Ihnen hat mich eine Frau angesprochen und sich bei mir bedankt, dass sie durch meine Radiosendung ein viel besseres Sexleben hat. Das Thema ist zwar jetzt überall präsent, mir wird es aber noch immer nicht langweilig. Bei mir merkt man sofort, ob ich mit Leib und Seele dabei bin oder nicht. Seit vier Jahren unterrichte ich in Princeton zum Thema „Die jüdische Familie“, in Yale unterrichte ich sogar gemeinsam mit einem Rabbiner.

Haben jüdische Paare andere Probleme als nichtjüdische?

Nein, keine anderen Probleme, aber die religiösen Juden haben andere Gebräuche. Denken Sie an die Gesetze der Reinheit. Fast zwei Wochen Enthaltsamkeit! Wenn Sie sich wirklich gerne haben, dann müssen Sie ja danach Lust auf Sex haben. Immer wieder werde ich gefragt, ob religiöse Juden besseren Sex haben. Meine Antwort ist: Wenn die Verbindung beim Paar eine gute ist, dann klappt auch das wunderbar. Die Probleme von jüdischen Müttern sind die gleichen wie die von italienischen Müttern oder wem auch immer. Aber es ist wichtig, dass jemand, der die Gesetze kennt, darüber spricht. Ich bin nicht orthodox, aber sehr jüdisch. Mein Buch „Heavenly Sex“ beschreibt all das.

Wie sind Sie denn auf diesen Titel gekommen: Himmlischer Sex?

Weil Sex einfach himmlisch ist und im Judentum Sex auch von „oben“ genehmigt ist. Spaß beiseite, in der jüdischen Tradition war Sex nie etwas Verbotenes, im Gegenteil! Jeder Mann muss seine Frau befriedigen.

Die Offenheit heute, dass man ständig mit Sex konfrontiert ist, wird von vielen kritisiert, auch von orthodoxen Rabbinern.

Ich diskutiere nicht mit Orthodoxen – nächste Frage.

Es gibt einen Spruch auf Jiddisch, der heißt: Wenn der Schmock stejt . . .

Sehr richtig. Unsere Weisen haben gesagt, wenn der Penis erigiert ist, dann fliegt das Gehirn aus dem Kopf. Dann wird man blind und vergisst die Realität, das muss man wissen. Das stimmt. Das gilt aber auch für Frauen, wenn sie erregt sind. Die sexuelle Erregung ist ein sehr starkes Gefühl. Freud war in Bezug auf die Sexualität der Frau sehr ignorant. Er hat vermutlich meine Bücher nicht gelesen! Freud war zwar ein Genie, aber über die weibliche Sexualität hatte er keine Ahnung. In diesem Punkt hat er wirklich Unrecht.

Sex wird ja heute förmlich zerredet. Nimmt das den jungen Menschen nicht den Zauber?

Ein bisschen von dem mystischen Zauber ist sicher weg. Andererseits haben wir weniger ungewollte Schwangerschaften, wir haben ein Bewusstsein, dass man sich vor Geschlechtskrankheiten oder Aids schützen muss. Es gibt weniger Frauen mit Orgasmusproblemen, das muss man auch auf die Waagschale legen. Sex sells, Sex verkauft sich – Sie haben vorhin „Sex and the City“ angesprochen. Ich habe mir sofort den Sender einstellen lassen, auf dem die Serie gelaufen ist. Denn da hätte ja etwas gesagt werden können, was ich nicht weiß. Die Sprache ist wirklich außergewöhnlich explizit. Aber man muss den jungen Menschen sagen: Achtung, das ist nicht die Realität, die schaut ganz anders aus. Auf der ganzen Welt finden Sie sicher nicht einmal 20 Männer, die mit einer Frau nach Paris fliegen, nur um ihr dort einen Pelzmantel zu kaufen. Trotz all dieser Serien gibt es noch immer Eltern, die mit ihren Kindern nicht über Sex reden, sie nicht aufklären. Es gibt heute in den USA noch viele Mädchen, die von der ersten Menstruation überrascht werden und nicht wissen, was das ist. Daher muss man weiterhin sexuell erziehen.

Frauen kleiden sich heute viel offener, sie zeigen alles.

Ich bin keine Frauenrechtlerin, ich bin nur an der Familie interessiert. Es ist traurig, dass viele Frauen keine Kinder mehr haben wollen. Ich weiß, dass beides geht, Kinder und Beruf. Ich bin sehr besorgt darüber, wie die jungen Frauen sich anziehen, halb nackt. Mir kann keiner erzählen, dass die Männer dadurch nicht erregt werden. Die jungen Frauen bringen sich und andere damit in Gefahr. Am Strand oder im Schwimmbad, da passt diese Kleidung. Aber in der Stadt? Da haben die Eltern die Verpflichtung, den Mädchen zu sagen: So gehst du nicht weg. Eltern müssen eine Meinung zeigen. Aber ich bin Optimist, ich denke, dass das nur eine Modeerscheinung ist.

So viele Ehen scheitern, warum?

Ich bin nicht gegen Scheidungen. Im Judentum gibt es den Get. Scheidung ist erlaubt. Ich bin auch nicht dafür, dass Paare wegen der Kinder zusammenbleiben. Das spüren die Kinder. Man muss eine Trennung so abwickeln, dass die Kinder nicht verletzt werden. Ich glaube aber, dass es in Zukunft weniger Scheidungen geben wird, denn die Leute erkennen, dass das Gras beim Nachbarn auch nicht grüner ist. Ich bin ein unerschütterlicher Optimist, jammern hilft nichts.

Wie geht es Ihnen denn, wenn Sie die ganze Zeit über Sex reden?

Das geht Sie gar nichts an, nächste Frage.

Nach all dem, was Sie erlebt haben, welche Herausforderungen gibt es für Sie?

Jeden Sommer fahre ich für vier Wochen nach Israel und mache einen Dokumentarfilm, der nichts mit Sex, aber auch nichts mit Judentum zu tun hat – über Juden macht ohnedies jeder Filme und Dokumentationen. Heuer habe ich einen Film über das Leben der Drusen gemacht, davor einen Film über das Leben der Beduinenfrauen. Ich will nicht immer nur über Sex reden.

Sie haben die Staatsgründung in Israel erlebt, sind im Unabhängigkeitskrieg verletzt worden. Wie sehen Sie Israel heute?

Ich bin glücklich, wenn ich dort bin, ich sehe nur das Positive. Ich finde es nicht gut, wenn Leute in Amerika sitzen und von hier aus die israelische Politik kritisieren. Wer kritisieren will, soll nach Israel ziehen, dann hat er das Recht dazu. Voriges Jahr war ich in Haifa, gerade als die Hisbollah angegriffen hat, da bin ich mit den Menschen im Bunker gesessen. Wenn man das erlebt, dann darf man über die Politik der israelischen Regierung mitreden, sonst nicht.

Wie beurteilen Sie die Kritik an der jüdischen Lobby in den USA?

Darüber spreche ich nicht, ich bin vorsichtig geworden. Es geht mich etwas an, und ich höre mir das alles auch an, aber ich kommentiere es nicht öffentlich, das sollen andere tun. Der Sommer heuer in Israel war für mich fantastisch. Ich habe wunderbare Dinge erlebt. Schauen Sie, diese Kette habe ich von der Mutter eines Beduinenscheichs. Er hat mir sehr gefallen, ich habe ihn gefragt, ob er mich heiraten möchte. Ich war ihm aber zu alt. Als Entschädigung hat mir seine Mutter die Kette geschenkt.

Wie erleben Sie Deutschland? Sie sind die einzige in Ihrer Familie, die nicht von den Nazis umgebracht wurde.

Ich bin zwar jedes Jahr in Frankfurt, das ist die Stadt, in der ich geboren wurde und bis 1938 gelebt habe, aber es ist sehr schwierig für mich, dort zu sein. Mit den Deutschen habe ich keine Probleme. Ich gehe auf den Friedhof und besuche das Grab der Eltern meines verstorbenen Mannes, meine Eltern haben ja kein Grab... Frankfurt ist für mich schwierig.

Haben Sie noch Erinnerungen an Ihre Kindheit in Deutschland?

In Frankfurt kommen viele Erinnerungen in mir hoch. Mein Enkel hat mich beobachtet. Er sagt, dort sieht man in meinen Augen die Traurigkeit.

Sie haben in fünf Ländern sehr intensiv gelebt, in Deutschland, der Schweiz, in Israel, in Frankreich und schließlich in den USA. Sie sprechen die Sprachen, Ihre Karriere hätten Sie aber nur in den USA machen können.

Ja, das stimmt, New York ist eine großzügige Stadt. Und überhaupt: Als Einwanderer hat man keine Probleme, wenn man einen so starken Akzent hat wie ich, denken Sie nur an Henry Kissinger oder Arnold Schwarzenegger. Dass ich mit meinem Akzent eine eigene Radioshow bei NBC bekommen habe, die im ganzen Land und in Kanada ausgestrahlt worden ist, das wäre in keinem anderen Land der Welt möglich gewesen, auch nicht in Israel.

In die USA sind Sie ja eigentlich durch einen Zufall gekommen.

Ja, ich habe herausgefunden, dass ein Onkel von mir überlebt hat, ich wollte ihn besuchen, weil ich neugierig war, ob er auch so klein ist wie ich. Sonst wäre ich nie nach Amerika gekommen. Aber ich hätte ohnedies nicht in Frankreich leben wollen. In der Schweiz konnte ich nicht bleiben, aber die Schweiz hat mir das Leben gerettet, ob man mich dort wollte oder nicht.

Nach all dem, was Sie erlebt haben, woher kommt Ihr Lebensmut?

Vielleicht auch daher, dass ich mich immer mit dem Thema Familie befasst habe. Wie Sie wissen, sind die ersten Jahre der Kindheit enorm wichtig. Ich hatte das Glück, zehneinhalb Jahre mit liebenden Eltern und einer Großmutter aufwachsen zu dürfen. Meine Großmutter in Frankfurt war nur für mich da. Sie war sehr gläubig und eine Frau mit unheimlich viel Humor. Sie hatte einen enormen Einfluss auf mein Leben

Haben Sie noch einen Lebenstraum?

Ich hätte gern wieder einen Partner. Er
muss unbedingt auch arbeiten, reich braucht er nicht zu sein, Geld habe ja ich genug. Aber er muss unbedingt etwas tun – einfach herumsitzen und Golf spielen, das ist zu wenig. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.12.2007)

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