Durch Markt und Pein

Hauptsache, sie schreiben über dich? Über Kulturbetrieb, Kritik und Selbstkritik und warum man nicht von jedem gelobt werden möchte.

Natürlich ist der aktuelle Zustand des sogenannten Kulturbetriebes, und also auch der der Kritik, sehr wichtig für den Künstler. Ich glaube, dass wir bis heute mit den Folgen und den Verheerungen der Hitlerei und der Shoah zu kämpfen haben.

In seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von gestern“ beschreibt Stefan Zweig die Situation vor dem Ersten Weltkrieg und in den zwanziger, dreißiger Jahren. Man kann daran leicht ermessen, was alles zerstört wurde.

Auch die Überlegung von Karl Kraus, dass, wird auch nur eine einzige Annonce im redaktionellen Teil einer Zeitung eingerückt, die übrigen Artikel ebenfalls zu Annoncen werden, trifft, wenn auch weitgehend vergessen, nach wie vor zu.

Die Wiederaufbau-Zeit, im Verein mit der uns von den Nationalsozialisten hinterlassenen Verkleinbürgerung, waren kein Nährboden für Kritik und kritisches Denken. Vielmehr war dem verordneten und vielfach auch internalisierten Optimismus – der Optimismus-Seuche, wie es Gerhard Amanshauser gelegentlich im Gespräch genannt hat – alles Kritische nur Sand im Getriebe, Defätismus und Miesmacherei. Der Topos Nestbeschmutzung hat dann bis in die neunziger Jahre herauf, dann allerdings bereits in Monopolverwaltung einer einzigen und bestimmten Partei stehend, als Hintergrundsmetapher das Seine geleistet, jeden kritischen Ansatz zu desavouieren. Den Jägern der „Nestbeschmutzer“ haftete spätestens mit dem Aufkommen neoliberalistischer Smartheit, Coolness und Flexibilität dann schon unübersehbar der Geruch und Mief des Vorgestrigen an.

Man kann sagen, dass sich auf Geistfeindlichkeit und die Ächtung kritischen Denkens, wie sie für die Nachkriegszeit typisch waren, nach der kurzen Zeit der gern als „golden“ gesehenen Kreisky-Jahre, mit dem Abbröckeln der Linken und dem zuerst ganz aufs Fundamentalistische ausgerichteten – und also nicht gerade kulturfreundlichen – Ansatz der Grünen, ungeniert neoliberalistisches Gedankengut draufsetzen und rasch ausbreiten konnte, dem an erster Stelle der Markt kommt, und an letzter Stelle oft auch noch.

Gerade jetzt scheint ja hierzulande – aber auch anderswo in Europa – eine Rückbesinnung auf sozialstaatliche Vorstellungen stattzufinden. Man wird sehen, ob das nur saisonale Früchte von Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung sind, ob eine Eintiefung ins Selbstverständliche und damit Haltbarere folgen wird – und welche Auswirkungen dies wiederum für die, ja, nennen wir es so, Strukturen des geistigen Lebens haben wird.

Eine Anmerkung noch zu den Kreisky-Jahren: Neben der Brechung des bürgerlichen Bildungsmonopols waren es vor allem die Brodaschen Reformen in der Justiz, die sich darum gruppierenden Reformen im Psychiatrie-Bereich,
die daran anschließende und daraus erfolgende Akzeptanz des sogenannten Seelischen im Menschen, die die größte Auswirkung auf die Gesellschaft hatten.

Ich führe dies alles zwar so knapp wie möglich, aber doch umfassend aus, weil ich nicht glaube, dass es in einer geistfeindlichen und jeder Veränderung abholden Gesellschaft möglich ist, einen über Bagatellen und Kinkerlitzchen hinausgehenden kritischen Diskurs zu führen.

Was aktuell, wie ich oben ausführte, hinzutritt, ist die vom Markt her implementierte – und von ihm, vom Markt her, gesehen – auch sinnvolle Einführung und Prägung von Marken.

Das fängt bei Coca Cola an und hört bei Thomas Bernhard auf. Was der Markt will, und also auch der Markt der Bücher, ist ja nicht eine an Werten orientierte, kritische Debatte. Er will die reibungslose Wiederholung des immer Gleichen – freilich in einer jeweils neu aufgeführten und solcherart Lebendigkeit vortäuschenden, werbewirksamen Inszenierung.
Ich will für jetzt einmal von den situativen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Makro-Mustern absehen und mich auf den schöpferischen Menschen in seiner Individualität konzentrieren.

Der Trick meines Überlegens wird darin bestehen, die machtmäßige Verflechtungen mit den Medien und also auch der in ihnen platzgreifenden Kritik, wie sie von Journalisten praktiziert wird, vorerst einmal beiseite zu lassen.

Ich weiß, dass dies eine radikale Prämisse ist, weiß auch, dass es ja durchaus vorstellbar ist und auch vorkommt, gerade auf den verödeten Feldern dieser Landstriche Früchte zu ziehen – und manchmal sind es nicht einmal die schlechtesten. – Das aber sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen.

Was ist nun die Regel? – Von den vielen Kritiken, die etwa ich im Lauf meines Schriftstellerlebens in Zeitungen etc. bekommen habe, sind es nur ganz wenige gewesen, die bei mir etwas bewirkt oder ausgelöst haben.

Hauptsache, sie schreiben überhaupt! sagte ein in der Betrieblichkeit zynisch gewordener, freilich sich selber als abgebrüht und also clever einschätzender alter Verleger, vor vielen Jahren schon, einmal zu mir.
Poesie des Körpers – diese Formel legt Balzac einer seiner Romanfiguren in den Mund.

Ein Ausgangspunkt und Hauptmotor für künstlerische Arbeit ist gewiß, so weit ich das sehe, völlige Instabilität im Seelischen, die tief hinab ins Somatische reicht, in den Haushalt der Enzyme und Fermente, ja in die Chemie der Zellen.

In den geläufigen Metamorphosen des Körperlich-Seelischen liegt eine der Möglichkeiten von künstlerischer Selbstkritik begründet.

Der Traurige relativiert und kritisiert mit seinem Blick den Fröhlichen, der Sieger den Verlierer, der im Exzessen Schwelgende den Asketen, der Einsame den Leutseligen, der Verzweifelte den Glücklichen und so fort – und natürlich vice versa.
Balzac hatte mit seiner Formel eher den Rausch im Sinn, die sexuelle Ausschweifung, die Orgie, das Bachanal. Man kann Strapazen jeder Art, wie Übermüdung oder jet lag hier getrost auch noch anführen, ebenso wie totalen Müßiggang und Oblomowerei.
Hab’ ich auf der schwankenden Lebensfahrt – zwischen Scylla und Charybdis von dem und jenem – nicht mehr über die Qualität und Verläßlichkeit meiner Urteile gelernt, ja über meine Urteilsfähigkeit selber – um jetzt nur einmal die krönende Instanz der Wahrnehmungstätigkeiten zu nennen – als von irgendeinem Kommentar, mochte er auch gescheit, ja witzig oder gar genial, liebevoll oder von einer Bösartigkeit gewesen sein, die selber bereits wieder von kritischer Qualität war?
Nebenher: Ich möchte nicht von jedem gelobt werden. – Wohltuend, wie Lobpreisungen nun einmal sind: Gerade dieser ihr Charakter ruft, gewissermaßen aus intellektuellem Selbsterhaltungstrieb, einen höheren Grad an kritischer Trennschärfe automatisch auf, als fett und hässlich durchstreichende Verdammung.
Das Leben hat die meerverwandte, dem Flüssigen zuzuordnende Eigenschaft, dass es beständig unterwäscht und untergräbt, was eben errichtet und vermeintlich für immer befestigt wurde.
Im Denken, und also in der Kunst, gibt es kein „für immer“. Was man „fertig“ nennt, ist doch nur Ausgangspunkt für neue Erwägungen und Abenteuer! Vielleicht rächt sich das Leben derart am Künstler, an dem, der etwas schafft, in dem es ihm unentwegt vorführt, dass doch alles Geschaffene nur Stückwerk, Bric-a-Brac und also etwas höchst Unvollkommenes ist?

Kritik, die tief hinabgreift und gelegentlich mit einem Mal das ganze Menschlein in der Hand hält; samt seinen, vielleicht sogar von anderen angestaunten oder gar im Ruch der Berühmtheit stehenden Hervorbringungen: Das nenne ich wahre Kritik.
Und dann die Bücher und ihre Lektüre, oder andere Erlebnisse, die alles umkrempeln, alles in Frage stellen, was man gerade vordem noch als unangreifbar und gesichert gewähnt hat!
Schöpferische Lektüre – eine der Hauptquellen künstlerischer, im übrigen aber einfach, richtig verstanden, existentiell-menschlicher Selbstkritik.
Um ein Beispiel zu geben: Als etwa Russell mit dem jungen Wittgenstein in Cambridge ein paar Stunden logische Probleme diskutierte, zerschellte alles, was er bis dahin hervorgebracht hatte – und das war nicht wenig! – wie ein Schiff an harten Felsen, wie Russell seiner damaligen Herzensdame, der schönen und klugen Lady Ottoline in einem Brief anvertraute.
Es gibt Lektüren, die einen dazu zwingen, die Probleme neu zu überdenken. Und das meint: alle Probleme.

Wenden wir uns zuletzt dem Machtaspekt des kritischen Betriebes zu, wie er sich heute darstellt.
Es ist klar, dass, recht verstanden, Kritik als Durchgangsstelle und Sieb zur Gesellschaft funktionieren soll: Da soll gewogen und erwogen werden.
Aber was denn? Und womit?
In der gegebenen Marktsituation mit ihrem im Obigen kurz angesprochenen Markensystem muß jeder Kritiker verstehen – und manchem ist es ja auch bewußt – dass seinem Urteilen, von welcher Basis her auch immer es operiert – zugleich der Charakter einer geschäftlichen Entscheidung, einem Entscheid über kommerziellen Erfolg oder Mißerfolg anhängt.    Wer etwa eine eingeführte Marke kritisiert, dem muß klar sein, dass er allein durch seine kritische Beschäftigung, mag sie inhaltlich bestimmt sein, wie sie will, die Marke stützt. Wer einen bisher Unbekannten preist, dem muß klar sein, dass der bald seinen Preis haben wird.  Wer eine Marke preist, preist – irgendwo – sich selber auch. Wer einen bislang Unbekannten „verreißt“, hat ihn, unter Umständen, auch ökonomisch gleich vernichtet.
Die tollkühne Attacke auf die Qualität eines Markenartikels wieder, zur rechten Zeit und mit Eleganz unternommen, wird, gelingt es ihr insbesondere, jeden Ruch von Ranküne zu vermeiden, unter Umständen selber zur Initialzündung für eine neue Marke.

Am harmlosesten erscheint da noch die „Entdeckung“ neuer Talente. –  Doch wie bald und oft wird dann gleich ein shooting star daraus, von dem man kurz darauf wieder nichts mehr hört.

Die Werte-Strukturen, die unserer Gesellschaft inhärent sind, sind sehr komplex – vieles ist da, halb verrottet, noch subkutan vorhanden, kann, bei Bedarf – und wenn’s nötig ist, oft auch höchst öffentlichkeitswirksam – abgerufen werden.
Der unendlich konvertible Basiswert ist allerdings das Geld.
Der Markt ist ja vielfach von Leuten organisiert, die sich, im von ihnen als hierarchisch aufgefaßten Gesellschaftsbau, durchaus in den oberen und höchsten Etagen angesiedelt begreifen. Ihrer ganzen, naturgemäß undeklarierten Auffassung nach sind sie elitär, lassen aber, was die Produktseite betrifft, gern einen billigen Demokratismus walten – um nicht zu sagen, die Demokratie des Billigen. Die Strategie ist da sehr simpel: Eine Sache, und also etwa auch ein Buch, ein Kunstwerk, ist stets das ganz Einfache und für alle und jedermann Brauchbare. Zugleich aber ist es doch das ganz Besondere, das Exzeptionelle, das, wenn’s denn nur irgend möglich ist, Wunderbare und Großartige.  

Erfolg, das sei noch hinzugesagt, ist hier immer als massenhafter Erfolg gedacht. – Wer wollte denn kein Demokrat sein?
Derart grundsätzliche Dinge werden, so weit ich sehe, im kritischen Betrieb von heute kaum einmal berührt. Das aber wäre von höchster Nützlichkeit oder könnte es sein.
Und jetzt schreib’ was, mein Lieber!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.01.2008)

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