Wenn die Stille in den Ohren dröhnt

(c) Die Presse (Norbert Rief)
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Seit 1981 wartet Razor Saltboy auf den Wasseranschluss; wann und ob der kommt, ist unklar. Saltboy ist Navajo, einer von 300.000 der „Navajo Nation“. Nachrichten aus dem größten Indianerreservat der Welt.

So weit man sieht – und man sieht sehr weit in der Steppe von Arizona: keine Menschenseele. Kein Haus, kein Auto, keine Stromleitungen, keine Straße. Nichts. Nur rötliche Erde, ein paar Büsche, in der Ferne einige Wildpferde und durchdringende Stille. Es ist so still, dass es in den Ohren weh tut. Diese Ruhe ist man als Mensch des 21. Jahrhunderts nicht mehr gewohnt.

Plötzlich ertönt lautes Geheul. „Ajajajaja.“ Scharf, regelrecht lähmend. So müssen sich die ersten Siedler gefühlt haben, als sie vor mehr als 100 Jahren hierher kamen, als der Westen der USA noch wild war; als sie möglicherweise genau durch dieses Tal ritten und sich blutige Schlachten mit den Ureinwohnern um das Land lieferten, in dem heute niemand mehr lebt. „Ich dachte mir, es wäre passend“, sagt Don Michels, der indianische Tourguide, noch etwas außer Atem und grinst breit.

Es ist tatsächlich passend. Denn das hier ist Indianergebiet. Die „Navajo Nation“, das größte Indianerreservat der Welt. Die „rez“, wie sie die Einwohner nennen, liegt eingebettet zwischen den US-Bundesstaaten Arizona, Utah, New Mexico. 70.000 Quadratkilometer, ein Gebiet, fast so groß wie Österreich. Hier sind einige der größten Naturwunder der USA: Der Grand Canyon beispielsweise, diese gewaltige, 430 Kilometer lange Schlucht, geformt über Millionen von Jahren vom Fluss Colorado. Oder das Monument Valley mit seinen einzigartigen Tafelbergen. John Ford hat hier seine Western gedreht. Dass dabei die Weißen meist die Guten und die Indianer oft die Bösen waren, ist auch passend.

Denn die USA haben ein zwiespältiges Verhältnis zu ihren Ureinwohnern. Einerseits gesteht man ihnen etliche Freiheiten zu – etwa die, keine Einkommenssteuer zahlen zu müssen –, als kleine Wiedergutmachung für das Gemetzel das man anrichtete, als man ab Mitte des 19. Jahrhunderts den Westen eroberte. Andererseits gelten „Native Americans“ als untere Bevölkerungsschicht. „Keine Hunde oder Indianer“ stand noch in den 1960er-Jahren auf Schildern vor Restaurants und Kinos in Arizona. Auch das Bewusstsein der Bevölkerung ist ein anderes: Kinder in den USA spielen, im Gegensatz zu fast allen Aufwachsenden in Österreich, nicht Cowboy und Indianer. Von sentimentaler „Winnetou“-Romantik ist in den Vereinigten Staaten keine Spur.

Wenn man die Navajo Nation abseits des Grand Canyon und des Monument Valley besucht, dann gibt es tatsächlich wenig Anlass für Romantik. Mehr für Melancholie. „Wir sind ein Dritte-Welt-Land innerhalb der reichsten Nation der Welt“, sagt Razor Saltboy. Das ist nicht übertrieben. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen in der Navajo Nation beträgt lediglich 6200 Dollar; im US-Durchschnitt sind es 21.500 Dollar (basierend auf Zahlen aus dem Jahr 2000). Bei einer Arbeitslosenrate von unvorstellbaren 43 Prozent ist das aber auch wenig überraschend. 56 Prozent der Einwohner, ergab die jüngste Erhebung der US-Behörden, leben unter der Armutsgrenze.

Man muss nicht erst die Statistik strapazieren, um das zu sehen. Es genügt eine Fahrt durch das Reservat: heruntergekommene Häuser, für die die Bezeichnung „Hütte“ eine maßlose Übertreibung ist. Menschen, die neben der Straße alte Staubsauger zum Kauf anbieten und einzelne, verrostete Schrauben. Kinder, die mit einem kaputten Fußball spielen; herrenlose Hunde, die durch die Straße streunen; kaputte Autos; kaum ein Hotel oder Restaurant. Oder man sieht sich einfach in Razor Saltboys Zimmer um. Es ist spät am Abend, in einer Ecke brennt eine einzelne Lampe, man braucht minutenlang, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das Zimmer im Keller ist Wohnzimmer, Büro, Schlafzimmer, Tonstudio und Küche zugleich. Dabei gäbe es ein Erdgeschoß und einen ersten Stock. Doch die sind nicht ausgebaut. Seit 1981 nicht. „Mir fehlt das Geld“, sagt Saltboy und lächelt entschuldigend. Dabei geht es ihm nicht schlecht. Er arbeitet im Gesundheitszentrum in Window Rock, der Hauptstadt der Navajo Nation, und verdient nebenher Geld als Musiker – daher der eher ungewöhnliche Name. Seinen richtigen Namen, den Navajo-Namen, kann nämlich kaum mehr jemand aussprechen: „Haske Yichi Nixwod.“ Der mit Bestimmtheit geht.

Mit der Fertigstellung des Rohbaus hat er keine Eile. Schließlich weiß er nicht, ob er nun Wasserleitungen einplanen soll oder nicht. Seit 1981 wartet er auf einen Wasseranschluss, wann und ob der überhaupt jemals kommt, ist unklar. Strom hat er erst seit zwei Jahren, und eine der ersten Anschaffungen war ein großes Flachbildfernsehgerät, das er voller Stolz zeigt.

In dem riesigen Indianerreservat leben lediglich 300.000 Menschen. Die Einwohnerschaft Burgenlands aufgeteilt auf ein knappes Österreichs. Zwar konzentriert sich ein Großteil in Window Rock und der größten Stadt, Gallup. Zehntausende leben jedoch verstreut im ganzen Reservat auf riesigen Gründen, um ihre Kühe und Pferde halten zu können. Alle mit Strom, Wasser und Kanalisation zu versorgen, wäre unverhältnismäßig teuer. Also schließt man nach und nach nur jene Gebiete an, in denen sich größere Siedlungen gebildet haben. Razor Saltboys Haus gehört nicht dazu. Nur die Stromleitung führt hier vorbei auf dem Weg hinauf nach Crystal. „Es geht uns nicht schlecht“, wirft Sohn Hondo ein, und fügt zynisch hinzu: „Wenn man denkt: Früher lebten wir in Zelten.“

Seit 1868 gibt es die Navajo Nation. Damals trieb man 8500 Navajos im „langen Marsch“ hierher. Den Überlebenden gestand man dieses Land zu, das seit 1923 von den Navajos selbst verwaltet wird. Es gibt eine eigene Navajo-Polizei, eigene Ministerien, eine eigene Straßenabteilung, eigene Schulen. Doch alle Gesetze, die die 88 Stammesführer bei jährlichen Versammlungen verabschieden, müssen von der US-Regierung genehmigt werden. Dafür hat Washington in der Navajo Nation nichts zu sagen, außer bei Kapitalverbrechen, dann kommt das FBI nach Window Rock.

Das „Bureau of Indian Affairs“ finanziert die 561 Reservate in den USA (teils nur so groß wie eine Stadt) mit ihren insgesamt 3,3 Millionen Einwohnern mit jährlich 2,4 Milliarden Dollar. Es gibt Wohlfahrtsgelder für die Armen und die Arbeitslosen; Förderungen für die wenigen Unternehmen in den Reservaten; und, im Gegensatz zum Rest der USA, kostenlose Krankenbetreuung. Die ist besonders wichtig: Denn mit den Weißen kamen die Zivilisationskrankheiten. 24 Prozent der Einwohner der Navajo Nation sind zuckerkrank, dreimal mehr als im US-Durchschnitt. Schlechte Ernährung, billiges Junk- und Fastfood, viel Cola, wenig Bewegung. „35 Prozent der Todesfälle sind auf Zuckerkrankheit zurückzuführen“, heißt es in einer Studie.

Schlimmer ist nur noch der Alkohol, mit dem Indianer nie umzugehen gelernt haben. Zwar ist der Verkauf alkoholischer Getränke im Reservat verboten, nach Schätzungen sind jedoch zehn bis 30 Prozent der Einwohner alkoholabhängig, eine genaue Zahl weiß niemand. 49 Prozent der Todesfälle sind laut der Gesundheitsstudie alkoholbedingt. Dazu kommen Drogen: Auch hier mangelt es an Statistik über die Zahl der Abhängigen. Wie groß das Problem ist, kann man aber an der Zahl der riesigen Plakate erahnen, mit denen die Navajo-Regierung neben den Straßen und in den Städten vor Heroin warnt.

„Nur zugedröhnt überstehen viele den Alltag hier. Das ist aus unserem stolzen Volk geworden“, meint Adam Teller bitter. Teller ist ein professioneller Geschichtenerzähler aus Chinle und einer der kritischeren Einwohner. Er gibt nicht nur, wie viele andere, Washington die Schuld an den Zuständen im Reservat. „Wir sind faul geworden“, sagt er. „Viele sitzen nur herum und leben von dem, was ihnen die Regierung zahlt oder was ein Familienmitglied verdient.“ Früher sei Genügsamkeit eine wichtige Eigenschaft gewesen. Heutzutage aber sei niemand mehr genügsam. „Mit diesem mangelnden Ehrgeiz können wir nicht mehr bestehen.“ Schon die Highschool schließen viele nicht ab. Die Abbrecherquote liegt bei 30 bis 50 Prozent. Wozu auch lernen, wenn es kaum anspruchsvolle Arbeit und gut bezahlte Jobs innerhalb des Reservats gibt. Selbst die schlechten Jobs werden selten, seit man vor einigen Jahren die Uranminen schloss. Das Reservat verlassen nur wenige Indianer. „Aus Gemütlichkeit, weil es hier vieles kostenlos gibt“, meint Teller. Aus Mangel an Möglichkeiten und weil die Weißen Vorurteile gegen Indianer hätten, meint Robert Johnson, Kurator im Navajo Museum in Window Rock.

Selbst die, die die Schule abschließen, hätten eine „nicht unbedingt gute Ausbildung“, weil die Schulen im Reservat schlecht seien. Den mangelnden Ehrgeiz, den Teller kritisiert, relativiert Johnson: „Der Vater meines Großvaters hat noch seine ganzen Besitztümer im Sommer auf die Pferde geschnallt und ist in die Berge gezogen. Im Winter kamen sie wieder herunter ins Sommercamp. So hat man gelebt, aller Besitz musste auf ein paar Pferde passen. Das ist immer noch in unserem Blut, das kann man nicht so schnell abgelegen.“

Doch den Klagen über die heutige Jugend schließt er sich an – wenn auch aus anderen Gründen. „Sie schauen einem direkt in die Augen“, moniert er beispielsweise. Etwas, was unter Navajos als äußert unhöflich gilt. Außerdem schüttelten sie stets Hände, auch das keine indianische Praktik. Und die Sprache spreche ohnehin kaum noch jemand. Heutzutage würde sich die US-Armee schwer tun, Navajo-Funker zu rekrutieren wie einst im Zweiten Weltkrieg, an denen die deutschen und japanischen Codebrecher verzweifelten.

Johnsons drei Kinder sprechen Navajo, aus dem einfachen Grund, weil sie sonst nicht mit ihren Großeltern reden könnten. Die können nämlich kein Englisch. Eine Ausnahme im Reservat: „Jeder redet Englisch“, sagt Roberta John enttäuscht, eine Autorin, die Kinderbücher in Englisch und Navajo herausgibt inklusive CD, damit die Kleinen zumindest eine Ahnung haben, wie die Sprache ihrer Vorfahren klingt.

Die Traditionen zu erhalten, die Sprache zu lehren war bisher Privatsache. Johnson tat es wegen seiner Eltern; Teller, weil er hofft, eines seiner Kinder könne die Geschichten weitererzählen, die er von seinem Vater gelernt hat; Roberta John tut es, um damit Geld zu verdienen. Noch vor ein paar Jahrzehnten war die Sprache im öffentlichen Leben tabu. „Man hat uns mit einem Stab auf die Finger geschlagen, wenn wir in Navajo redeten“, erzählt John. Jetzt bekommen sie im Kindergarten Aufkleber, wenn sie bis zehn zählen können: „Taaka i, naaki, taa, dii, ashdla, hastaa, tsosts id, tseebii, nahast ei, eezna.“

Erst im vergangenen Sommer setzte die Stammesregierung den Sprachunterricht in Navajo wieder auf den Stundenplan – gegen Widerstände der Bundesstaaten, die die öffentlichen Schulen bezahlen müssen. Auch Kultur und Traditionen werde man unterrichten, berichtet Eddie Tso stolz, der Leiter der Schulbehörde in der Navajo Nation. Er sitzt mit dunklen Sonnenbrillen in seinem Büro hinter einem riesigen Berg Papier und holt Unterlage um Unterlage hervor: „Das ist das Unterrichtsmaterial für den Kindergarten.“ – „Das wird in der Volksschule unterrichtet.“ – „Hier haben wir ein Navajo-Geschichtsbuch.“

Doch es ist gar nicht so leicht, Lehrer zu finden für Tradition und Kultur und Sprache, weil man jahrzehntelang geradezu verzweifelt versucht hat, sich anzupassen, alle Unterschiede zu den Weißen abzubauen und sich gesichtslos zu assimilieren. Ob es nicht schon zu spät ist für die Renaissance? Eddie Tso lacht hinter seiner breiten Sonnenbrille: „Es ist nie zu spät. So lange wir noch jemanden haben, der die Sprache spricht und die Traditionen kennt, ist es nicht zu spät.“

Selbst die Zeremonien will man wieder beleben, mit denen die Vorfahren die bösen Geister vertrieben oder den Frühling begrüßten – wohl auch mit dem Hintergedanken, damit zusätzliche Touristen anzulocken. Robert Johnson kennt alle und nimmt seine Kinder mit zu den oft heimlichen Pagan-Feiern. Dort kennt man ihn auch unter seinen Navajo-Namen, die er aber nicht verraten will. Er hat zwei: einen für Kriegszeiten, einen für Friedenszeiten. „Nein“, lacht er, die Frage vorausahnend. „Ich verwende den Friedensnamen.“ Der Kriegsname sei nur für ganz spezielle Zeremonien.

Roy Louis' Kriegsname lautet „Haskè Yil Yikààl“. Und er verwendet diesen Namen täglich. Roy Louis ist Medizinmann, einer von etwa 300, die die Navajo-Regierung offiziell lizenziert hat. Der 62-Jährige sitzt auf dem Küchenboden in seinem Haus in der Nähe von Crystal und breitet seine Utensilien aus: einen Adlerfuß; einen Fächer aus Krähenfedern; vier kleine Bären aus Stein; Pfeilspitzen; ein kleines Holzbündel, aus dem er die Zukunft lesen kann; mehrere bunte Kristalle. „Damit“, sagt er, „kann ich alles heilen.“ Einer, der das glaubt, ist Museumskurator Johnson. „Ich habe vor zwei Jahren plötzlich nichts mehr gesehen. Ich war im Krankenhaus, man hat eine Computertomografie gemacht. Doch gefunden haben sie nichts.“ Dann ging er zu einem Medizinmann, und der fand die Ursache: Als Jugendlicher hatte er aus Spaß einen riesigen Kaktus zerstört. Der Medizinmann machte eine lange Zeremonie, „und danach konnte ich wieder sehen“.

„Ja“, sagt Louis, einen ähnlichen Fall habe er schon gehabt. Meist seien Krankheiten darauf zurückzuführen, dass man Mutter Natur etwas antat; dass man nicht in Harmonie mit der Natur lebte. Er versuche, das Gleichgewicht wieder herzustellen – und das sehr erfolgreich. „Sogar Weiße kommen zu mir“, sagt er verschwörerisch leise. In der Universitätsklinik in Window Rock schmunzeln sie nicht über Roy Louis. Mitunter schicken sie Patienten sogar zu einem der registrierten Medizinmänner. Und manchmal schafft er tatsächlich, womit sie in der Klinik gescheitert sind. „Vielleicht heilt der Glaube an das Magische des Medizinmanns. Vielleicht haben sie aber auch wirklich Fähigkeiten, die über das Natürliche hinausgehen“, meint ein Arzt, der seinen Namen nicht nennen will.

Zurück in das dunkle Zimmer von Razor Saltboy. Er hat die Gitarre hervorgeholt und spielt ein paar seiner Lieder. Hinten an der Wand hängen Poster der „Beatles“, Sohn Hondo summt die Melodie leise mit. „Wir waren wenige, aber wir waren gut“, singt Razor. „Dann kam der weiße Mann, und die Frauen weinten. Aber wir waren stolz, und wir sangen laut unsere Lieder von Freiheit und Frieden.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.02.2008)

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