Wie man das Recht begräbt

Offener Gesetzesbruch, Missachtung höchstgerichtlicher Entscheidungen, allzu fantasievolle Auslegung der Verfassung: Österreichs Politik und ihr Ver-hältnis zur Rechtspflege – eine exemplarische Tour d'horizon.

Am 28. Mai 1985 entschied der Verfassungsgerichtshof (VfGH): „Dr. Wilfried Haslauer hat als Landeshauptmann von Salzburg eine Rechtsverletzung dadurch begangen, dass er die ihm vom Bundesminister für soziale Verwaltung im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung erteilte Weisung vom 26.November 1984 nicht befolgt hat . . .“

Für die Zweite Republik war das eine Premiere. Die Bundesregierung (damals gab es noch die Kleine Koalition von SPÖ und FPÖ unter Bundeskanzler Fred Sinowatz) hatte Haslauer (ÖVP) gemäß Artikel 142 des Bundesverfassungsgesetzes angeklagt, weil dieser entgegen einer Weisung des Sozialministers (Alfred Dallinger, SPÖ) den Geschäften in Salzburg gestattet hatte, am 8. Dezember 1984 die Arbeitsruhe ausnahmsweise nicht zu beachten.

Haslauer, selbst ein versierter Jurist, stand damals juristisch auf verlorenem Posten, die Gesetzeslage war eindeutig. Politisch fühlte er sich hingegen im Recht: Der 8. Dezember, in Österreich ein gesetzlicher Feiertag, im benachbarten Bayern aber nicht, fiel 1984 auf einen Samstag. Die heimische Wirtschaft hätte also vorweihnachtliche Umsätze an die nahe deutsche Konkurrenz verloren. Dass der Sozialminister, ein führender Gewerkschafter, hier andere Prioritäten setzte, beeindruckte den Landeshauptmann nicht. Haslauer gab seiner Sicht der politischen Vernunft den Vorzug vor dem Rechtsstaat.

Die Verurteilung durch den VfGH, die auch auf Amtsenthebung hätte lauten können, beschränkte sich wegen der Geringfügigkeit des Verschuldens auf die bloße Feststellung der Rechtswidrigkeit. Haslauer blieb unangefochten, wenn nicht als Held, bis 1989 im Amt. Mit der ÖVP in der Bundesregierung wäre es ja auch sicher nie zu der Anklage gekommen. Und heute ist der offene 8. Dezember eine Selbstverständlichkeit. Gegen Billa wurde vergangenen Dezember protestiert, weil man geschlossen hielt.

Wo Wilfried Haslauer als naiver Pionier erscheinen mag, ist Niederösterreichs Erwin Pröll ein Profi. Pröll ist gegen das seit den frühen Neunzigerjahren in Arbeit befindliche Projekt des Semmering-Basistunnels für die geplante Hochleistungssüdbahn – und das sicher zumindest auch aus uneigennützigen Motiven. Für den Tunnel sind, aus verkehrspolitischen Gründen, der Bund, die Bahn und das Land Steiermark – Letzteres bis vor nicht allzu langer Zeit so schwarz wie Niederösterreich, wenn auch etwas anders schwarz als die Parteifreunde im Norden.

Rechtlich waren Prölls Karten schlecht. Eisenbahn ist Bundeskompetenz. Die Trasse war durch Verordnung des Verkehrsministers festgelegt, die erforderliche abfallwirtschaftliche und wasserrechtliche Genehmigung erteilt, die Finanzierung gesichert. Blieb also noch der Naturschutz, der in die Kompetenz der Länder fällt, um das Projekt zu kippen. Doch dummerweise bestimmte Paragraf 2 Absatz 3 des niederösterreichischen Naturschutzgesetzes, dass Flächen und bestehende Anlagen, die ausschließlich oder vorwiegend Zwecken des Bundesheeres, des Bergbaues oder des Eisenbahn-, Straßen- und Luftverkehrs dienen, durch den Naturschutz in ihrer Benützung nicht beeinträchtigt werden dürfen.

Was machen in einem Rechtsstaat? Man drehe ihn um! Pröll entschied, dass sich nicht der Bescheid nach dem Gesetz, sondern das Gesetz nach dem beabsichtigten Bescheid zu richten habe. Er ließ das niederösterreichische Naturschutzgesetz entsprechend ändern und von der Bezirkshauptmannschaft Neunkirchen einen Bescheid erlassen, mit dem der Tunnel untersagt wurde. Der Betreiber des Projekts, die ÖBB-Tochter HL-AG, bekämpfte diesen Bescheid, wie zu erwarten, mit Erfolg. Die Änderung des Naturschutzgesetzes und die darauf aufbauende Untersagung des Tunnelbaus wurden vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben, weil diese Änderung es dem Land Niederösterreich in verfassungswidriger Weise ermöglicht habe, die Kompetenzausübung des Bundes zur Eisenbahnverkehrsplanung (auf die die alte Fassung Rücksicht genommen hatte) zu unterlaufen. Dem Tunnelbau stünde, so die Medien unisono, jetzt nichts mehr im Wege.

Sie unterschätzten Landeshauptmann Pröll. Der setzte auf Zeitgewinn und ließ die Angelegenheit an die Bezirkshauptmannschaft Neunkirchen zurückverweisen, weil weitere Gutachten eingeholt werden müssten und eine neue mündliche Verhandlung nötig sei. Dieser Bescheid wurde vom Verwaltungsgerichtshof aufgehoben, weil für eine solche Verzögerung die rechtlichen Voraussetzungen fehlten. Nun wäre die Landesregierung verpflichtet gewesen, innerhalb von sechs Monaten der Rechtsansicht von Verfassungs- und Verwaltungsgerichtshof mit Bescheid Rechnung zu tragen, nach der allfällige Auflagen im Interesse des Naturschutzes möglich sind, eine Untersagung des Projektes schlechthin jedoch rechtswidrig wäre. Es geschah aber nichts.

Nach einem guten Jahr, im Juli 2000, brachte die HL-AG beim Verwaltungsgerichtshof eine Säumnisbeschwerde ein. Die Landesregierung reagierte darauf mit dem Antrag, ihr weitere 18 Monate Frist einzuräumen. Inzwischen hatte Pröll nämlich das niederösterreichische Naturschutzgesetz neuerlich ändern und auf den Namen „Naturschutzgesetz 2000“ taufen lassen. Die neue Rechtslage und auch das EU-Gemeinschaftsrecht erforderten, so die Landesregierung, die Lösung umfangreicher Rechtsfragen, die niederösterreichische Umweltanwaltschaft habe umfangreiche neue Argumente vorgebracht, was wieder umfangreiche neue Sachverständigengutachten erforderlich mache. So viel Umfang konnte der Verwaltungsgerichtshof nicht ignorieren. Er gewährte zwar nicht 18, aber immerhin sechs Monate Frist für einen neuen Bescheid.

Der kam – selbstverständlich in Form einer neuerlichen Ablehnung des Tunnels, wenn auch erst am 21. Juni 2001. Er verdient die Aufnahme ins Buch der Rekorde: Auf 408 Seiten beschäftigen sich Sachverständigengutachten zum Beispiel kontroversiell damit, ob es in von Tunnelbau möglicherweise betroffenen Feuchtgebieten Schwarzstörche gibt oder nicht und Braunkehlchen dort brüten oder nur durchziehen. Es ist von einem „Europaschutzgebiet“ die Rede, auf das Rücksicht genommen werden müsse, obwohl es mangels einerentsprechenden Verordnung gar nicht existiert. „Im Falle dieses Bescheides“, so der Verwaltungsgerichtshof, der ihn naturgemäß aufhob, „kann keine Rede davon sein, dass die Begründung der Verpflichtung der Behörde zur klaren und übersichtlichen Zusammenfassung der Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts, der bei der Beweiswürdigung maßgeblichen Erwägungen und der Beurteilung der Rechtsfrage entspräche.“

Übersichtlich und klar zu sein lag wohl auch nicht in Prölls Absicht. Offenbar ging es eher darum, die HL-AG und in der Folge den Verwaltungsgerichtshof unter einer Textlawine zu begraben, aus der diese sich nicht so leicht würden befreien können. Die Rechnung ging auf. Die Beschwerde der HL-AG langte zwar noch im selben Jahr beim Gerichtshof ein; der aber brauchte bis Mitte April 2004, um zu einem Ergebnis zu kommen: Auch dieser Bescheid wurde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben. Mehr als 90 Seiten Begründung waren nötig, um pflichtgemäß auf alles einzugehen, was von den Parteien vorgebracht wurde; auch die Braunkehlchen wurden nicht vergessen.

Pröll hat gesiegt. Nicht nur über den Semmering-Basistunnel in seiner ursprünglichen Planung, sondern auch über den Rechtsstaat. Er könnte, so wie die Dinge liegen, noch jahrelang rechtswidrige Ablehnungsbescheide produzieren lassen. Die dann jeweils zu erwartenden aufhebenden Erkenntnisse der Höchstgerichte wären das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben werden, solange sie bei der Umsetzung auf das rechtsstaatliche Gewissen des Landeshauptmanns angewiesen bleiben.

Die Missachtung höchstgerichtlicher Entscheidungen zu den zweisprachigen Ortstafeln hat Jörg Haider also nicht erfunden, sondern von Pröll gelernt. So viel Arbeit macht man sich in Kärnten aber nicht. Statt mühsam endlose Argumentationsketten zu konstruieren, setzt Haider auf Performance. Vor laufenden Kameras verschob er einsprachige Ortstafeln, stellte sie in rechtswidrigem Format auf und drehte den Spieß um: Nicht er, der Verfassungsgerichtshof sei der Rechtsbrecher. Auch Haider nützt seine Stellung als Landeshauptmann, dem es möglich ist, auf ihm nicht passende Erkenntnisse mit immer wieder neuen verfassungswidrigen Verordnungen zu reagieren und so die Normenkontrolle der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts, einst das Schmuckstück der rechtsstaatlichen Verfassung Österreichs, lächerlich zu machen. Ihm geht es allerdings weniger um das Wohl seines Landes, was immer er darunter verstehen mag, sondern um die Rettung seiner Partei vor dem Verschwinden.

Eigentlich hätten wir ja den Artikel 146 des Bundesverfassungsgesetzes, der eine Exekution der Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes vorsieht. Dazu müssten diese Erkenntnisse allerdings entsprechend adaptiert werden. Die bloße Aufhebung eines Gesetzes oder Bescheids ist für sich nicht weiter vollstreckbar; denn mehr als aufgehoben kann ein Gesetz oder ein Bescheid nicht werden, um nicht mehr zu gelten. Vollstreckbar ist nur eine Verpflichtung, etwas zu tun oder zu unterlassen. Schon jetzt enthalten die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs auch vollstreckbare Verpflichtungen: jene, der Partei, der recht gegeben wurde, die Verfahrenskosten zu ersetzen; und, wenn es um Gesetze oder Verordnungen geht, die Verpflichtung des zuständigen Organs, das Erkenntnis kundzumachen. Es gibt genug Fälle aus seiner Rechtsprechung, bei denen mehr Kreativität bei der Auslegung der Verfassung eingesetzt wurde, als erforderlich wäre, um seine Entscheidungen vollstreckbar zu machen. Schade, dass er bis jetzt nicht den Mut hatte, sich mit dieser Frage produktiv auseinanderzusetzen.

Auch Bundespräsident Fischer hat den Ruf, eher vorsichtig als mutig zu sein. Dennoch verweigerte er als erstes Staatsoberhaupt in der Geschichte der Republik einem Gesetz die Unterschrift, weil es eine rückwirkende und daher verfassungswidrige Strafbestimmung enthielt. Dahinter stand, das muss eingeräumt werden, kein böser Vorsatz der Großen Koalition, sondern eine Schlamperei bei der Endredaktion des Gesetzestextes.

Tatsächlich gehört es zu den Aufgaben des Bundespräsidenten, das „verfassungsmäßige Zustandekommen der Bundesgesetze“ durch seine Unterschrift zu „beurkunden“ (Artikel 47 Bundesverfassungsgesetz). Das verfassungsmäßige Zustandekommen eines Gesetzes ist aber etwas anderes als sein allenfalls verfassungswidriger Inhalt. Ein Gesetz kann verfassungsmäßig eingebracht, im Nationalrat behandelt und mit der vorgeschriebenen Mehrheit beschlossen worden sein und dennoch dem Gleichheitsgrundsatz – oder eben dem Verbot rückwirkender Strafgesetze – widersprechen. In diesem Fall ist es zwar verfassungsmäßig zustande gekommen, aber inhaltlich verfassungswidrig. Über Letzteres zu „erkennen“ ist mit gutem Grund dem Verfassungsgerichtshof vorbehalten. Manche Kommentatoren vertreten zwar die Auffassung, der Bundespräsident sei anlässlich der Beurkundung auch ermächtigt, inhaltliche Verfassungswidrigkeiten zu beurteilen, solange diese nur „evident“ und von „erheblichem Gewicht“ seien. Wie das aber mit dem Text des Bundesverfassungsgesetzes in Einklang gebracht werden kann, bleibt rätselhaft.

Fischer verweigerte seine Unterschrift denn auch kaum auf eigene Faust. Er wird sich vorher einschlägiger Zustimmung vergewissert haben. Und wirklich erklärten sowohl der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Ludwig Adamovich, wie auch dessen Nachfolger, Karl Korinek, öffentlich ihre Zustimmung zu diesem Schritt. Heinz Mayer, Professor für Staatsrecht an der Universität Wien, war einer der wenigen prominenten öffentlichen Kritiker.

Mag sein, dass es dem überlasteten Verfassungsgerichtshof nicht ungelegen käme, wenn ihm die „evidenten“ Fälle vom Bundespräsidenten abgenommen würden. Der braucht nämlich weiter nichts zu tun als nichts: ein Gesetz nicht zu beurkunden. Aber: Anstelle eines an ein gesetzlich vorgeschriebenes Gerichtsverfahren gebundenen Senats von hochqualifizierten Richtern entschiede dann eine Einzelperson – und zwar völlig formlos, ohne zu einer Begründung verpflichtet zu sein, ohne einer Überprüfung zu unterliegen. Es bliebe dem Ermessen des Bundespräsidenten überlassen, ob eine Verfassungswidrigkeit für ihn „evident“ genug ist oder ob er sie lieber dem Verfassungsgerichtshof überlassen möchte; er könnte seine eigene Kompetenz selbst definieren und würde mit dieser Kompetenz-Kompetenz sogar über dem Verfassungsgerichtshof stehen. Theoretisch könnte er jedes Gesetz blockieren. Dass dem Präsidenten des VfGH da keine Bedenken kommen, ist bemerkenswert.

Bundespräsident Fischers Fall ist, was den konkreten Sachverhalt betrifft, unter den geschilderten sicher der harmloseste. Aber er hat „Fantasie“, wie die Börsianer sagen. Und die ist beunruhigend. ■


Peter Warta, Jahrgang 1939, arbeitete nach seinem Jus-Studium in der Werbebranche. Seit 1995 Beschäftigung mit Rechtstheorie. Zahlreiche Publikationen zum Thema.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2008)

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