Revolution? Welche Revolution?

Es gibt kaum einen Ort im Donbass, an dem ich länger verweilen möchte. Aber wenn mein Blick über die Karte streift und Ortsnamen wie „Antrazit“ entdeckt, dann will ich wieder hin. Nachrichten aus dem Südosten der Ukraine.

An einem winterlichen Morgen sitze ich im Speisewagen, Einfahrt in das Donbass-Revier. Ich bin der erste Gast des Tages. Eine große hagere Blonde im hellrosa Trainingsanzug wischt den Boden des Waggons. Die füllige Speisewagenoffizierin thront in ihrer blauen Uniform, bestellt, ins Telefon brüllend, Nachschub und kommandiert „Sascha“ herum, ihren immerzu kritikwürdigen und immerzu schwitzenden Kellner.

Ich schaue aus dem Fenster. Es ist neblig, die Bäume stehen in weißem Reif, eine verhärtete dünne Schneeschicht bedeckt die Landschaft. Es ist eine flache bis sanfthügelige, eine gezähmte und aufgewühlte Landschaft. Im dichter werdenden Nebel nimmt sie sich bald nur noch gespenstisch aus.

Der Zug rollt an einer Mauer aus hellgrauen Quadern entlang. Auf der Mauer ein rund gewickelter Stacheldraht, hinter der Mauer ein still liegender Industrieriese in Grautönen, 24 Kilometer lang. Die endlose Fabrik wirkt vollkommen tot, kein Farbtupfer, nirgends, nur einmal sehe ich undeutlich ein gebücktes Männlein gehen, über eines der endlosen Rohre, mit langsam prüfendem Schritt. An diesem Montagmorgen erscheint mir einer der größten Ballungsräume Europas beinahe menschenleer. Ich frage die zeternde Speisewagenoffizierin, was wir da draußen sehen. „Das Metallwerk von Kommunarsk“, antwortet sie knapp. „Ist das in Betrieb?“ – „Ist in Betrieb.“

Man mag ihn nicht, den Donbass. Man rümpft – zum Beispiel in Kiew – die Nase über die Bewohner des ostukrainischen Kohle- und Stahlgebiets, und man fügt angewidert hinzu, dass sie so viele sind, sieben Millionen. Man hält sie für eine gleichförmige Masse russisch maulender Hackler, unflexibel und unkultiviert, den Segnungen der sprachlich-kulturellen Ukrainisierung dumpf widerstehend. Vor allem mag man nicht ihre politische Macht. Die Donbasser wählen nämlich wie ein Mann. In den Neunzigern fielen ihre Stimmen den Kommunisten zu, nun wählen sie mit 70 bis 90 Prozent die „Partei der Regionen“ von Viktor Janukowitsch, dessen gezinkter Wahlsieg 2004 die orange Revolution auslöste.

Janukowitsch wurde nicht Präsident, aber er kommt aus dem Donbass, er stellt vielleicht sogar den Prototyp des Donbassers dar. Dazu gehört, dass sein Geburtsort nicht mehr existiert. Der kleine Viktor konnte zusehen, wie die ausgeworfenen Erdmassen des Bergbaukombinats „Roter Oktober“ näher und näher rückten, bis sie das Dorf Schukowka unter sich begruben. Wer nach den Wurzeln des Oppositionsführers gräbt, stößt auf eine Kokerei.

Der Donbass steht unvermindert hinter Janukowitsch, die orangen Kräfte sind im Donbass unvermindert verhasst. Ich merkte daher auf, als vergangenen Sommer die ukrainischen Medien vermeldeten, dass mitten im Donbass ein „Museum der orangen Revolution“ eröffnet wurde. Das erschien mir so logisch wie eine Würstelbude auf dem Mond, und jetzt fahre ich nach Lugansk.

Ich wähle Stachanow

Lugansk ist eine von zwei Gebietshauptstädten des Donez-Beckens, und ich will vorher noch eine gewöhnliche Donbass-Stadt sehen. Die Auswahl ist groß. In Europa hat man vielleicht von der Millionenstadt Donezk gehört, bekannt durch „Schachtjor Donezk“, den Fußballklub des reichsten Ukrainers, des 14 Milliarden Dollar schweren Jungunternehmers Rinat Achmetow.

Wer aber hätte je von den anderen Großstädten des Donbass gehört? Von Mariupol, Makejewka, Gorlowka, Kramatorsk, Slawjansk, Altschewsk, Sewerodonezk, Lisitschansk? Weil mir der Name gefällt, wähle ich Stachanow. Die Stadt ist nach dem Kumpel benannt, der hier in einer einzigen Schicht 102 Tonnen Kohle förderte, das Dreizehnfache der Norm, am 31. August 1935. Er gab der sowjetischen Stachanow-Bewegung den Namen. Wenn die Donbass-Kohle heute ein Thema ist, dann wegen der Hunderten Toten und wegen der vielen illegalen Kohlegruben, in denen ohne Rücksicht auf Menschenleben geschürft wird. In Stachanow angekommen, friere ich. Am zentralen Markt, wo minütlich Marschrutka-Kleinbusse ankommen und abfahren, gibt es keinen Ort zum Aufwärmen, kein einziges Café. Ich steige in ein altes Wolga-Taxi, damit mich der alte Fahrer an einen Ort mit heißer Suppe bringt. „Zuerst das Geld“, sagt er. Während der Fahrt spricht er über seine Beziehung zur Stadt: „Hier bin ich geboren, und hier werde ich sterben.“

Solange ich da bin, wird Stachanow nicht mehr fröhlicher. Die 83.000-Einwohner-Stadt hat einen großen modernen Busbahnhof, den fahren aber nur noch Verirrte an. Die Glasfront ist zerbrochen, stellenweise mit Platten geflickt, in der kalten Halle werden Second-Hand-Klamotten verkauft.

Ich fahre nach Kommunarsk, umbenannt in Altschewsk, zu dem 24 Kilometer langen Metallkombinat. Es zeigt sich, dass das Werk floriert. Die Schlote rauchen, es gibt neue Gebäude, die Stahlkonjunktur und der Energiehunger der Welt spülen Geld in den Donbass. Ich gehe in eine Kantine namens „Café Metallurg“. Als ich in der Schlange stehe, höre ich plötzlich österreichischen Dialekt. Ihre Jacken weisen die Männer als Mitarbeiter jenes deutschen Weltkonzerns aus, der für seine Schmiergelder berühmt ist. Ich frage sie, woher sie kommen. Sie sind Steirer, und sie sind keineswegs überrascht, einen Landsmann zu treffen. Wie selbstverständlich fragen sie: „Bist du aa im Konverter?“ Viele europäische Spezialisten arbeiten im Werk, erzählen sie, Deutsche, Österreicher, Tschechen, Polen. Das Nachtleben sei ihnen lebhaft genug, sie würden sich nicht langweilen.

Als ich am Abend nach Lugansk will, weist mich ein Pensionist darauf hin, dass auch in Altschewsk der Busbahnhof aus sowjetischer Zeit verfällt. An seine Stelle ist ein neues Häuschen getreten, im typisch Neu-Donbasser Magerbarock, gestrichen in jenem olivtönenden Gelb, das auch die Business-Neubauten ziert, nur ohne die massiven schwarzen Schmiedezäune davor und ohne die schwarzen Offroader dahinter. Während wir in der kalten Winternacht stehen, vor dem geschlossenen neuen Busbahnhof, beginnt der Alte von der Sowjetunion zu schwärmen. Als er bei den Weintrauben anlangt, die man seinerzeit aus dem Kaukasus brachte, stelle ich sie mir schon so groß und so süß und so köstlich vor, wie er sagt.

Mein Reiseziel, Lugansk, hat keinen Charme, nicht einmal einen verkommenen. Für 450.000 Einwohner ist das Kulturprogramm dürftig, auf der Flaniermeile „Sowjetischer Boulevard“ sind vorwiegend Apotheken und Haushaltsgeräte zu sehen.

Am Morgen mache ich mich auf, ins „Museum der orangen Revolution“ zu gehen. Ein unerwartetes Problem tritt auf. Der erste Taxifahrer hat noch nie von einem solchen Museum gehört, der zweite auch nicht, der dritte auch nicht, und sie sehen mich alle an, als wäre ich vielleicht einer, der ihnen blöd kommt. Die fünfte Person, eine Zeitungsverkäuferin am Hauptbahnhof, schickt mich zur Bahnhofsinformation. Dort empfängt mich eine sibirische Schönheit mit klirrend blondem Haar. Sie lächelt amüsiert und ruft direkt im Amt des Bürgermeisters an. Dort weiß man nichts von einem Museum der orangen Revolution.

Revolution? Polizeimuseum!

Ich frage vor dem Bahnhof weitere Chauffeure durch. Ein Junge, der im Wageninneren eines Kleinbusses sitzt, lässt mir ausrichten, dass sich das gewünschte Museum auf dem Roten Platz befindet. Ich springe ins nächste Taxi: „Roter Platz, Museum der orangen Revolution.“ Der Taxifahrer verlangt einen überhöhten Preis, duzt mich ungefragt und setzt mich auf dem Roten Platz ab, vor dem Polizeimuseum. Der wachhabende Polizist im Polizeimuseum weiß von nichts. Ich bin bereit, mir als vorläufige Ersatzhandlung das Polizeimuseum anzuschauen, das wird aber renoviert. Ich frage den Polizisten, was es im Polizeimuseum zu sehen gibt. Das kann er mir nicht sagen. Er empfiehlt mir, seinen Vorgesetzten anzurufen, damit dieser mir sagt, was es in dem Museum zu sehen gibt, in welchem er den ganzen Tag Wache hält.

Ich frage im Umfeld des Roten Platzes weiter nach dem „Museum der orangen Revolution“. Gelegentlich ernte ich einen misstrauischen Blick, manche schicken mich in andere Museen. Eine müde, alte Straßenkehrerin sieht mich nicht einmal an. In der fensterlosen Eingangshalle eines Restaurants gibt mir ein Wächter rasch zu verstehen, dass er das Gespräch für beendet hält. Ich verlege mich auf Kleingruppen im Freien, auf junge bis sehr junge Menschen. „Was für eine Revolution?“, kriege ich ein paar Mal zur Antwort, „ich glaube nicht, dass das eine Revolution war.“ Einige halten umgehend fest: „Ich beschäftige mich nicht mit Politik.“

Die ganze postsowjetische Weite

Plötzlich aber, vor einer Hochschule, steht ein junger Mann vor mir, der das Museum der orangen Revolution nicht nur gekannt, sondern auch persönlich besucht hat. Es sei mittlerweile geschlossen, fügt er hinzu. Eigentlich sei es nur eine Ausstellung im Sommer gewesen, gegen das orange Lager gerichtet, eine kleine Aktion im Wahlkampf, ein Gag. Die Auskunft macht mich zufrieden. Zwar ist mein Vorhaben einerseits gescheitert, andererseits hat es mich ausgiebiger unter die Leute gebracht, als es die rauen Umgangsformen der Donbasser nahelegen würden.

Dass ich den Donbass auf meiner zweiten Reise verstanden hätte, bilde ich mir nicht ein. Es reicht höchstens für ein paar ungefähre Behauptungen. Die Geschichte des Donbass ist genuin sowjetisch, hier wurde der Sowjetmensch geschaffen, der Heimatbegriff des Donbass greift in die ganze postsowjetische Weite aus. Stachanow ist jedoch vergessen, und die aufgeschürfte Erde hat keine Mythen hervorgebracht, die eine Absonderung kulturell legitimieren würde.

Ich nehme den Zug nach Westen, es ist Nachmittag, ich verlasse den Donbass. Wieder wabert der Nebel über endlosen Güterzügen. Im Fahren ist mir der Donbass am liebsten. Wie ausgestochene Kekse ragen die „Terrakony“ aus der Ebene, schütter bewachsene Erdhügel, der Abraum der Schächte. Ich sehe Bauhöfe und Baracken, Arbeiterhäuschen und Firmenhallen aus fahlem Klinker, hellbeige und hellgrau. Dazwischen flache Wälder, gleichförmig, zum Durchwandern zu dicht gepflanzt. Auf den Straßen viele Kastenwagen, Kleinlaster, Kleinbusse. Eine immerfort Dreck aufwirbelnde Autowäsche-Welt, ein Männerland.

Am liebsten nur noch fahren. Es gibt kaum einen Ort im Donbass, an dem ich länger verweilen möchte, allenfalls das „Café Flamingo“ am zentralen Betonteich von Altschewsk. Aber wenn mein Blick über die Karte streift und Ortsnamen wie „Antrazit“ entdeckt, dann will ich wieder hin. ■

DONBASS: Daten und Fakten

Das Donezbecken, kurz Donbass, ist für die Schwerindustrie der Ukraine von zentraler Bedeutung. Derzeit werden hier jährlich rund 200 Millionen Tonnen Kohle gefördert und 50 Millionen Tonnen Stahl erzeugt.

Zentrum des Donbass ist Donezk, mit 1,1 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Stadt der Ukraine. Seinen Namen verdankt das Gebiet dem Donez, einem Nebenfluss des Don.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2008)

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