Die Steine des Anstoßes

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Ich bin behütet und bescheiden groß geworden in Odessa am Schwarzen Meer. Stumm, ergeben und machtlos wie meine Vorfahren. Nun ändert sich alles mit einem Mal. – Brief an die gnädigsteZarin Katharina die Große im Angesicht der Ereignisse in Kleinrussland.

Die mächtigste Kraft der Welt ist eine Idee,deren Zeit gekommen ist. Voltaire

Gnädigste Zarin Katharina Alexejewna, sanft und geräuscharm wieeine Unterwasserwelt kommt dem Menschen seine eigene Vergangenheit vor, und wenn er weiter zurückschaut und sich die Wirklichkeit, die seine Vorfahren betraf, vorzustellen versucht, die zahnlose und immer reinliche Urgroßmutter mit Kopftuch, die man noch kannte, ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, blinkende Goldknöpfe in der Menschenmenge, wenn man sich kraft seiner Fantasie und der Bildung in diese Tiefe begibt, wird es erstaunlicherweise lauter und bunter, je weiter man vordringt, und ganze Städte und Reiche ziehen an einem dröhnendund stöhnend vorbei, mit Baumwurzeln, von denen Erdklumpen und kleine Steine rieseln. All das erscheint wichtiger und bedeutender als das eigene Leben, man glaubt einen Sinn in der Weltgeschichte zu erkennen, man glaubt Zusammenhänge zu sehen. Man braucht diese Ordnung.

Sie werden mir recht geben: Der Gedanke, dass es keine Kausalität gibt, sondern nur Zufälle, die auf dämonischen Wegen zum Schicksal werden, wirkt abstoßend und mutet uns antik an, herodotisch und logikverhöhnend. Dieser Schicksalsglaube, der einen Großteil der Menschen der Antike beherrschte, folgte dennoch einer wenn auch einseitigen Logik und stützte sich auf eine Philosophie der launenhaften Götter, die halb spielend, halb im Ernst das Geschichtsbild schmieden. Schauen Sie auf die Enkel Ihrer Untertanen, Majestät! Der Schicksalsglaube dieser Menschen ist nicht auf einer furchtsamen Demut vor der Schicksalsgöttin Tyche gewachsen. Diesen Glauben zwangen ihnen die Jahrhunderte der tiefempfundenen Machtlosigkeit auf, dieser Glaube mündet ins Fatalistische und entkräftet.

Es ist makaber, wenn man heute von schlummernden Kräften des russischen Menschen und von seiner zivilisatorischen Mission redet. In den Zeiten der Umbrüche von Weltausmaß ist immer davon die Rede. Abgesehen davon, dass solche Reden von schlechtem Geschmack zeugen: Wie bitte sollen sich die messianischen Lerchen erheben, ihre Mission antreten und Sommer machen, wennsie tief im Inneren spüren, dass der Einzelne nichts zählt. Lässt jemand das Wort „freier Wille“ fallen, so lächeln Millionen meinereins ein bitteres Lächeln und sehen das Bild eines romantischen Jünglings auf den brennenden Ruinen vor sich. Ein erlesener Kreis der Privilegierten denkt jedoch an etwas ganz anderes: an die Mobilität, zu der einen das Geld befähigt, an die Qual der Wahl beim Aussuchen eines Platzes unter der Sonne. Seitdem Sie gestorben sind, hat sich in dieser Hinsicht wenig geändert.

Ich bin behütet und bescheiden groß geworden, wie Sie wissen, in Odessa amSchwarzen Meer, im vormaligen Hadschibej, in der türkischen Stadt, die Sie erobert, zerstört und neu erbaut haben. Über diese für mich neue Tatsache bin ich allerdings erst jetzt gestolpert, als ich beschlossen habe, Ihnen diesen Brief zu schreiben. In meiner Jugend hat man Sie als unsere Stadtgründerin und Odessa als eine junge Stadt betrachtet. Sie können sich mein Erstaunen vorstellen, als ich herausgefunden habe, dass Hadschibej kein unbedeutendes Fischerdorf war,sondern eine richtige Stadtmit einem Marktplatz, einer Moschee und einem jüdischen Friedhof. Niemand hatte mir jemals über Hadschibejs Größe und Bedeutung für die Region erzählt, in keinem Buch konnte ich jemals zuvor darüber lesen. Darüber bin ich selbst erstaunt, obwohl ich mich zeit meines Lebens für die Geschichte interessiert habe – für die Fragen der Staatskunst oder das, was heutzutage Politik genannt wird, allerdings nicht im Geringsten, diese Fragen schienen niemals zu meinen Kompetenzen zu gehören. Ich bin nur ein unbedeutend winziges Rädchen in diesem Uhrwerk, pflegte ich zu denken, und außerdem kann ich sowieso nichts ändern, oder: Die anderen werden es richten. Dass die Gegenwart mit meinem Lieblingsfach Geschichte wie der Reichsapfel mit der Adlerklaue zusammenhing, war mir dabei immer bewusst. So tief nach oben wollte ich aber nicht schauen. Hin und wieder ertappte ich mich beim Gedanken, dass ich vielleicht keinen guten Beitrag zum Geschichtsbild und zu der Zukunft meines Kulturkreises leiste, indem ich mit meiner Haltung den Weg des Fatalismus pflastere, und dass ich nicht die einzige bin, die wegschaut, die ohne schlechtes Gewissen sagen kann: Die anderen werden es richten. Na und, sagte ich dann zu mir, drehen sich etwa alle anderen Rädchen nicht wie ich?

In solchen Momenten machte ich meinenbäuerlichen und vielleicht auch adeligen Vorfahren alle Ehre, den faulen Konformisten, den einfachen Handwerkern, den Analphabeten, die stumm und ergeben mit ihrem kläglichen Dasein haderten, aber auch den naturverliebten Ästheten, die schreckhaft einKreuz zu schlagen pflegten, wenn es donnerte, um dann einen schmachtenden Blick in den Himmel zu werfen. Allen meinen Vorfahren machte ich eine Ehre, auch den halbwegs gebildeten bärtigen Lakaien, die ihren Herren Tag für Tag verstohlen Abführmittel in ihr Essen träufelten und sich dadurch auf gleicher Höhe mit den Revolutionären auf den Straßen von Paris vorkamen. Ja, indem ich bloß für die Geschichte schwärmte, kultivierte ich die Tradition der Machtlosigkeit munter vor mich hin.

Auf der anderen Seite ließ ich eine Handvoll meiner Vorfahren, die mit ihren Zähnen in der Öffentlichkeit zu knirschen wagten oder gar selbst ihre Stimmen gegen eine höhere Macht erhoben, noch blasser erscheinen. Unwirklich. Doch es gab sicher diese Personen, die Neinsager, Steine des Anstoßes, die zermahlen wurden. Es muss sie gegeben haben. Solche Fragen waren mir bis vor Kurzem gleichgültig. Nun änderte sich alles mit einem Mal.

Da Sie ein Geist sind, allergnädigste Zarin, hoffe ich, dass Sie die Zeit genutzt haben, um in Ihrer Entwicklung nicht zurückzubleiben, und mit den Errungenschaften der Zukunft vertraut sind. Wissen Sie zum Beispiel, dass Kriege heutzutage anders geführt werden als zu der Zeit Ihres Günstlings Potemkin? Wenn Sie sich gerade in meinem Zimmer umschauen, so werden Sie den sogenannten Computer auf meinem Schreibtisch finden, und wenn Sie geruhen, eine Etage höher zu fahren, so wird Ihnen ein schwarzer Kasten auffallen, vor dem ein Jugendlicher reglos sitzt. Dies ist mein Hausnachbar, und er sitzt vor dem sogenannten Fernseher. Diese Geräte waren Ihnen sicher mehrmals auf Ihren Wanderungen durch fremde Häuser begegnet. Brauche ich sie Ihnen zu erklären? Vermutlich nicht. Als Geist müssen Sie besser wissen, wie sie funktionieren.

Doch darum geht es nicht. Genauso wie mein Nachbar, der junge Mann mit fettigem Haar und dem Kratergesicht, überden Fernseher, so kann ich über den Computer Nachrichten sehen. Nun, wenn irgendwo ein Konflikt ausgetragen wird, sind solche Geräte, die Sie gerade sehen, Teil der Kriegsführung, und erfahren kann man darüber eben aus diesen Geräten. Das ist das Paradoxe an diesem Medium: Wenn man diese Kästen betrachtet, die vorgeben, bloß Betrachter einer kriegerischen Auseinandersetzung zu sein, weiß im Grunde jeder klar denkende Mensch, dass er an der Nase herumgeführt wird, und er lässt es dennoch geschehen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als eine der beiden Parteien zu ergreifen, jene, die ihm am nächsten und sympathischsten ist, und sich in den Konflikt hineinziehen zu lassen – in Form von bloßer geistiger Anteilnahme. Und wenn man selbst zu einer der kriegerischen Seiten gehört, so ist diese Anteilnahme umso größer.

Das ist der moderne Begriff der Manipulation, Majestät. Zu Ihrer Zeit war es vielleicht so: Wenn man das Gefühl hatte, manipuliert zu werden, war es keine Manipulation. In unseren Tagen ist sie so raffiniert, dass nur die Verrückten sich ihr entziehen können. Mehr noch: Das Wissen, dass die Manipulation auf beiden Seiten da ist, mit unterschiedlichen Botschaften geladen, macht sie nicht hassenswert und einen selbst als ihr Opfer nicht bemitleidenswert, schließlich werden grundlegende Bedürfnisse befriedigt: die Welt erklärt zu bekommen und mit seiner Meinung in der Mehrzahl zu sein – und vor allem auf der Seite der Gerechten zu stehen. Logischerweise gibt es zwei Seiten, die dies von sich behaupten, und noch eine dritte, nämlich die der Blinden ohne Gehör und der geistig Verwirrten. Diese Letzten sind gerade jetzt beneidenswert.

Majestät, als allgegenwärtiger Geist müssen Sie wissen, was in dem Land geschieht, dessen Eigenständigkeit Sie in Ihrer Regierungszeit für zu gering befanden und als Bauernfolklore abgeschrieben haben. In diesen Tagen blutet mir das Herz. Glauben Sie mir, es geht nicht um ein Stück Land, das uns abgenommen wurde, damit eine fragwürdige Größe wie die historische Gerechtigkeit triumphiere. Umeine andere Gerechtigkeit geht es, um die einzig mögliche, um die einzige, die es gibt. Für sie gingen Zehntausende auf die Straßen und werden es wieder tun – auf beiden Seiten der Fronten, die bei Gott keine Feinde sein können. Nein. Bloß hat sich die eine Seite früher von einer vollendeten kulturgeschichtlichen Epoche gelöst als die andere. Die einen sind nicht mehr die Alten. Die anderen noch nicht dieNeuen. Beide Seiten vertreten ihre eigenenWeltanschauungen. Und eigene Überzeugungen sind einem, wie jeder weiß, am teuersten. Man schätzt sie wie eine kostbare Erinnerung. Schließlich ist man zu diesem Erkenntnisgeflecht mit der Mühe seines Intellekts gekommen. Es aufzugeben ist wie ein Schnitt ins eigene Fleisch. Dies zu verlangen wäre aber nicht im Sinne der Meinungsfreiheit, ohne die das Leben wenig Freude bringt, nicht wahr? ■

Geboren 1981 in Odessa. Studierte ebendort Germanistik. Schreibt seit ihrem 16. Lebensjahr auf Deutsch. Lebt in Wien und Mainz. 2012 bei Suhrkamp: der Roman „Wer ist Martha?“ In der Gesprächs- und Lesungsreihe „Kakanien. Neue Heimaten“ lädt Sabine Haupt am 8. Mai, 20 Uhr, Marjana Gaponenko und Jurko Prochasko ins Kasino am Schwarzenbergplatz, Wien I.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2014)

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