„Kein Fußbreit Boden“

Im Ersten Weltkrieg dienten etwa 300.000 jüdische Soldaten in der k. u. k. Armee. Trotz ihres Einsatzes nahm der Antisemitismus während und vor allem nach dem Krieg zu. Hinweise zu einem weithin unbekannten Kapitel heimischer Geschichte.

Vor einigen Wochen konnte man lesen, dass in Israel neuerdings auch besonders strenggläubige(„ultraorthodoxe“) Juden zum Militär eingezogen werden – bisher waren sie von der Wehrpflicht befreit. Damit findet sich die israelische Armee des Jahres 2014 paradoxerweise in einer ähnlichen Lage wie das österreichische Heer vor mehr als zwei Jahrhunderten, 1788 nämlich, als erstmals Juden in das kaiserliche Militär rekrutiert wurden.

Tatsächlich war Österreich der erste Staatin Europa, in dem Juden ins Militär eingezogen wurden – lediglich in Großbritannien und den Niederlanden war dies schon früher, aber nur in den Kolonien der Fall gewesen. Generell durften Juden seit dem Mittelalter keine Waffen tragen und galten daher nicht als wehrwürdig. Das änderte sich erst mit der Aufklärung und der Idee, Juden stärker in die Gesellschaft zu integrieren – mit der Gewährung bürgerlicher Rechte stellte sich auch die Frage nach bürgerlichen Pflichten. Zu diesen gehörte seit dem späten 18. Jahrhundert eine Vorform der allgemeinen Wehrpflicht, die „Konskription“: Anstelle der bisherigen (teuren) Ergänzung der Söldnerheere durch freie Werbung wurden die Grundherrschaften und Städte verpflichtet, je nach Bedarf eine bestimmte Zahl von Rekruten zu stellen. Als Österreich im Zuge der „polnischen Teilungen“ zwischen 1770 und 1775 Galizien und die Bukowina erwarb, wo viele Juden lebten, stellte sich verstärkt die Frage, ob auch Juden rekrutiert werden sollten.

Obwohl der Hofkriegsrat (der Vorläufer des Kriegs- respektive Verteidigungsministeriums) dem ablehnend gegenüberstand, verfügte Kaiser Joseph II. 1788 auf Vorschlag der reformfreudigen Hofkanzlei, Juden aus Galizien zum Fuhrwesen-Korps einzuziehen. Und noch 1788 dehnte die Hofkanzlei diese Maßnahme auf sämtliche habsburgischen Länder aus. Die Reaktionen der jüdischen Gemeinden waren durchaus unterschiedlich. Die orthodoxen Gemeinden vor allem im Osten sahen darin eine Bedrohung ihrer traditionellen Lebensart – nicht zu Unrecht übrigens, war es doch ein erklärtes Ziel der Reformen Josephs II., durch die verstärkte Integration „diese Menschen zu nützlichen Staatsgliedern zu machen“, wie es in einem Akt aus dem Jahr 1782 hieß. Die aufgeklärteren Juden im Westen hingegen begrüßten diese Maßnahme als wesentlichen Schritt hin zur erhofften rechtlichen Gleichstellung.

Die Integration jüdischer Soldaten erfolgte schrittweise: 1789 wurde ihnen die Möglichkeit eröffnet, nicht nur im Fuhrwesen, sondern – zunächst freiwillig – auch „unter dem Feuergewehr“ zu dienen. In den Napoleonischen Kriegen wurden Juden dann zu allen Waffengattungen eingezogen. Die Reformen Erzherzog Carls brachten weitere Neuerungen: Um 1808 wurden erstmals Juden zu Offizieren ernannt und konnten damit auch Vorgesetzte christlicher Soldaten sein – etwas, was noch ein Jahrzehnt davor undenkbar schien. Dies entsprach durchaus dem neuen Geist einer „nationalen“, überreligiösen patriotischen Einigkeit des Volkes gegen die napoleonische Bedrohung.

Benachteiligungen bestanden weiter

Der Anteil jüdischer Soldaten stieg im 19. Jahrhundert an. Gewisse Benachteiligungen bestanden weiter, verstärkten sich sogar teilweise nach 1848/49, als Juden beschuldigt wurden, zu den Rädelsführern der Revolution gehört zu haben. Dennoch: In den Kriegen von 1859 (gegen Frankreich und Piemont) und 1866 (gegen Preußen und Italien) wurde die Zahl jüdischer Soldaten auf 10.000 bis 20.000 Mann geschätzt; manche Zeitgenossen sprachen sogar von 30.000. Das Staatsgrundgesetz vom Dezember 1867 schließlich brachte die völlige bürgerliche Gleichstellung der jüdischen Bürger. 1868 wurde mit dem neuen Wehrgesetz die allgemeine Wehrpflicht eingeführt – in einer Dauer von drei Jahren Präsenzdienst und neun Jahren Reserve- respektive Landwehr-Verpflichtung.

In der Folge nahm die Zahl jüdischer Soldaten zu und erreichte um 1900 mit 52.000 oder 3,9 Prozent aller Soldaten beinahe den allgemeinen Bevölkerungsanteil, der damals etwas über vier Prozent lag. Entgegen der Legende vom „typisch jüdischen Train-Soldaten“ dienten rund 90 Prozent aller jüdischen Soldaten in der kämpfenden Truppe, vor allem in der Infanterie. Wegen ihrer Sprachkenntnisse und durchschnittlich besseren Ausbildung galten Juden als besonders geeignet für Verwaltungsaufgaben und als Unteroffiziere in der vielsprachigen Armee des Habsburgerreiches.

Zeitgenössische Dokumente belegen, was zunächst überraschend erscheinen mag: dass Juden in der Armee kaum antisemitischen Vorurteilen ausgesetzt waren, jedenfalls weniger als im Zivilleben. Dies erklärt sich aus der besonderen Position der Armee im Vielvölkerstaat: Sie verstand sich als einigendes Band des Reiches und daher über den Nationalitäten und ihren Streitigkeiten stehend, dem Staat als solchem und dem Kaiserhaus verpflichtet. Daher war sie im Großen und Ganzen tolerant. Das soll nicht heißen, dass es keine antisemitischen Vorfälle oder Benachteiligungen gegeben hätte – einige lassen sich aus den Akten belegen –, aber sie waren insgesamt eher die Ausnahme als die Regel. Der Umgang mit jüdischen Religionsvorschriften – vor allem der Sabbatruhe und koscherem Essen – blieb für manche strenggläubige Soldaten dennoch ein Problem. In der Regel mussten jüdische Soldaten am Sabbat nur leichte Dienste verrichten, ähnlich wie christliche Soldaten am Sonntag. Koschere Verpflegung gab es im Militär selten – wo möglich, wurden jüdische Soldaten von Familien aus der Umgebung mit koscheren Lebensmitteln versorgt. Und: Nicht alle jüdischen Soldaten nahmen die religiösen Gebote allzu ernst.

Vielen Legenden zum Trotz konnten Juden auch Stabsoffiziere werden; immerhin gab es im Bereich der kämpfenden Truppe fünf (ungetaufte) jüdische Generalmajore (drei davon im Ersten Weltkrieg). Dazu kamen mehrere jüdische Militärärzte und Militärbeamte im Generalsrang. Obwohl um die Jahrhundertwende der rassistische Antisemitismus bereits stark war, erreichten außerdem zahlreiche Offiziere jüdischer Herkunft, die als Kind oder während ihrer Dienstzeit zum Christentum übergetreten waren, hohe Ränge. Der bekannteste war Generaloberst Samuel Baron Hazai, ungarischer Verteidigungsminister und 1917/18 als Chef des Ersatzwesens für die gesamte bewaffnete Macht praktisch der zweitwichtigste Offizier nach dem Chef des Generalstabes. Generell muss man sagen, dass der Übertritt zu einem christlichen Glaubensbekenntnis einer erfolgreichen Karriere zweifellos dienlich, aber nicht Voraussetzung war.

Unter den Reserveoffizieren war der Anteil der Juden besonders hoch und lag in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bei rund 18 Prozent – fast jeder fünfte k. u. k. Reserveoffizier war jüdischer Religion! Das entspricht etwa dem Anteil der Juden an den Maturanten und Studenten, belegt aber auch eindrucksvoll den Unterschied zwischen der multi- und damit „übernationalen“ Donaumonarchie und dem national geeinten Deutschen Reich. In Preußen wurde zwischen 1885 und 1914 kein einziger (Reserve-)Leutnant ernannt – von angeblich 30.000 jüdischen Offiziersanwärtern.

Der jüdische Anteil unter den Militärärzten war etwas höher (bis zu acht Prozent der aktiven Ärzte und 20 Prozent in der Reserve). Er war allerdings keineswegs hoch genug, um das vielfach in der Literatur und in Karikaturen vorherrschende Klischee vom „typischen“ jüdischen Militärarzt zu rechtfertigen, wie wir es – von Josef Roth bis Franz Theodor Csokor – immer wieder finden.

Im Ersten Weltkrieg dienten etwa 300.000 jüdische Soldaten in der k. u. k. Wehrmacht. Das waren rund drei Prozent der insgesamt über neun Millionen Mann, die 1914 bis 1918 mobilgemacht wurden. Rund 30.000 jüdische Soldaten waren unter den Gefallenen und dauernd Vermissten dieses Krieges. Zahlreiche jüdische Soldaten aller Dienstgrade wurden mit hohen Auszeichnungen dekoriert.

Mehr als 100 Feldrabbiner

Zusätzlich zur allgemeinen patriotischen Begeisterung von 1914 sahen manche Juden in diesem Krieg auch die Chance, ihre in Russland unterdrückten Glaubensbrüder zu befreien und Rache für Pogrome zu nehmen. Ein jüdischer Reserveoffizier, Hugo Zuckermann, schrieb das damals populäre „Reiterlied“ (von niemand Geringerem als Franz Lehár vertont) und dichtete – bereits im Felde – 1914: „Kein Fußbreit Boden darf russisch sein, wir machen die Grenzen breiter!“ Wenig später erlag er seinen im Kampf erlittenen Verwundungen.

Zur Betreuung der jüdischen Soldaten gab es mehr als 100 Feldrabbiner. Wo keine zivilen Synagogen zur Verfügung standen, wurden hölzerne Feldsynagogen errichtet; in zahlreichen Kasernen und Militärspitälern gab es Gebetsräume.

Trotz des Einsatzes der jüdischen Soldaten nahm der Antisemitismus während und vor allem nach dem Krieg zu – nach der Niederlage warf man ihnen vor, sich vor der Front gedrückt zu haben. Nach dem „Anschluss“ von 1938 mussten viele österreichische Juden die leidvolle Erfahrung machen, dass auch Kriegsverwundungen und höchste Auszeichnungen nicht vor dem Rassenwahn der Nationalsozialisten schützten. In den 1990er-Jahren restaurierte das Bundesheer jüdische Kriegerdenkmäler in Wien, Graz und anderen Orten; die Erinnerung an die jüdischen k.u.k. Soldaten ist Teil derTraditionspflege des Bundesheeres, auch wenn heute die Zahl jüdischer Soldaten in Österreich gering ist. ■

Wiener des Jahrgangs 1956. Historiker. Universitätsdozent. Leiter des Fachbereichs Zeitgeschichte am Institut für Strategie und Sicherheitspolitik der Landesverteidigungsakademie Wien. Bücher: u. a. „Österreich im frühen Kalten Krieg 1945–1958 – Spione, Partisanen, Kriegspläne“, „Die Ungarnkrise 1956 und Österreich“ (beide bei Böhlau, Wien). Gleichfalls bei Böhlau erscheint sein Band „Habsburgs jüdische Soldaten 1788–1918“, der am 15. Mai, 19 Uhr, im Jüdischen Museum Wien präsentiert wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2014)

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