Zwei Gesichter einer Stadt

Bis zu meiner Abreise hätte ich nicht geglaubt, dass es etwas Erfreuliches gibt, das die Strapazen einer Reise nach Bagdad lohnt. Dank einer Berlinerin habe ich das andere Bagdad kennengelernt und mich mit meiner Stadt ausgesöhnt. – Eine Literaturlesung der anderen Art.

Eine Kulturveranstaltung auf einem öffentlichen Platz im Herzen Bagdads mit mehr als 500 Zuhörern? Wer hätte das gedacht? Selbst ich hätte mir das weder bei meinen letzten Besuchen in Bagdad seit dem 9. April 2003 (seit also mit dem Einmarsch der Marines nach Bagdad der Diktator Saddam Hussein das Weite gesucht hatte) noch während meines 34 Jahre währenden Exils träumen lassen.

Bis zum Tag meiner Reise hätte ich nicht geglaubt, dass es etwas Erfreuliches gibt, das die abenteuerlichen Strapazen einer Reise nach Bagdad lohnt, am allerwenigsten eine Literaturlesung. In den Nachrichten aus dem Irak hört man ja täglich nur von Autobomben, sodass es nur eine Frage des Glücks, eine Art russisches Roulette zu sein scheint – man muss nur zur falschen Zeit am falschen Ort sein –, ob man Opfer des Terrorismus wird.

Allein in den vergangenen zwei Jahren hat al-Qaida mehr als 2000 blutige Anschläge verübt, die mehr als 6000 Todesopfer und 20.000 Verletzte unter den Irakern gefordert haben, ganz zu schweigen von unzähligen Fällen psychischer Belastungsstörungen aufgrund der anhaltenden Gewalt und des Terrors, den die Männer der al-Qaida und des Islamischen Staates im Irak und in der Levante (ISIS beziehungsweise ISIL) verbreiten, seitdem sie Anfang vergangenen Jahres in Al-Anbar und in Fallujah die Kontrolle übernommen haben. Mittlerweile kontrollieren sie auch Abu Ghreib, das nur 30 Kilometer von der Stadtgrenze Bagdads entfernt liegt.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass viele aus meinem Freundeskreis meine Besuche in Bagdad für absolut wahnwitzige Abenteuer halten – „eine Art Selbstmord“, wie eine Freundin kommentierte. Wie viel wahnwitziger muss da erst die Veranstaltung einer Lesung dort erscheinen!

Eine solche Reaktion ist nur zu verständlich, habe ich doch selber lange nachgedacht und gezögert: Ist es vernünftig und denkbar, das Programm so durchzuziehen, wie ich es vorhabe, also auf einer Freiluftbühne mitten in Bagdad öffentlich aufzutreten, um aus meinem jüngsten Roman vorzulesen, während neben mir ein Bagdader Musikensemble klassische Musik darbietet (so wie es das Programm vorsah, das mir Hella Mewis aus Bagdad geschickt hatte)? Und mehr noch: Ist es vernünftig und denkbar, dass neben mir eine blonde Frau sitzt, die Auszüge aus der deutschen Übersetzung selbigen Romans vortragen soll? Kann man vernünftigerweise davon ausgehen, dass all dies ohne Zwischenfälle im wahrsten Sinne des Wortes „über die Bühne gehen“ wird?

Bis zu dem Moment, in dem die Lesung tatsächlich begann, hätte ich nie damit gerechnet, dass dabei eine regelrecht ausgelassene Stimmung herrschen würde. Bei der Bühne, auf der wir auftraten, handelte es sich im Übrigen eher um ein steinernes Podium, das kürzlich am früheren Standort des Gerichtsgebäudes im Stadtteil al-Qishla am Ufer des Tigris errichtet wurde, an der al-Mutanabbi-Straße, gleich hinter dem berühmten Bagdader Café Shabander.

Das Gerichtsgebäude war nach dem9.April 2003 ein Opfer der Flammen und damit zu einer der vielen Ruinen entlang der historischen al-Rashid-Straße geworden. Die Stadtverwaltung von Bagdad hatte es allerdings unter der Leitung des sehr engagierten Architekten und Stadtratsmitglieds Abdelkarim el-Hamdawi zumindest in Grundzügen instand setzen und die Bühne bauen lassen. El-Hamdawi hatte auch alles darangesetzt, mich aufEinladung des Goethe-Instituts die Bühne einweihen zu lassen. Unsere Veranstaltung sollte nur ein erster Schritt sein, um andere Veranstalter dazu zu animieren, es uns nachzutun. Die musikalischeSeite der Veranstaltunglag in den Händen des Angham-Al-Rafidain-Ensembles, das sich insbesondere mit jener traditionellen Musik beschäftigt, die im Irak und im Iran als „Maqam“ bekannt ist. Eine Lesung mit einem „Maqam“-Ensemble – auch das ein Novum in Bagdad. Die blonde Frau übrigens war die Berlinerin Hella Mewis, Repräsentantin des Verbindungsbüros des Goethe-Instituts in Bagdad, die alles organisiert hatte.

Aber wie konnte das möglich sein? Gibt es am Ende etwa zwei verschiedene Gesichter Bagdads? Einerseits das Bagdad der Autobomben und schallgedämpften Schusswaffen, andererseits das Bagdad der Arbeit und des Frohsinns, des Wissens und des Vergnügens, der Tugendhaftigkeit und der Frivolität, des Lachens und des Weinens, das alles überdauernde Bagdad mit all den Gegensätzen, die das Leben eben ausmachen? Oder handelte es sich einfach um eine Art „Ästhetik des Widerstandes“, um mit Peter Weiss zu sprechen?

Wer Bagdad heute besucht und die eifrige Betriebsamkeit auf den Straßen und Märkten beobachtet, wird nicht glauben, dass dies dieselbe Stadt ist, die immer wieder negativ in den Schlagzeilen von sich reden macht. Allein die Statistik, die das Büro der Vereinten Nationen für den Irak in Bagdad, Unami, im vergangenen März veröffentlichte, spricht von 703 Toten und weiteren 381 Verletzten durch Gewalt- und Terrorakte lediglich im Monat Februar dieses Jahres, wobei die Hauptstadt Bagdad besonders betroffen war.

Trotzdem: Die Leute, vor allem die jungen, sind es leid, immer nur zu Hause zu hocken. Rausgehen und Umherziehen stehen jetzt auf dem Programm, und zwar gerade in den Vierteln im Zentrum der Stadt, wo bis vor Kurzem noch um vier Uhr nachmittags quasi die Gehsteige hochgeklappt wurden, und die danach wie ausgestorben dalagen.

So zum Beispiel in der Saadoun-Straße, die für ihre Hotels, Restaurants, Kneipen und Kinos bekannt ist, und auch an deren Ende, im vornehmen und gleichzeitig einfachen Viertel al-Karradeh. Dort schläft man jetzt erst wenige Minuten vor Mitternacht, wenn die Ausgangssperre einsetzt, manchmal gar noch später, was vor allem für die Anwohner gilt.

Beispielsweise bleiben im Hotel Bagdad, in dem ich einquartiert war, Bar und Restaurant bis ein Uhr morgens geöffnet. Und die Nachtklubs in der Umgebung bis hinüber zur Abu-Nuwas-Straße am Tigris sind gerade in den Stunden derAusgangssperre, also zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens, besonders überlaufen. Diesekleinen Oasen, die sich die Bagdader selbst geschaffen haben, sind durchaus zahlreich. Manche von ihnen florieren nachts, andere am Tage.Die al-Mutanabbi-Straße, wo unsere Veranstaltung ja stattfand, ist sozusagen das Bagdader Paradies des Tages, ganz besonders am Freitag. Für diejenigen, die sie noch nicht kennen, sei erklärt: Die Straße ist die älteste Bagdads, hier entstand im neunten Jahrhundert das erste Buch in der Form, wie wir sie heute kennen, und sei es auch in Gestalt einer großformatigen Handschrift.

Die al-Mutanabbi-Straße, früher auch „Straße der Papierhändler“ genannt, ist der traditionelle Sitz des Buchhandels inBagdad. Hier wurde auch die erste Universität der Welt, das „Haus der Weisheit“, gegründet. Die Straße, die auch als „Straße der Kultur“ bezeichnet wird, zieht mittlerweile nicht mehr nur Leser und Autoren an, sondern auch ein bunt gemischtes jungesPublikum aus Künstlern, Malern und Musikern, die sich zumeist über soziale Netzwerke wie Facebook zusammenfinden und dann in der al-Mutanabbi-Straße Spontanaktionen durchführen. Aber auch viele Bagdader Familien kommen insbesondere am Wochenende hierher, um zu flanieren, und diese Attraktivität hat schließlich auch die Politik auf den Plan gerufen: Namentlich im Wahlkampf finden hier Demonstrationen und Wahlkampfveranstaltungen, sowohl für als auch gegen die derzeitigen Machthaber, statt.

Eine der jungen Frauen, die ich im Anschluss an unsere Lesung kennenlernte, als sie mich um ein Autogramm bat, sagte mir: „Danke, dass Sie extra aus Deutschland gekommen sind. Wir brauchen mehr solche Veranstaltungen.“ Ja, ich weiß, dass die Menschen dort diese Solidarität brauchen, und das ist es letztlich, was es lohnenswert macht, die Mühen dieses riskanten Abenteuers auf sich zu nehmen. Und auch die Freundin der Erstgenannten, Yamam mit Namen, ebenfalls Geigerin, die sich wie alle anderen Anwesenden den Gefahren des Weges gestellt hatte und gar aus einem Viertel am Stadtrand hergekommen war, als sie von der Veranstaltung gehört hatte, machte vor mir keinen Hehl aus ihrerBegeisterung für Kunst und Kultur: „Schönheit wird es in Bagdad nicht geben, solange die Angst regiert. Literatur ist ebenso eine ästhetische Ausdrucksform wie Musik. Beide nähren die Seele, durch sie lassen sich das Gute und der Frieden verbreiten.“ Sie jedenfalls sei bereit, sich auch an die gefährlichsten Orte zu begeben, um „durch Musik und Gesang Freude in die Herzen der Menschen zu bringen“.

Auf der einen Seite also Terrorismus, Autobomben und korrupte Machthaber, auf der anderen Seite dagegen diese jungen Leute, die sich furchtlos dem Tod stellen. Diese jungen Leute sind es, die das neue Bild Bagdads prägen. Gibt es also wirklich zwei Gesichter? Eine Stadt, in der Terroristen Unschuldige eiskalt abknallen, und ein anderes Bagdad, wo sich die Stimmen dieser jungen Leute für Frieden und Nächstenliebe erheben?

Dank gebührt hier insbesondere der Berlinerin Hella Mewis, die sich von der schlechten Sicherheitslage in einem Land, das sich an die Gewalt längst gewöhnt hat, mit der es ständig in die Schlagzeilen gerät, tagtägliche Eilmeldungen über den Tod Dutzender, nicht hat abhalten lassen, auch nicht davon, mir als Führerin durch die Straßen, Gassen und Märkte Bagdads zu dienen. Ohne sie hätte ich niemals dieses andere Gesicht Bagdads kennengelernt, anders als das, was wir aus Fernsehen und Nachrichten kennen: das Bagdad der Hoffnung, des Friedens und der Liebe.

Fremde, die in einer Stadt leben, öffnen einem oft erst richtig die Augen dafür. Und so öffnete mir denn diese Berlinerin die Augen für Bagdad und brachte mich damit dazu, mich nach Jahren des Bruches mit dieser Stadt auszusöhnen. Ich spazierte durch ihre Parks, schlenderte über ihre Straßen, zechte in ihren Kneipen und traf dort Freunde, ich sah Theaterstücke und Filme, kurz: Hella zeigte mir das andere Gesicht Bagdads, das ich so lange vermisst hatte. Nun endlich, nach 34 langen Jahren des Exils und des Vermissens, fand ich es wieder. Dieses Gefühl der Freiheit von Angst, des sorglosen Umherspazierens in der Stadt, als seien wir in Berlin, hätte ich ohne diese mutige Frau ganz sicher nicht erlebt.

Man stelle es sich nur einmal vor: 20 Frauen aus verschiedenen europäischenLändern folgten Hella Mewis und veranstalteten unterschiedlichste Aktivitäten in Bagdad. Man male sich nur einmal aus, was das für Veränderungen in der Stadt auslösen würde. Genauso wird es uns in Zukunft sicher nicht mehr schwerfallen, uns eine Kulturveranstaltung im Herzen Bagdads auf einem öffentlichen Platz unter freiem Himmel vor zahlreichem Publikum vorzustellen. Und genau so werden wir letztlich auch den Terrorismus kleinbekommen! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2014)

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