Am Anfang stand die Wut

Als er Mitte 60 war, habe ich ihn einmal gefragt, ob er, wenn es „Menschen für Menschen“ hilft, noch einmal den Kaiser Franz Joseph spielen würde. Er hat gelacht. Karlheinz Böhm – eine Erinnerung.

Als er Mitte 60 war, habe ich ihn einmal gefragt, ob er, wenn es „Menschen für Menschen“ hilft, noch einmal den Kaiser Franz Joseph spielen würde. Er hat gelacht. Dies ist kein Nachruf, sondern Erinnerung an vieles, was er mir erzählt hat. Er war ein Medienstar, der es brillant verstanden hat, die Medien für seine humanitären Ziele einzuspannen. Wenn es um Geld für MfM ging, hatte er keine Bedenken. Er ließ mit der größten Geduld die unsäglichsten Journalistenfragen über sich ergehen, und wenn eine Kamera dabei war, dann lächelte er sogar noch. Da war er professionell bis zur Selbstverleugnung, denn er brauchte die Medien für sein Lebenswerk.

Seine Arbeit in Äthiopien wurde von Medien kontinuierlich begleitet, aber gleichzeitig auch kontrolliert. Dessen war er sich bewusst, und es war ihm recht. Doch sein Blick auf Menschen war – bei aller Herzlichkeit, deren er fähig war – in Wirklichkeit kühl und abwägend: Nützen sie mir für mein Projekt? Wer mit ihm gut war, sollte sich darüber keine Illusionen gemacht haben.

Am Anfang stand die Wut. Die ganz naive Wut über eine Welt, in der Hunger ebenso selbstverständlich ist wie Überfluss, in der die Lebenserwartung zwischen benachbartenKontinenten um Jahrzehnte auseinanderklafft, in der Schulbildung und reines Wasser Privilegien einer Minderheit sind. Wut kann zur schöpferischen Kraft werden, wenn sie einen Gerechten ergreift – einen, der überzeugt ist, dass diese Welt verändert werden muss. Und der besessen ist von der Idee, dassdas auch geht. Es gibt diesen schönen pathetischen Satz von John F. Kennedy: „One person can make a difference, and everyone should try.“ Danach hat Karlheinz Böhm in den letzten 30 Jahren gelebt.

Er war 53, in einem Alter, in dem der gelernte Österreicher ernsthaft an die Pension zu denken beginnt, als er alles hinschmiss, eine Karriere, die er im Theater, im Film, im Fernsehen noch lange hätte fortsetzen können, um etwas Neues zu beginnen, von dem er zunächst nichts verstand, einzig getrieben von dem – in diesem Fall ist das Wort passend – brennenden Wunsch, beitragen zu wollen, dass es auf dieser Welt etwas weniger ungerecht zugeht.

Er ahnte nicht, wie schwierig es werden würde, wusste aber, dass er viel würde lernen müssen, und hielt sich nach seiner Ankunft in Afrika an den Sokratischen Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Und noch etwas wusste er: dass wir in einem nahezu kriminellen Wirtschaftssystem leben. Später, als er immer mehr wusste und immer radikaler wurde, hat er „nahezu“ weggelassen, womit der Satz schlanker wurde: Wir leben in einem kriminellen Wirtschaftssystem.

Begonnen hatte es mit einer sprachlich eher verhatschten Wette bei „Wetten, dass..?“im Mai 1981. Er wollte Geld sammeln für ein vages afrikanisches Hilfsprojekt, und da er sich nicht wirklich überlegt hatte, wohin das Geld der Zuseher geschickt werden sollte, schlug er als Adressaten die drei Bundespräsidenten von Deutschland, Österreich und der Schweiz vor.

Bundespräsident Kirchschläger hat bei einer Feier zu Böhms Siebziger witzig erzählt, wie das war, als am Montag die Kuverts mit dem Geld kamen und zunächst große Ratlosigkeit herrschte – an sich ein Traum: Hunderttausende schickten einen Zehner, bis jemand sich meldete, der die Sendung am Samstagabend gesehen hatte. Insgesamt kamen aus drei Ländern zwölf Millionen Schilling. Und nun gab es kein Zurück, es musste etwas damit geschehen. So ist Karlheinz Böhm in sein neues Leben gestolpert.

Später schrieb er darüber in seiner Autobiografie. „Ich habe 53 Jahre gebraucht, um meineWurzeln zu finden unddamit meine Zukunft.“Aber gleichzeitig hat ersich selbst, obwohl er damit aufgehört hatte, bis zum Schluss als Schauspieler verstanden, und zwar als einen, der spät, aber doch die Rolle seines Lebens gefunden hatte. Vielleicht war das der Grund, warum er an keiner österreichischen Universität einen Lehrauftrag über Entwicklungszusammenarbeit hatte. Er hätte viel Gescheites und Wichtiges erzählen können. Zum Beispiel über seinen Beginn im Erer-Tal mit analphabetischen Halbnomaden, wo jeder Ethnologe gesagt hätte: Hände weg! Das ist zu schwierig. Er hat es trotzdem versucht, und heute gehen Enkel der Analphabeten an die Universität. Die Bildungsfrage ist nach wie vor ein zentrales Anliegen von MfM – ganz in der Tradition der großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, als sie die „Enzyklopädie“ schrieben. Und die Frauenfrage: „Nur wenn wir die soziale Stellung der Frauen verbessern, wird Äthiopien dauerhaft die Armut überwinden können“, schrieb Karlheinz Böhm 2006. Dem dienen spezielle Kurse und Kleinstkredite für Frauen, aber auch der Kampf gegen äthiopische „harmful traditions“: die Beschneidung der Mädchen und ihre Verheiratung mit zwölf Jahren, manchmal sogar noch früher. Die Frauenfrage sei die Schlüsselfrage, erklärte Karlheinz Böhm bei einem Gespräch im Parlament auf Einladung von Barbara Prammer. „Die Zukunft ist weiblich“, heißt es programmatisch in einer Broschüre von MfM.

Er war ein Pedant, nicht einfach im Umgang, und pedantisch korrekt ist er mit dem Geld seiner Spender umgegangen. Ich war dabei, wie er Brunnen kontrolliert hat, ob sie funktionieren. Und er hat ganz früh auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ gesetzt: Mitarbeit und Eigenleistung sind eine Grundbedingung bei MfM-Projekten. Nur das schätzen und pflegen die Menschen wirklich, was sie gemeinsam erreicht haben, war Böhm überzeugt.

Aber ein Star ist er geblieben: zuerst im Film, dann in Äthiopien, wo ihm als „Mister Karl“ eine unglaubliche Verehrung entgegenschlug. Wer je erlebt hat, wie die Menschen ihn wenigstens kurz berühren wollten, der erkennt die Insignien eines Stars. Und da sein Projekt erfolgreich war, wurde er im deutschen Sprachraum zu einem noch größeren Star als zuvor, aber jetzt in einem anderen Metier.

„Der beste Österreicher“ lautete eine Cover-Geschichte im „profil“, April 2001: „Er war ein fescher Filmstar. Dann rettete er Millionen Menschen. Warum er?“ Sibylle Hamann hat darüber eine differenzierte Geschichte geschrieben, in der auch Böhms Naivität, die ihm bei der Arbeit geholfen hat, nicht zu kurz kommt: „Niemals sei er in 20 Jahren Afrika betrogen, ausgenützt oder hintergangen worden.“ Almaz Böhm, KarlheinzBöhms kluge Ehefrau, hätte das nie so gesagt.

Es ist ja nicht die Regel, aber manchmal wird Edelmut auch belohnt. Mit nahezu 60 lernte Karlheinz Böhm nach drei gescheiterten Ehen die mehr als 30 Jahre jüngere Äthiopierin Almaz Teshome kennen, die als Rinderzuchtexpertin in seinem ersten Projekt im Erer-Tal arbeitete. 1991 haben sie geheiratet und haben zwei mittlerweile erwachsene Kinder. Das brachte eine bisher kaum gekannte familiäre Stabilität in sein Leben.

Im Lauf der Jahre hat Almaz Böhm mehr und mehr Leitungsaufgaben bei MfM übernommen. Es war ein behutsamer Übergang, bis sie nach der Erkrankung ihres Mannes vor einigen Jahren die Chefin wurde. Besonders stabil scheint Karlheinz Böhms Leben vor seiner Zeit in Äthiopien nicht gewesen zu sein. Eine Kindheit mit schwierigen Eltern, ein Selbstmordversuch als Schüler mit 18, der nur zufällig nicht gelingt und über den anschließend daheim nicht geredet wird. Aber mit 20, im Jahr 1948, seine erste winzige Filmrolle im „Engel mit der Posaune“, wo er als Regieassistent für Karl Hartl arbeitet. Als für die Schlussszene noch ein Sohn gebraucht wird, schickt ihn der Regisseur vor die Kamera: „Stell dich hin und schau gscheit aus!“ So begann es.

Weitere Filme folgten ab 1952 dicht hintereinander, bis der große Erfolg beim deutschsprachigen (und später nicht nur bei diesem) Publikum kam – mit der „Sissi“-Trilogie 1955 bis 1957. Romy Schneider hat bekanntlich bald danach an diesem Erfolg zu leiden begonnen, Karlheinz Böhm ebenfalls. Er drehte 1959 in England „Peeping Tom“, spielte darin einen sadistischen voyeuristischen Frauenmörder und war deswegen so erschreckend gut, weil er auch als Unhold sein harmlos-freundliches Kaiser-Franz-Joseph-Gesicht behielt. Ein großartiger Film mit einem großartigen Böhm, aber damals ein Flop und Skandal. Der „New Statesman“ schrieb: „Dreck.“ Und „Daily Tribune“ forderte, der Film sei „so schnell wie möglich in der nächsten Toilette hinunterzuspülen“: „Selbst dann würde der Gestank zurückbleiben.“

Heute gilt „Peeping Tom“ als Meisterwerk. „Peeping Tom“ und „Martha“ hatKarlheinz Böhm als seine besten Filme bezeichnet. Daran fällt auf, dass er in beiden einen Sadisten spielt – aber nicht wie Klaus Kinski mit Schrecken einflößender Visage, sondern ganz im Gegenteil, viel raffinierter. „Martha“ von Rainer Werner Fassbinder war auch deswegen für Karlheinz Böhm so wichtig, weil Fassbinder selbst für ihn so wichtig war. Fassbinder hat ihn mit der ihm eigenen Drastik endgültig von seinem Sissi-Komplex befreit: „Scheiß dich nicht an! Das gehört zu deinem Leben. Und aus!“

Böhm hat in größeren und kleineren Rollen, zum Beispiel in der schönen Effi-Briest-Verfilmung, bei Fassbinder mitgespielt und hat sogar einen kurzen Versuch unternommen, in der Fassbinder-Kommune zu leben.

Wie das schiefging, hat er mir einmal ziemlich komisch erzählt. Denn Karlheinz Böhm war zwar politisch ein „Achtundsechziger“ geworden, aber da war er schon 40 und zudem konditioniert durch eine bürgerliche Erziehung mit Werten wie Anstand, Fleiß, Gehorsam, Respekt. Die Kommune ist nicht seine Welt geworden.

Im Epilog seiner Autobiografie, „Mein Weg“ (1991), setzt sich Karlheinz Böhm, damals 63, mit dem Tod auseinander. Er erwähnt zwei konkrete todesnahe Erfahrungen und stellt fest, „dass ich eine Angst vor dem Tod effektiv nicht kenne“. Er beruft sich auf Mozart, wo es in der „Entführung aus dem Serail“ heißt: „Was ist der Tod? Ein Übergang zur Ruh!“ Und auf einen Brief Mozarts, in dem dieser den Tod als „Endzweck unseres Lebens“ und „wahren besten Freund des Menschen“ bezeichnet. Dem fügt Böhm hinzu: „Es gibt nichts in der Literatur oder in religiösen Schriften, mit dem ich mich mehr identifizieren kann als mit diesem Brief des 31-jährigen Mozart.“

Böhm schreibt aber auch, wovor er Angst habe, sei eine schwere Erkrankung, die ihn an den Rollstuhl fesselt: „Oder die mein Gehirn teilweise ausschaltet, dass ich mich nicht mehr ausdrücken kann.“ Es ist eine grausame Ironie des Schicksals, dass gerade bei ihm, der bis ins hohe Alter so aktiv war, am Ende der totale Rückzug stand. Er war immer entschlossen gewesen, dem Rat seines berühmten Vaters, Karl Böhm, der bis zum Schluss dirigierte, zu folgen: „Wennst nimmer arbeiten kannst, dann leg dich gleich in die Gruabn.“ So vieles im Leben ist ihm gelungen, aber ausgerechnet das nicht.

Die Fortführung seines Lebenswerks hat die Witwe Almaz Böhm schon vor Jahren übernommen, als ihr Mann noch gesund war. Es war Karlheinz Böhms innigster Wunsch, dass „Menschen für Menschen“ unter ihrer kompetenten Leitung den Tod seines Gründers überlebt. Dazu braucht es Spenden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2014)

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