Augensex und Kehlenbrutalität

Unter Russlandverstehern. In der Serie „Expedition Europa“.

Ich kenne einen der bestvernetzten Lobbyisten Europas, sein Kunde ist ein führender russischer Konzern. Über Monate habe ich ihn angefleht, mich in Brüssel zu empfangen. In Zeiten wie diesen brauche ich wen zum Reden. Ich liebe nämlich das Russische. Ich kann mir nicht helfen. Da ist die gutturale Brutalität und die streichelnde Zärtlichkeit der Sprache; die Erhabenheit der kyrillischen Schrift; eine tiefe, großzügige Philosophie gerade bei einfachen Menschen; da ist eine höhere Sexualität des Alltags. Ich brauche nur den Anklang eines russischen Chansons, das gerillte Metall eines postsowjetischen Schlafwaggons oder – reden wir nicht drum herum! – einen Augenaufschlag slawischer Weiblichkeit zu erhaschen, und ich genieße eine stärkere Dosis Leben.

„Russkij mir“, die „russische Welt“, ist weit größer als die Russische Föderation. Da mich an Russland selbst immer der Kult der Staatsgewalt abstieß, fuhr ich lieber in freiere, vielschichtigere, kulturell, aber doch irgendwo auch russische Länder – nach Moldawien und in die Ukraine. Diese Welt zerbricht gerade vor unseren Augen.

Seit ich die Brüsseler Europablase kenne, faszinieren mich Lobbyisten, die für Großkunden verschiedener Art charmieren. Das sind Hexenmeister dermenschlichen Kommunikation, aber nur dieser eine rührte mich fast zu Tränen. Ich führte mit ihm vor Jahren ein hartes Interview. Am Ende beschrieb er die Furcht des Westlers vor dem Russen, „der mit eingefrorenen Gesichtszügen dasitzt und auf den Tisch klopft mit dem Schuh“.

Russische Seele, Salat in Plastik

Er stellte dem seine Erfahrung gegenüber, dass die „russische Seele sehr stark auf persönliches Vertrauen aufbaut“, verglich russische Freundschaft mit der Entmenschlichung im angelsächsischen Raum und fügte hinzu: „Ich bin mir sehr sicher, dass viele Leute, die ich in Moskau kennengelernt hab, nie mehr aus meinem Leben verschwinden werden.“ Ich musste schlucken.

Nun erwarte ich ihn in Brüssel, in einem typischen Euro-Café mit plastikverpackten Salaten. Ich falle mit der Tür ins Haus: „Seit Russland die Separatisten in der Ostukraine unterstützt, ist es mit meinem Verständnis aus. Und Sie, vertrauen Sie Ihren russischen Kunden noch?“ Er zögert nicht: „Mein Vertrauen ist intakt.“ Der Lobbyist ist ein Landsmann, hat denselben Zungenschlag wie ich, vielleicht bringe ich ihm deswegen ein instinktives Vertrauen entgegen. Als Österreicher sind wir neutral, was eine Tugend wäre in Zeiten, in denen auch Europa gespalten ist in Kalte Krieger und Russlandversteher. „Es ist schwierig, aus meinem warmen Sessel zu urteilen“, sagt er, „ich versuche mich zu bilden.“ Er spricht von „Propaganda auf beiden Seiten“. Nach 17 Jahren in Brüssel, darunter auf Spitzenpositionen in der Europäischen Kommission, „kann mir niemand erzählen, wie Propaganda funktioniert“. Im Gegensatz zu mir verfolgt er nicht das russische Fernsehen, seine Neutralität ist vollkommen.

Ich behaupte: „Das Grundproblem der Russen ist unheilbar. Sie haben den Kalten Krieg verloren, ohne einen Schuss abzufeuern. Seitdem arbeiten sie sich an Amerika ab.“ Er entgegnet: „Das Grundproblem war der Umgang mit Russland. Das Nichtverstehen der russischen Phobien hat uns zum Teil dorthin gebracht, wo wir jetzt sind.“ Es gibt nichts, worin ich ihm nicht recht gebe: „Die Ukraine-Krise ist eine Metapher dafür, dass Bürokraten ohne politisches Gespür das Ruder übernehmen.“ Nun „verlieren sowohl Russland als auch die EU“. Nur zu meiner Bewertung, dass gerade Russland in der Ostukraine den Weg des größtmöglichen Blutvergießens geht, bleibt er zurückhaltend. Ich danke für ein gelungenes Gespräch. Die Einsamkeit, in die mich die Liebe zum Russischen stürzt, bleibt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2014)

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