In der österreichischen Selbstdarstellung scheint es nur Kaiser oder Bergbauern zu geben. Allein der Begriff „Alpenrepublik“ macht mich trübsinnig. Über Heimat, nationale Identität und was beide unterscheidet: ein Nachdenken mit und entlang von Max Frisch.
Wenn ich nicht schreiben kann, beginne ich ein neues Tagebuch. Nicht schreiben zu können ist keine gute Voraussetzung für das Schreiben, nicht einmal für das Schreiben eines Tagebuchs. Selbstmitleid, Selbstbezichtigungen, Vorsätze: Wenn ich das alles weglasse – was bleibt dann? Bessere Frage: Was soll bleiben?
Diese neue Mappe hat die fortlaufende Nummer 21. Aber ich habe nur noch drei Mappen in meinem Besitz. Zumindest finde ich nur noch drei. Ich habe den Großteil meiner Tagebücher vernichtet. Ich habe alle Tage gebucht, fast alle Erinnerungen storniert. Insofern ist es schließlich keine Lüge, wenn ich jedes Mal die Frage, ob ich Tagebucheintragungen mache, verneine. Als Student hatte ich eine Freundin, die mir, als wir uns trennten, ihr Tagebuch schenkte, mit den Worten: „Damit du siehst, wie es mir ging, während ich mit dir zusammen war!“ Ich habe es nie gelesen und irgendwann weggeworfen. Warum soll ich Tagebuch schreiben, wenn mich erwiesenermaßen nicht einmal ein Tagebuch interessiert, in dem ich vorkomme.
Habe ich mich davor gefürchtet zu lesen, wie diese Freundin mich gesehen, was sie über mich gedacht hat? Es war mühsam, ihre Handschrift zu entziffern. Heute würde ich ihr Tagebuch gerne lesen. Ich glaube, ich wäre gerührt. Von mir.
Reminiszenzen: Man erinnert sich ja an sonst nichts. Das stimmt nicht. Man muss es sich nur bequem machen. Ich habe jetzt Holz in den Ofen geworfen, Feuer gemacht, mich in den Lehnsessel gesetzt, und erinnerte mich augenblicklich daran – wie ich als Student Descartes' „Meditationen“ gelesen habe. Genau diese Situation: diesen Ofen geheizt, in diesem Sessel gesessen. In den Ferien bei meiner Großmutter mütterlicherseits in Niederösterreich, deren Haus ich dann geerbt habe. Und wo ich jetzt bin.
Man will es sich bequem machen, um lesen und schreiben zu können – dann liest man in der Zeitung, man sei „ein Unbequemer“!
Vor Jahren habe ich Walter Kempowski kennengelernt. In Frankfurt, während der Buchmesse. Wir wurden einander vorgestellt, und er fragte mich sofort, ob ich ein Tagebuch führe, ein Schriftsteller müsse ein Tagebuch führen, man sei kein Schriftsteller, wenn man kein Tagebuch führe. Mich irritierte, dass er ununterbrochen das Verbum „führen“ in Zusammenhang mit Schreiben verwendete. Ich antwortete: „Ich will erst lernen, ein Leben zu führen.“ Ich habe damals keinen Eintrag in mein Tagebuch gemacht, zumindest finde ich es nicht mehr, aber bis heute erinnere ich mich an seine großen traurigen Augen hinter seinen Brillengläsern.
Ich finde ein Tagebuch aus dem Jahr 1984. Darin ein Eintrag, dass ich einen Band der Tagebücher von Thomas Mann zu lesen begonnen und diese Lektüre bald wieder abgebrochen habe. Nach einem Konzertbesuch hatte Thomas Mann notiert: „Publikum war begeistert, ich teilweise angetan.“ Nach diesem Satz hatte ich nicht mehr weiterlesen können.
Die Leser als Koautoren
Ich lese in den Tagebüchern von Max Frisch. Immer wieder. In manchen Momenten habe ich das Gefühl, ich hätte diese Tagebücher selbst geschrieben. Max Frisch schreibt nicht kokett für, sondern mit dem Leser. Nicht mit dem repräsentativen Gestus von Thomas Mann, sondern mit dem Anspruch, gemeinsame Gedanken herzustellen. Diese, und nicht der große Gestus des Autors, sind repräsentativ für die Gesellschaft. So vieles ist fragwürdig. Max Frisch bringt die Leser dazu, sich den Fragen zu stellen. Die Antworten fließen in den Text ein. Die Leser als Koautoren. Wir alle.
Ich vermerke bei den Eintragungen kein Datum mehr. Datum – wozu? Ist ein Gedanke, eine Beobachtung, ein Erlebnis es wert, dass ich mich daran erinnere, dass es also bleibt, wozu das Datum? Es gibt kein Datum, das das Bleibende umfasst. Höchstens das Ablaufdatum. Aber kann man so Tagebuch führen: Bei jedem Eintrag den Vermerk „Mindestens haltbar bis . . .“ Solange ein Leben am Ende auf einen Namen, zwei Zahlen und einen Strich dazwischen reduziert werden kann, leben wir nicht in einer Informationsgesellschaft. Nur die Dichter finden ihre ewige Ruhe in Bibliotheken.
Soeben ist das lange gesperrt gewesene „Berliner Journal“ von Max Frisch in Auszügen erschienen. Bei der Lektüre sind plötzlich wieder die Maßstäbe da, Maßstäbe für eine schriftstellerische Existenz. Es geht darum, für etwas einzustehen, es geht um eine Haltung, die mehr ist als die Wirksamkeit eines Buchs. Selbstzweifel als Voraussetzung. Genau in dieser Zeit, als er in Berlin lebte und das „Berliner Journal“ schrieb, wurde ihm der große Schiller-Preis der schweizerischen Schiller-Stiftung zugesprochen. Der Festakt fand im Zürcher Schauspielhaus statt. Anschließend Essen auf Einladung der Stadt Zürich im Muraltengut. In seiner Dankesrede, die kontroversiell aufgenommen und schließlich berühmt wurde, sprach er über „Die Schweiz als Heimat“. Ein Dreivierteljahr davor hatte er noch in seinem Berliner Tagebuch notiert: „Die Heimat beschäftigt mich nicht, weder als Objekt der Kritik noch als Objekt privater Erinnerung.“
Das ist typisch für Heimatliebe: dass man sich dies an anderen Lebensorten vorsagt beziehungsweise vorschreibt.
Auf YouTube Max Frischs Rede „Die Schweiz als Heimat“. Eine wunderbare Rede. Aber es ist deutlich: der große Max Frisch sehr unsicher. Er ist erleichtert, wenn es ab und zu einen Lacher gibt. Dann hält er inne und atmet durch, befeuchtet seine Lippen. Am Schluss großer Applaus. Erst danach war es ein Skandal. Er notiert in sein Tagebuch einen „Ausspruch zwischen zwei Herren (wahrscheinlich von der hohen Behörde) im Muraltengut: ,Wenn es wenigstens revolutionär wäre, was er sagt, so könnte man etwas dagegen machen, es ist aber nur nihilistisch.‘“
Worin bestand der Skandal? Max Frisch hat Fragen gestellt. Wer ihn missverstand, glaubte, er habe die Heimat infrage gestellt. Solange es Menschen gibt, die glauben, man dürfe die Heimat nicht infrage stellen, so lange muss man die Heimat infrage stellen.
Seit ich mich mit dem europäischen Einigungsprozess beschäftige, beschäftigt mich auch die Frage, was meine Heimat ist. Es ist nicht Österreich. Mein Problem mit „österreichischer Identität“: In der österreichischen Selbstdarstellung scheint es nur Kaiser oder Bergbauern zu geben. Die imperialen Kulissen der ehemaligen kaiserlichen Residenzstadt Wien oder die Almen und Skihänge der „Alpenrepublik“. Alleine der Begriff „Alpenrepublik“ macht mich trübsinnig. Gibt es ein Kompositum mit „-Republik“, mit dem deutlicher ausgedrückt wird, dass im Mittelpunkt der öffentlichen Angelegenheiten nicht die Menschen stehen? Berge. Ich habe nichts gegen das Landleben. Aber ich habe etwas gegen Berge, wenn sie zum Identifikationszwang für ein ganzes Staatsvolk, auch für die Städter, werden. Nationale Identität ist eine Fiktion. Heimat ist ein Menschenrecht.
Der Berg als Metapher: Es ist schwierig hinaufzukommen. Oben ist es unwirtlich.
In Wien gibt es keine Berge. Aber in der Wiener Innenstadt gehen viele Bürger in Loden, Trachten und Dirndln. Höflich lüften sie ihre Steirerhüte. Stolz schwillt deren Brust unterm Pfoadl. Ein städtisches Bürgertum, das sich über Antiurbanität definiert. „Stadtförster und Cityjäger“ hat Anton Kuh sie genannt. Vor allem „Jäger“ ist stimmig. Denn Österreich ist eine Jagdgesellschaft. Immer auf der Jagd nach Sündenböcken. Aber man hat sich fortgebildet und weiß jetzt: Man kann nicht jeden Bock gleich abknallen. Der gute Jäger ist ein Heger. Der Sündenbock muss groß werden. Aber wenn er am Ende erlegt ist, was notwendig ist zur Flurerhaltung, dann ist er eine Trophäe, zu der man verliebt aufblickt: ein Sechzehnender! Das ist das Mindeste.
Zum Beispiel Thomas Bernhard. So „unbequem“ er gewesen sein mag, schließlich wurde auch er zum Stolz der Jäger. Dieselbe Nationalität – keine Gemeinsamkeit.
Ich habe heute Abend zu viel getrunken. (Max Frisch im Berliner Journal: „Ich trinke zu viel.“) Musste jetzt an Elfriede Jelinek denken. Schlaflos und enthemmt schrieb ich ihr eine Mail. Irgendetwas über Österreich und Depressionen. Ich bereute augenblicklich, dass ich auf „Send“ geklickt hatte. Nehme diese Fähigkeit zur sofortigen Reue als Zeichen, dass ich doch nicht zu viel getrunken habe. Elfriede Jelinek antwortet wenige Minuten später. Sehr freundlich und aufmunternd. Sie schreibt: „Wir leben in einer anderen Republik.“ Ein Lebenszeichen. Das machte mich glücklich.
Österreich-Kritik ist so klischeehaft wie Österreich. Aber ein Klischee kann nur entstehen, wenn es immer wieder durch die Realität beglaubigt wird. Der Tod. An der Heimat. Für die Heimat.
Ich erfahre, dass ich den Max-Frisch-Preis zugesprochen bekommen habe. Ich soll eine Dankesrede halten – im Zürcher Schauspielhaus, an dem Ort, wo Max Frisch, ungefähr in meinem Alter, seine Dankesrede „Die Schweiz als Heimat“ gehalten hat. Danach Essen auf Einladung der Stadt Zürich im Muraltengut.
Ich 1973: schüchtern, unpolitisch
Max Frisch in seiner Rede „Die Schweiz als Heimat“ über den Putsch in Chile 1973. Ich erinnere mich daran, dass ich mich damals zu meiner eigenen Überraschung mit geballter Faust demonstrieren sah. Ich bin ein schüchterner, verträumter junger Mann am Beginn eines Studiums der Philosophie gewesen. Ich habe Liebesgedichte geschrieben. Ich war nicht im Mindesten politisiert. Mein Verhältnis zu Politik bestand aus schlichter Dankbarkeit. Die Amerikaner haben uns vom Faschismus befreit, die Amerikaner haben uns Demokratie gebracht – und Fortschritt. Die Amerikaner wachen über die freie Welt, verteidigen die Demokratie. Meine Eltern und Großeltern und meine Lehrer in der Schule haben das verbürgt.
Ich war übersensibel, errötete leicht, zum Gaudium meiner Mitschüler. Ich war kein Raufer und kein Kämpfer. Mein Vater sagte, wir leben in der besten aller Welten. Das haben wir den Amerikanern zu verdanken. Ich haderte nicht mit der Welt, sondern nur mit meiner Schüchternheit gegenüber Mädchen. Und da putschen die Amerikaner den frei gewählten Präsidenten eines souveränen Staats weg, ermorden ihn und setzen einen faschistischen Diktator an seine Stelle. Wenn man mir gesagt hätte, dass meine Eltern nicht meine richtigen Eltern sind, der Schock hätte nicht größer sein können.
Was sie gesagt hatten, hat sich als Lüge erwiesen. Ich habe Steine auf die amerikanische Botschaft in Wien geworfen.
Max Frisch stellte die Frage, warum die Schweiz das faschistische Regime in Chile sofort anerkannt hat. Und ob er von seiner Heimat, hier Synonym für Nation, nicht anderes hätte erwarten können. Wie wenig Menschen in ihrer Bequemlichkeit aufgeschreckt waren. Auch Österreich hatte die Faschisten sofort diplomatisch anerkannt. Wie wenig Menschen damals in Wien demonstrierten. Ich sah mich bei dieser Demonstration von außen. Das war nicht ich. So kannte ich mich nicht. Dann schlüpfte ich in mich hinein. Ich wurde ein anderer: ich.
Ich gehöre einer anderen Generation an als Max Frisch, aufgewachsen in einem anderen Staat. Aber wir alle haben nur ein Leben: das Gemeinsame. „Es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten“, schrieb Max Frisch in sein Tagebuch. Diese Zeit ist noch immer nicht, auch wenn wir heute aus dem Ich einen Fetisch und zugleich in Form der „Ich-AGs“ ein Verhängnis machen. Aber wie kann ein kollektiver Irrtum ein wahres Ich begründen? „Und doch“, schreibt wieder Max Frisch, „vollzieht sich das unendliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich, nirgends sonst.“ Dies stimmt noch immer.
Heimat im weitesten Sinn: in sich selbst zu Hause sein.
Wenn sich Politik, Ideologie und Anstand damals nicht in so radikalem Widerspruch gezeigt hätten oder wenn sich zumindest Österreich anständiger verhalten hätte und ich daher nicht aus Protest ein anderer geworden wäre – wie wäre ich heute? Glücklicher? Bequemer? Oder war es für mich unvermeidlich, ich zu werden?
Es muss eine andere Heimat geben, eine, in der alles unschuldig ist, was man tut – weil unsere Taten die Konsequenzen tatsächlich nicht haben, die wir heute bloß verdrängen.
Im Spiegel sehe ich manchmal den Jungen, der ich gewesen bin. Auf Fotos sehe ich ihn nie.
Die Plakate für die Wahl zum Europäischen Parlament vermitteln den Eindruck, dass nicht Parteien um Wähler werben, sondern Feldherren Freiwillige suchen zur Verteidigung der Heimat. Alle Parteien, auch die sogenannten proeuropäischen, versprechen, die österreichischen Interessen im Europäischen Parlament besser zu vertreten als die anderen. Sie wollen in eine supranationale Institution einmarschieren, um dort nationale Interessen zu verteidigen. Mir fällt kein Interesse ein, das ich verteidigt wissen möchte gegen Menschen jenseits von Grenzen, die nicht mehr existieren.
Nationale Politik: Als wären die Menschenrechte ein Kuchen, und jeder schaut, dass er ein größeres Stück davon bekommt. Dann sitzen sie da, nachdem sie nichts übrig gelassen haben, sind satt und sind noch immer nicht befriedigt. Zugleich haben sie, aus eigenem Verschulden, zu Recht Angst davor, dass es morgen nicht genug gibt.
Thema für meine Rede in Zürich: „Die Heimat als Schweiz“. Multiethnisch, vielsprachig, differenziert in einer Vielzahl gewachsener Mentalitäten und Kulturen. Aber im Wesentlichen gleiche Rahmenbedingungen für alle. Identitätsstiftend der Kanton, nicht die Nation. Nachhaltiger Friede.
Wenn gesagt wird, dass das, was die EU werden soll, nicht möglich ist, wieso gibt es dann die Schweiz? Ich kann und will mir kein Europa vorstellen, in dessen Mitte ein schwarzes Loch ist.
Max Frisch in seiner Rede „Die Schweiz als Heimat“: „Was unsere jüngeren Landsleute politisch beheimaten könnte: ein konstruktiver Beitrag zur Europapolitik.“ Integration der Kantone in das Europa der Regionen. Wenn er Heimat sage, so Frisch, dann könne er sich nicht begnügen mit der emotionalen Verbindung zu dem Ort, wo er aufwuchs, zur Mundart und so weiter. Zu seiner Heimat gehöre auch die Schande, zum Beispiel wegen der Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkriegs oder wegen anderem, das zu seiner Lebenszeit geschah oder nicht geschah.
Die Heimat als Schweiz, das wäre Heimat, in der dies und solches als unteilbare, gemeinsame europäische Schande empfunden würde – was die Schweizer entlastet, aber nur, wenn auch sie diese Schande empfinden.
„Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Ernst Bloch, 1935 im Schweizer Exil.)
Skizze. Sie suchten eine neue Wohnung. Er war nicht unzufrieden mit der Wohnung, in der sie lebten. Hier waren sie eingezogen, als sie geheiratet hatten. Hier hatten sie ein Kind groß gezogen. Hier hatten sie von Zeit zu Zeit die Möbel umgestellt, sie hatten zwei Mal neu ausgemalt, sie hatten die undichten Fenster renovieren lassen. Die Lage war gut: Er konnte den Großteil der Wege, die er hatte, zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen. Und er freute sich immer, wenn er heimkam. Er hatte vor seiner Heirat sehr unstet gelebt, diese Wohnung war nun mit dem Gefühl verbunden, angekommen zu sein, ein Zuhause zu haben. In der Küche könnte man noch einiges modernisieren, aber das Wohnzimmer war perfekt, er konnte sich kein besseres vorstellen: an allen Wänden Bücher bis zur Decke, bequeme Sitzmöbel, ein großer Fernsehapparat, fast ein Heimkino. Er hatte gedacht: wenn es ihm vergönnt sein sollte, zu Hause zu sterben, dann würde es in dieser Wohnung sein. Mit Blick auf Vertrautes, auf Raum gewordene Zeit: Erinnerungen.
Nun war ihre Tochter ausgezogen, und seine Frau meinte, sie sollten sich verändern. Sie hätte gerne eine andere Wohnung. Das Kinderzimmer steht leer, und sie bräuchten dieses Zimmer nicht. Aber sie hätte gerne eine Wohnung mit Terrasse. Es wäre vielleicht ein Nullsummenspiel: eine Wohnung mit einem Zimmer weniger, dafür mit einer Terrasse, für dasselbe Geld.
Sie studierte Inserate, machte Termine mit Maklern aus. Am Anfang ging er mit, Wohnungen besichtigen. Er war fassungslos. Er hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie andere Menschen lebten. In diesen Wohnungen, die ihnen gezeigt wurden, mussten andere Menschen gelebt haben. Oder, falls es neu gebaute Wohnungen waren: Hier würden Menschen einziehen und leben. Es war für ihn unvorstellbar. Sie alle, dachte er, zahlten einen zu hohen Preis für Wohnungen, die kein Zuhause sein konnten. Er ging nicht mehr auf Besichtigungen mit. Ich bleibe zu Hause, sagte er. Eines Tages rief ihn seine Frau an: Ein letztes Mal bitte ich dich noch. Ich glaube, ich habe unsere Wohnung gefunden. Komm sofort her, wir müssen uns schnell entscheiden. Wenn du nein sagst, werde ich dich nie wieder mit Wohnungssuche behelligen. Er nahm ein Taxi. Als er die angebotene Wohnung betrat, hatte er einen unerwarteten Gedanken. Er dachte sofort: Ja, hier will ich alt werden.
Die Konditionen waren gut. Nun ging alles sehr schnell. Die Vertragsunterzeichnung, die Zwischenfinanzierung, die Organisation der Übersiedlung. Erst danach, als er sein neues Viertel erkundete, bemerkte er: Er wohnte jetzt um die Ecke von dem Haus, in dem seine Großeltern väterlicherseits gewohnt hatten. Nach der frühen Scheidung der Eltern war er bei den Großeltern untergebracht worden, da seine Mutter wieder arbeiten gehen musste. Hier, bei ihnen, hatte er im Grunde seine Kindheit verbracht. Nun stand er vor diesem Haus. Seit dem Tod der Großeltern, vor etwa 35 Jahren, war er nicht mehr hier gewesen. Dort oben, von diesem Fenster im zweiten Stock hatte er hinuntergeblickt auf diese Straße, auf das Geschäft gegenüber mit dem Schild „Schreibwaren“. Das Geschäft gab es nicht mehr. Dort oben, am Esstisch, hatte sein Großvater mit ihm, dem Volksschüler, das Schreiben der Buchstaben geübt. Er hatte Probleme mit dem Buchstaben W gehabt. Er hatte entweder einen Haken zu wenig gemacht, dann war es ein V, oder einen Haken zu viel. Sein Großvater war ungeduldig: „W wie Wien!“ hatte er entnervt gerufen. „Schau dir die Nummerntafeln der Autos an! W wie Wien!“
Er beschloss, in das Haus hineinzugehen, bei der ehemaligen Wohnung der Großeltern anzuläuten. Er wollte sich erklären. Ob er einmal, ganz kurz, durch die Wohnung gehen dürfe und vom Fenster auf die Straße schauen. Das Haustor war offen. Er lief die Treppe hinauf, stand vor der Wohnungstür. Bevor er läutete, sah er das Messingschild, das an der Tür angebracht war:
Mag. Dipl. Psych. Helene Rossmanith
Rückführungen in die Kindheit
Termine nach Vereinbarung
Er hatte keinen Termin, machte am Absatz kehrt.
Im „Berliner Journal“ beklagte Max Frisch, dass die Schweiz nur das Gewesene sein will, aber keine Utopie mehr hat. Die Heimat als Schweiz: keine Rückführungen mehr. Willkommen zu Hause in der konkreten Utopie. Morgen Abreise nach Zürich. Ich habe keine Rede geschrieben. Ich habe – geschrieben. Max Frisch im Berliner Journal: „Ich schreibe, um zu arbeiten. Ich arbeite, um zu Hause zu sein.“ ■
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2014)