Eine Schottin namens Angela

„Expedition Europa“: der Tod im East End von Glasgow.

Dieser Tage lernte ich den unglücklichsten Menschen meines Lebens kennen. Ich ging durch das Glasgower Viertel, das ge-zeichnet ist von der vielleicht niedrigsten Lebenserwartung Europas – Männer sterben in Calton mit 54. Es war später Abend, das durchaus gepflegte Wohngebiet war menschenleer. Zunächst hörte ich nur schleifende Schritte, einen flachen Husten. Dann sah ich es auf mich zukommen, ein leichenblasses Wesen mit vorgebeugtem Vogelkopf, trotz knielanger Weste in der kühlen schottischen Sommernacht frierend. Die Frau trappte an mir vorbei, drehte sich danach um, würgte mit Mühe einen Satz hervor. Sie bot mir Sex an. Sie hieß Angela.

Ich war wegen des „Glasgow-Effekts“ ins East End gekommen. Er wird mit Alkohol, Drogen und Gewalt erklärt. Ein Rätsel bleibt: Solche Viertel gibt es auch anderswo, die Männer sterben deswegen nicht gleich eine Generation früher weg. Es ist noch erwähnenswert, dass das East End mehrheitlich katholisch ist, aufgrund der Zuwanderung irischer Industriearbeiter. Beim Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands sind das interessante Stimmen – als Labour-Wähler hängen sie an Großbritannien, als Iren wollen sie ums Verrecken nicht für „Loyalisten“ gehalten werden. Calton hat gar eine Art Fanshop für IRA-Nostalgiker.

Ich fürchtete den Blick

Ich spazierte zu Mittag durch das Einkaufszentrum „Forge“. Ich sah nicht die reine Armut, jedenfalls ließen sich weiße Frauen von Asiatinnen die Fingernägel machen und in der „Angel Brow Lounge“ künstliche Wimpern ankleben. Ich sah auch nicht nur schottische Blässe, einige junge Frauen hatten von irgendeiner Behandlung braun-orangefarbene Flecken in der Haut. Nein, es war der Gang. Manch 20-Jährige ging schon merkwürdig hüftsteif. Viele hatten Krücken, Ältere hielten sich am Einkaufswagen fest. Die Menschen gingen eckig, wie ferngesteuert.

Auch meine nächtliche Bekanntschaft Angela bewegte sich so. Obwohl ich ausschloss, dass ich ihr Sexkunde werden würde, folgte sie mir. Nun sah ich sie aus der Nähe. Sie war klein, hatte riesige Ohren, rotes Haar, und ich fürchtete den Blick ihrer wasserblauen Augen. Sie habe einen dreijährigen Sohn, erzählte sie: „Er bedeutet für mich alles auf der Welt.“

Ich dachte ans Abschiednehmen, da brach es aus ihr heraus: „Mein Vater hat meine Mutter mit der Axt geschlagen, sie verlor Unmengen Blut, danach hat er mich vergewaltigt. Er hat mich 13 Jahre lang vergewaltigt. Er ist der Vater meines Sohnes.“ Sie weinte. „Ich habe versucht mich aufzuhängen, mehrere Male.“ Das sei ihr erster Versuch in Prostitution, das Sozialamt habe ihr die Unterstützung gestrichen. Ich fragte, wie viel sie brauchte. „20 Pfund für die Stromrechnung, zehn fürs Gas, zehn fürs Essen.“ Sie kämmte sich weinend die Haare. „Ich muss Geld verdienen. Vorher gehe ich nicht nach Hause.“

Ich ertrug das nicht länger. Als sie mir versprach, nicht auf den Strich zu gehen, gab ich ihr das Geld. Sie nannte mich gerührt einen „Gentleman“. Ich fragte, wie das Inzestkind hieß, dessen kranke Lunge sieben Mal täglich an einen Apparat gehängt werden muss. „Jean-Paul, nach Jean-Paul Gaultier.“

Ich wollte sie zur Bushaltestelle bringen. Sie hielt meine Hand, aber verquer, ihre äußere Hand griff nach meiner äußeren. So gingen wir durch Calton. Aus dem Pub, in das ich eigentlich hatte gehen wollen, kamen zur Sperrstunde junge Männer heraus. „Verrückte!“, murmelte Angela. Der Spaziergang wurde noch lang, mein Selbstgefühl des guten Samariters schwand. Einmal fragte ich sie nach dem Referendum. „Ich werde zum ersten Mal wählen gehen“, antwortete sie, „und ich werde mit Ja stimmen. Ich bin Schottin. Ich habe Angst vor nichts.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2014)

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