Wenn ein Loch Geschichte macht

Das Tor zur Freiheit
Das Tor zur Freiheit(c) ORF
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Vor 25 Jahren: Ungarn öffnet den Eisernen Vorhang. Die Folge: 20.000 DDR-Bürger suchen über Österreich die Freiheit. Der Anfang vom Ende der kommunistischen Systeme in Osteuropa.

Man schreibt den 27. Juni 1989: Jetzt sind sie fast fertig. Aber noch ist es den ungarischen Grenzorganen und Grenzarbeitern nicht wirklich bewusst. Dennoch: Sie haben Weltgeschichte gestaltet. Auf Befehl aus Budapest haben sie den Eisernen Vorhang zu Österreich abgebaut. Meter für Meter, Stacheldraht um Stacheldraht, Wachturm nach Wachturm. Still und leise, niemand sollte es merken. Ein Loch, ein Durchgang, mitten im Eisernen Vorhang. Am 27. Juni 1989 aber erfährt es die ganze Welt. Die Außenminister Alois Mock und Gyula Horn inszenieren genau hier das Ende der Teilung Europas und durchschneiden das letzte Stück des trennenden Stacheldrahts.

Wie wird der Kreml reagieren? Kommen wieder Panzer, wie schon 1956? Bange Fragen, die sich auch die Menschen auf der Straße stellen. Ungarn und Österreicher wissen es nur noch zu gut. Und auch die Slowaken und Tschechen vergessen nicht, dass Breschnew ihren Frühling im Sommer 1968 brutal niederwalzte. Wenn keine schnelle Reaktion kommt, dann, so spekuliert manin Budapest und andernorts, wird nichts mehr so sein wie früher. Dann bricht das System des Ostblocks zusammen.

Ungarn, die „lustigste Baracke des Ostblocks“,galt in vielerlei Hinsicht als liberalstes Land hinter dem Eisernen Vorhang. Am Plattensee trafen sich Urlauber aus Ost und West. Auch dem westlichen Nachbarn Österreich öffnete man sich stetig. Im Kalten Krieg entwickelte sich seit den 1960er-Jahren auch über den Eisernen Vorhang hinweg zum österreichischen Nachbarn ein Modus Vivendi. Verbindendes wurde über Trennendes gestellt, zu beiderseitigem Nutzen. So beschloss die ungarische Regierung schon Mitte der 1960er-Jahre die Räumung der Minenfelder am Eisernen Vorhang und hob 1979 die Visumspflicht für Österreicher auf. Bei den zahlreichen Staatsbesuchen wurde dieses außergewöhnliche nachbarschaftliche Modell einer friedlichen Koexistenz über alle ideologischen und gesellschaftspolitischen Unterschiede hinweg regelmäßig zelebriert. Zeitweise gestalteten sich blockinterne Beziehungen, wie zu Rumänien, schwieriger als zum ideologischen Gegner Österreich.

Ab Anfang 1988 durften die Ungarn auch frei reisen. Sie erhielten einen für alle Staaten der Welt gültigen Pass und mussten nicht mehr um Ausreisegenehmigungen ansuchen, um etwa Österreich zu besuchen. Ein einzigartiger Schritt eines KP-Regimes im Ostblock. In Budapest reiften nun sogar Überlegungen, den Eisernen Vorhang, der nur viel Geld kostete, abzureißen. Ungarische Reformpolitiker, allen voran Miklos Németh, stellten damit das ganze System in Frage. Gyula Horn, der in der ungarischen Parteiführung als verlängerter Arm Moskaus gesehen wurde, entwickelte sich zusehends zu einem typischen „Wendehals“.

Lange Zeit mussten derartige Überlegungen aus Rücksicht auf die „Bruderländer“ aber streng geheim gehalten werden. Die ungarische Führung ging äußerst behutsam vor, um der Genfer Flüchtlingskonvention der UNO beitreten zu können. Erst danach konnte Budapest internationale Verpflichtungen über jene innerhalb des Warschauer Paktes stellen und argumentieren, rumänische Flüchtlinge nicht mehr dem Ceauşescu-Regime übergeben zu müssen. Die Österreicher waren freilich die Ersten, die auf direktem Wege vom Vorhaben der Ungarn erfuhren. Im November 1988 erfuhr es Bundeskanzler Franz Vranitzky vom damals starken Mann Ungarns, USAP-Generalsekretär Károly Grósz: Ungarn will die technischen Grenzsperren beseitigen. Dabei wies Grósz darauf hin, dass dies Österreich auch Probleme („Terroristen, Drogenschmuggler, illegale Einwanderer aus Drittstaaten“) schaffen könnte.

Vranitzky reagierte laut Protokoll darauf gar nicht. Als ihm der ungarische Ministerpräsident Miklos Németh drei Monate später, am 13. Februar 1989, mitteilte, dass Ungarn nun die Grenzsperren beseitigen und den Eisernen Vorhang abbauen würde, soll Vranitzky zu Vorsicht und Bedachtsamkeit gemahnt haben. Doch die Ungarn meinten es ernst – und nun schien die Zeit reif zu sein, sich in Moskau zu vergewissern, ob ein derartiger Schritt möglich sei. Am 3. März 1989 traf Németh mit Gorbatschow in Moskau zusammen. Am Rande der Unterredung sagte er selbstbewusst, man habe „die Entscheidung getroffen“, „die elektronischen und technischen Sperren an den West- und Südgrenzen Ungarns zur Gänze“ zu entfernen. Er begründete den Schritt der ungarischen Regierung ehrlich: Die Grenzsperren dienten nur noch dazu, Flüchtlinge aus Rumänien und der DDR abzufangen. Gorbatschow gab nur eine kurze Replik: „Wir haben eine strenge Dienstordnung an unseren Grenzen, aber auch wir öffnen uns zusehends.“ Gorbatschow befürwortete die Überwindung der Spaltung Europas, sie entsprach seiner Außenpolitik.

Die Österreicher, obwohl gut von Ungarn informiert, hängten die Absichten und Aktionen der Ungarn nicht an die große Glocke, blieben ruhig. Von Vranitzky kommen auch keine außenpolitischen Akzente in dieser Grenzfrage zu Ungarn. Anders Außenminister Alois Mock. Er zögerte nicht, erkannte die historische Bedeutung dessen, was sich da an der Grenze tat. Mock schlug seinem ungarischen Amtskollegen Gyula Horn kurz entschlossen vor, vor laufenden Kamerasden Eisernen Vorhang zu durchtrennen, um damit erstmals der Welt zu zeigen, dass sich hier eine gewaltige Umwälzung anbahnte. Auch Horn zögerte anfänglich, Vorsicht war geboten. Noch gab es den Kalten Krieg, standen sich Ost und West in voller Rüstung gegenüber, und noch konnte man die Durchsetzungskraft von Gorbatschow nicht wirklich einschätzen.

Erst am 2. Mai, knapp vor der Urlaubssaison, informierte Horn die DDR über den Abbau des Eisernen Vorhangs. Denn aufgrund eines geheimen Abkommens mit der DDR hätten die ungarischen Grenzorgane die Flucht von DDR-Bürgern in den Westen verhindern müssen. An der Grenze festgenommene DDR-Flüchtlinge waren an die Stasi auszuliefern. Aus Ost-Berlin kam keine entschiedene Reaktion, Moskau hielt Honecker zurück. Diese Entwicklung wartete Budapest ab. Daher dauerte es auch einige Zeit, bis Mock das Einverständnis von Horn erhielt.

Dem medienwirksam inszenierten Durchtrennen des Eisernen Vorhangs an der österreichisch-ungarischen Grenze vom 27.Juni 1989 ging freilich ein diplomatisches Hickhack voraus. Schließlich blieb Mock bei seinem Entschluss und bezog sich immer wieder und explizit auf Gorbatschows Worte, das Haus Europa gemeinsam zu bauen. Er gab damit den Ungarn eine Art Rückversicherung. Und eine solche konnten sie – trotz der wohlwollenden Worte Gorbatschows – auch gut brauchen angesichts der Vorwürfe, die ihnen in der Folge gemacht wurden. Denn die gemeinsame Aktion am Grenzzaun hatte, unabhängig davon, wie viel vom Eisernen Vorhang tatsächlich noch stand, eine ungeheure Symbolkraft.

Die Fernsehaufnahmen gingen um die ganze Welt. Und die Welt wartete auf die Reaktion aus Moskau. Doch die blieb aus. Denn die Öffnung des Eisernen Vorhangs war die logische Folge der Politik Gorbatschows hin zu einem gesamteuropäischen Haus. Ja mehr noch: Die sowjetische Botschaft in Budapest betrachtete die Aktion als bilaterales Ereignis zwischen Ungarn und Österreich und als Ausdruck der immer enger werdenden Beziehungen zwischen zwei unterschiedlichen Systemen. Die Botschaft, im Eisernen Vorhang gebe es nunmehr ein Loch, kam vor allem in der DDR an. Dies war wohlÖsterreichs wesentlichster nachhaltiger Beitrag zur Desintegration des Ostblocks. Tausende DDR-Bürger fuhren – wie jedes Jahr – auch im Sommer1989 nach Ungarn auf Urlaub. Nur, dieses Mal wollten viele nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren. Zunächst bedienten sich die ungarischen Behörden des Paneuropa-Picknicks (um dessen Schirmherrschaft Otto Habsburg gebeten worden war), um im August einige DDR-Bürger aus dem Land zu schleusen. Doch die Zahl der rückkehrunwilligen DDR-Urlauber wurde immer größer.

Die ungarische Führung suchte schließlich direkte Gespräche mit Bonn und signalisierte – ohne Moskau in dieser Frage zu konsultieren – ihre Bereitschaft, die DDR-Flüchtlinge ausreisen zu lassen. Bundeskanzler Helmut Kohl willigte sofort ein, und einen Tag später, am 25. August 1989, kamen Németh und Horn zu Geheimverhandlungen nach Deutschland. Damit legten die ungarischen Kommunisten den Grundstein für eine eigenständige Außenpolitik, in der die Interessen des eigenen Landes höher gereiht wurden als die Verpflichtungen innerhalb des Warschauer Paktes.

Es war zugleich der Übergang von Bundeskanzler Kohl zu einer operativen Deutschlandpolitik, um den Status quo der innerdeutschen Teilung zu überwinden. Kohl gingaber auf Nummer sicher, konsultierte Gorbatschow telefonisch und informierte ihn über die Absprache mit den Ungarn, entgegen der gegebenen Zusicherung, dies nicht zu tun. Er wollte Gewissheit darüber, ob die Sowjetunion diesen Schritt der Ungarn billigen würde. Gorbatschow antwortete Kohl lapidar, Németh sei ein guter Mann. Kohl wertete dies als „grünes Licht“.

Als Mitglieder des Warschauer Paktes hatten Ungarn und die DDR gültige Verträge über die Rückführung von „Republikflüchtlingen“. Für die SED waren die Verhandlungen mit Ungarn über die Lösung der Flüchtlingsfrage im Geist der gültigen Verträge das brennendste Problem der Außenpolitik. Horn kam – nach dem Geheimtreffen – nach Ostberlin. Über die von der ungarischen Seite zugesagte Ausreise der Flüchtlinge nach Österreich informierte Horn seine Gesprächspartner dabei nicht. Er betonte, Ungarn wolle eine Lösung des Flüchtlingsproblems, schlossaber „inhumane Lösungen“ aus und kündigte die Aussetzung der vertraglichen Regelungen im Reiseabkommen an, die den DDR-Bürgern die Ausreise in einen Drittstaat verboten. Günter Mittag, der den kranken Honecker vertrat, verlangte Vertragstreue von Ungarn und widersprach entschieden einer Aussetzung dieses Teils der Verträge mit der DDR. Horn betonte abschließend, wenn die DDR keine Lösung für die Flüchtlingsfrage anbiete, die von den Flüchtlingen akzeptiert werde, werde Ungarn das Flüchtlingsproblem anders lösen.

Der sich abzeichnende Bündnisbruch der Ungarn war für die DDR schon schlimm genug, aber das wirkliche Drama war für sie die Haltung der Sowjetunion in der Flüchtlingsfrage. Am 21. August hatte der ostdeutsche Außenminister, Oskar Fischer, die sowjetische Führung um Beistand im Flüchtlingskonflikt mit Ungarn gebeten. Die Antwort des sowjetischen Außenministers, Eduard Schewardnadse, war für ihn ernüchternd: Dieses Ereignis berühre „nicht direkt die Beziehungen UdSSR-DDR“. Fischers Vorschlag, die Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten einzuberufen, stieß in Moskau auf Ablehnung und wurde diplomatisch zurückgewiesen. Das Ergebnis der Sondierungen in Moskau war für die SED-Führung ein Alarmsignal; in einem existenziellen Konflikt weigerte sich die Sowjetunion, Druck auf Ungarn auszuüben.

Nach den Verhandlungen der Ungarn mit der BRD und der DDR wurde nun Österreich gebeten, beim Transit der Flüchtlinge behilflich zu sein. Die Wiener Regierung sagte umgehend zu. Am Ballhausplatz blieb man aber vorsichtig und wahrte nach außen hin die Erfordernisse der österreichischen Neutralität. Zwar wurden den DDR-Flüchtlingen unbürokratisch Visa ausgestellt, die Flüchtlingsbetreuung selbst jedoch dem Roten Kreuz, also einer NGO, überantwortet. Am 10.September gab die ungarische Regierung bekannt, den 20.000 Ostdeutschen in Ungarn den Grenzübertritt nach Österreich zu erlauben. Somit begann die größte Abwanderung von Ostdeutschen in den Westen seit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961.

Trotz der von der Sowjetunion tolerierten Grenzöffnung durch Ungarn war die Haltung Moskaus gegenüber der Krise der DDR von entscheidender Bedeutung. Zwar hatte der sowjetische Botschafter in Ostberlin, Wjatscheslaw Kotschemasow, nach der Öffnung der ungarischen Grenze für die DDR-Flüchtlinge Gorbatschows Anweisung, eine Destabilisierung der DDR unter keinen Umständen zuzulassen, weil die DDR „für die Sowjetunion ein so wichtiges Land“ war, nicht aber „auf Kosten unserer Interessen in der BRD und in Europa insgesamt“. Gorbatschow hielt also an seiner Vorstellung von einer Dreiecksbeziehung zwischen den beiden deutschen Staaten und der Sowjetunion fest.

Nach der Öffnung der ungarischen Grenze am 10. September 1989 reisten an die 20.000 DDR-Flüchtlinge über Österreich in die BRD aus. Ein Massenexodus, mit dem die Ostdeutschen und mit ihr die SED endgültig in die Defensive gerieten. Zwischen der Fluchtbewegung aus der DDR und den Protestdemonstrationen in der DDR entfaltete sich eine revolutionäre Wechselwirkung, die das Machtmonopol der SED zerbrach. Es war der Beginn der Wende, die binnen Jahresfrist Europa ein neues Gesicht geben sollte. Und es war der Anfang vom Ende der kommunistischen Systeme in Osteuropa. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2014)

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