Zugewanderter Rosengarten

„Expedition Europa“: Gents unwahrscheinlichstes Versteck.

Gent, da denken Kulturtouristen an Grachten und Gravensteen. Das ist schön, aber all das sah ichmir in der „stolzen Stadt“ nicht an. Kurz hinter der Scheldegotik verästelt sich die 250.000-Einwohner-Stadt nämlich zu einem unüberschaubaren Archipel aus Kanälen und Hafenbecken, abgewohnten Arbeitervierteln, Brachen und Nischen, in denen mittlerweile 6000 bis 8000 osteuropäische Roma hausen. Viele von ihnen leben versteckt in Abbruchhäusern, die sie in Arbeitsteilung mit belgischen Anarchisten besetzen. Ich ging diese versteckten Zuwanderer suchen.

Die Bulgaren – zwei Drittel der Genter Roma – haben sich in türkische Viertel wie Rabot integriert. Ein paar rumänische Roma dürften auf Bäumen wohnen, auf hinaufgehievten Paletten. Die zweitgrößte Gruppe stammt aus Tschechien und der Slowakei, tausend allein aus Luník IX. In dem verrotteten Kaschauer Ghetto geht ein geflügeltes Wort um: „Ich fahre nach Belgien, um mir ein Haus aufzubrechen. Und dann gehe ich zur Caritas.“

Ich hörte, dass ein Jozef mit den Anarchisten ein großes Rad drehte. Angeblich hielt sein Clan ein ganzes Kloster besetzt. Als ich aber vor dem verlassenen Klinkerbau im Viertel Muidebrug stand, wies nichts auf Bewohner hin. Ich betrat den Hof. Leere. Ich rief auf Slowakisch. Stille. Endlich kam eine Mutter in farbenfrohem Flanell herunter, misstrauisch. „Ja,wir haben alles. Wasser, Strom.“ Schon kam mir eine größere Truppe entgegen, geführt von einer perfekt rasierten Autorität. Schätze mal, Jozef. „Du kannst nicht einfach in ein fremdes Haus reinspazieren“, er schmiss mich aus dem Kloster.

Familienresidenz im Bahngebüsch

Ansonsten sagte mir das Genter Zigeunerleben zu. Im orientalisch-slowakischen Viertel Brugse Poort, am Billardtisch des Beisls „Eagle“, wurde ich Zeuge einer flämisch-ziganischen Romanze. An der jungen slowakischen Romni, der Kellnerin, war alles weich. An der älteren aschblonden Flämin, möglicherweise Anarchistin, war alles hart. Die beiden hatten nur Augen für ihr zärtliches Spiel. Am Ende suchte ich das unwahrscheinlichste Versteck, von dem ich gehört hatte. Eine hohe Hecke aus wildem Klettergewächs trennte die Zufahrt einer Wohnsiedlung von Hafenautobahn und Bahntrasse – in diesem Gebüsch sollten rumänische Roma wohnen. Ich lugte durch die Hecke. Von allen Seiten uneinsehbar, lag ein schmaler Streifen meist brachliegender Schrebergärten dahinter. Hier und da blühten wilde Rosen. Plötzlich erspähte ich etwas verwirrend Gepflegtes. Einen Brunnen, feste Hütten, ein reifer Herr ging herum. Ich sprach ihn auf Rumänisch an. „Zigeuner bin ich keiner“, berichtigte er mich, „aber kommen Sie herein!“

So führte mich dieser Rumäne schweren Schrittes in einen Garten Eden mit Benzinaggregat und Kunstgalerie, in eine Familienresidenz von rotsamten-spätbyzantinischem Glamour. „Das habe ich alles selbst gebaut“, sagte der Banater, „ich arbeite für eine Entrümpelungsfirma. Ich habe alles auf meinem Rücken hergetragen.“ Sein Haus sei im großen Theiß-Hochwasser untergegangen, darum sei er nach Gent gefahren. Ein rumänischer Freund habe einen alten Flamen gekannt, der diesen Schrebergarten besaß. „Als der Alte starb, baute ich hier ein Jahr lang alles auf. Dann holte ich die Familie nach. Die Behörden dulden mich.“

Als wäre mir der Mund nicht weit genug offen gestanden, erwies sich der Rumäne auch noch als Landsmann – er war vor Ceauşescus Sturz nach Österreich geflüchtet und hatte einen österreichischen Pass. In einem Gehege gackerten Hühner unter einem Hängesofa aus weißem Leder. Dahinter lag der Gemüsegarten, „die Erde trägt aber weniger als im Banat“. Ich verabschiedete mich schweren Herzens. Kommt, Leute, wir fahren nach Gent und besetzen einen Schrebergarten! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2014)

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