„Wenn es duster wird, geh ich“

Ende Mai würde sie ihren 85.Geburtstag feiern. Wenige Monate vor ihrem Tod war ich ein letztes Mal mit ihr unterwegs: auf ihrem „Geburts- fluss“, der Mur. Die Fotografin Inge Morath (1923 bis 2002) – eine Erinnerung.

An diesem 1.Oktober 2001 umstrahlt diesiges Gegenlicht die Mur, ihren Auensaum. Unser Kahn durchpflügt die Stille. Die Fotografin hält ihre Leica im Anschlag, stimmt ihren Atem mit dem Rhythmus der Wellen ab. Wartet – wieder und wieder – auf den richtigen Augenblick, in dem das Hüben und Drüben am südsteirisch-slowenischen Grenzfluss zur brüchigen Poesie in Schwarz-Weiß wird. Inge Morath mag Flussfahrten – in diesem Teil der Welt überhaupt. „Es gibt mir das Gefühl, dass vieles fließend ineinander übergeht, auch dass Getrenntes verbunden werden kann. Etwas Neues daraus entsteht.“ Die Mur fließt weiter südöstlich in die Drau; gemeinsam münden sie, nachdem sie sich nach Hunderten Kilometern mit den Wassern der Donau vereinigt haben, ins Schwarze Meer. Melodien, Mythen, Geschichten begleiten diese Reise, die Morath vor einem halben Jahrhundert und vor wenigen Jahren noch einmal auf der Donau unternommen hat. Zwei Reisen in zwei kontrastierenden Zeitaltern: im Kalten Krieg, der alte Kulturlandschaften voneinander trennte. Und Mitte der 1990er-Jahre, als Europa nach euphorischen Grenzereignissen wieder eins war, aber in Jugoslawien nationalistische Tragödien ihren Lauf nahmen. Ach, Europa!

Irgendwann schiebt Inge Morath den linken Ärmel ihrer schwarzen Daunenjacke hoch, streckt die Hand in die Fluten, perlt sich ein paar Tropfen über das Gesicht und sagt: „Die Mur, die ja weiter nördlich auch durch Graz fließt, ist mein Geburtsfluss. Ihre Wasser mögen mich beschützen!“ Ein rarer Augenblick: Die distanziert polyglotte Weltenbürgerin Morath gibt heimatliche Gefühle preis. Noch vor wenigen Monaten antwortete sie mir auf die Frage, ob sich für sie über die Jahrzehnte der Heimatbegriff gewandelt habe, knapp: „Heimat ist, wo die Familie, wo die Freunde sind. Das ist bei mir Roxbury, Connecticut.“

Dort durfte ich in ihrem sympathisch chaotischen Fotoatelier unterm Dach für unser Kulturhauptstadtprojekt „Inge Morath. Grenz.Räume“ in ihrem Œuvre stöbern. Dabei fand ich erstaunlich wenig von Graz, ihrem Geburtsort. Keine malerischen Schlossbergblicke, zeitverwitterten Dachlandschaften.

Die Idee der Grenze

Darauf angesprochen, sagte Morath in ihrem charmant altösterreichisch-steirischen Tonfall: „Es hat sich bisher nicht ergeben. Aber jetzt gehen wir ja ins steirische Weinland. Du weißt: Das ist eine heimliche Sehnsucht von mir.“ Da war von Kindheitsträumen und Traubenmündern, von Klapotetz und Zlatorog die Rede; nicht aber von Krieg und Stacheldraht, von Tod und Vertreibung.

Was war, was ist da? Diese vielsprachige Weltengängerin, fotografische Übersetzerin des jeweiligen Geschehens – ist sie hin und her gerissen von widerstreitenden Kräften, ein wenig müde vom Balanceakt zwischen unterschiedlichen Kulturen, Traditionen, Zeiten? Nährt das einstige Auf und Davon aus dem NS-stigmatisierten deutschen Sprachraum zum neuen Kontinent die heimliche Sehnsucht nach dem alten? Ist ihr Graz, das Hitler bei seinem Besuch 1938 zur „Stadt der Volkserhebung“ und zum „Bollwerk gegen den Südosten“ ausgerufen hatte, gar Bürde?

Jetzt, zu Beginn des neuen Jahrhunderts, gibt sich Graz als Stadt der Menschenrechte, weltoffen. Das gefällt der Morath, das ist ihr geistiges Terrain. Das und wohl auch die Gezeiten des Lebens haben sie nach all den Jahren zu unserer gemeinsamen Foto-Fernseh-Arbeit in die von ihr so geliebte süd- und untersteirische Gegend ihrer Kindheit zurückkehren lassen. Eine Reise zur Grenze also, über die Arthur Miller später – da ist Inge Morath schon tot – schreiben wird: „In der Idee der Grenze schien sie die Komplexität ihrer eigenen Existenz gefunden zu haben. Die Grenze ist das Ende von etwas, aber auch der Beginn, der Ausweg und der Eingang, der Wunsch zu vergessen und das Bedürfnis nach Erinnerung.“

Ein Kormoran blickt von einem bemoosten Flussstein in unsere Richtung. Er schlägt seine Flügel und schwingt dem Horizont entgegen. Inge Morath sieht ihm nach und sagt: „Schöner Kerl. Seine Familie ist auf der ganzen Welt zu Hause. Und unsere Grenzen plagen den sowieso nicht. Meine Grenzen verlaufen eher auf ungewissen Pfaden.“ Nur zum Fotomotiv reicht es in diesem Augenblick nicht. Da müsste das Tierische spektakulärer, skurriler sein! Wie das berühmt gewordene Lama im Fond eines New Yorker Autos. Wie hatte sie einmal bemerkt: „Die Fotografie ist eine seltsame Sache, die ganz persönliche Sicht, Resultat irgendeiner Alchimie von Herkunft, Gefühl, Tradition und ihrer Ablehnung, Sensibilität und Voyeurismus. Man traut seinem Auge und entblößt seine Seele.“ Und: „Die Kraft der Fotografie liegt auch in der persönlichen Zähigkeit. Sie bringt uns weiter, lässt uns wachsen, wacher und sensibler werden. So verändert uns die Kunst, so kann sie uns zu besseren Menschen machen. Freilich kann das auch ganz anders ausgehen.“

Noch beim Nachhall dieses Satzes tauchen in mir ihre Bilder von der barfuß an Bäumen und Sträuchern vorbeitanzenden Marilyn Monroe auf. In diesen Momenten wirkte jenes tragisches Geschöpf wie eine feenhafte Traumgestalt. Es war eine kurze Pause im Rollenschicksal der Monroe. Denn die Fotografin mit dem deutschen Akzent hatte in der Zerbrechlichkeit das wahre Wesen der depressiv exzentrischen Diva erkannt. Schicksalhaft war, dass sich bei diesem Shooting für den Film „Misfits“ der Noch-Monroe-Ehemann Arthur Miller in die Magnum-Fotografin Inge Morath verliebte. Aber sie, die Unsentimentale, ließ sich Zeit. In Roxbury erzählte mir Inge Morath: „Ich hatte zuerst überhaupt keine Lust, Seelentrösterin für den Monroe-Geschädigten Arthur Miller zu sein. Ich bin zurück nach Paris. Aber dem Arthur war es ernst. Das ist jetzt 40 Jahre her.“ Er, der zwei gescheiterte Ehen hinter sich hatte, schreibt in seinen „Zeitkurven“ etwas von „minimalen Erwartungen an unsere Berechenbarkeit. Es war alles permanent temporär – ein Schilfrohr, das man bewundern, aber an das man sich nicht gedankenlos lehnen durfte . . .“

„Festhalten!“, ruft der Bootsmann, während er sich noch breitbeiniger ans Ruder stellt. Vor uns liegen kleinere Stromschnellen. Der Sog wird heftiger, jäh werden unberechenbare Kräfte frei, rütteln am Boot. Es spritzt und rumpelt. „Jetzt wird es eine richtige Flussfahrt“, ruft Inge Morath. Hinter ihr tauchen verwitterte Stahlverstrebungen einer alten Eisenbahnbrücke auf. Morath, die Vielvölker-Enthusiastin bemerkt kühn: „Vielleicht beschert ihr das neue Europa eine Renaissance . . .“

Die Stromschnellen sind durchfahren, der Brückenbogen ist nur mehr Ahnung im Rücken. Wir driften auf ein nächstes marodes Monument am Fluss zu: eine klapprige Schiffsmühle! Inge Morath visiert das Motiv an, auf der Höhe des Wasserrades drückt sie dreimal ab, sagt: „Hoffentlich möbeln sie die hier auch noch so auf wie die, wo wir im Sommer mit den Freunden das schöne Grenzfest gefeiert haben. Wie hat der Ort in der Nähe von Radkersburg geheißen?“ Mureck – flussaufwärts, im vergangenen Juni, 2001. Ein Fest im Fluss. Es will beitragen, dass über die Jahre aus Bruchlinien wieder Verbindendes entstehen kann; dass die in der Steiermark noch immer nicht anerkannte slowenische Minderheit zu ihrem selbstverständlichen Recht kommt. Die Gespräche sind duftig und leicht. Zwischendurch entstehen Fotos; dann wird wieder Borac mit Bauernbrot gegessen, Inge Moraths Lieblingswein, Welschriesling, getrunken, und gesungen wird auch.

„Das würde Arthur gefallen“

„Das würde Arthur gefallen“, ruft die Heimgekehrte aufgekratzt ihrer langjährigen Freundin Renate zu. Die gluckst zurück: „Kommt er denn nicht? Ruht euch doch nach der Arbeit gemeinsam mit uns im Weingarten aus!“ Das wäre so wie früher. Nur: Arthur Miller ist verhindert; der 86-Jährige arbeitet an seinem neuen Theaterstück, „Resurrection Blues“. Außerdem soll jetzt am Broadway sein allererstes, „The Man Who Had All The Luck“, das 1944 ein Flop war, wiederaufgeführt werden. Die Fotografin, die in ihrem rot-weiß gestreiften Trikot, mit ihren glühenden Wangen so vital wirkt, hebt ihr Glas, nickt den Freunden zart zu, sagt leise: „Auf uns und auf das Leben!“ Wer kann in diesem Augenblick ahnen, dass dieser Toast ein Appell an das eigene Weiterleben ist; dass diese so agile, kaum Strapazen scheuende 78-jährige Frau nur mehr ein halbes Jahr leben soll.

Der Himmel ist bleiern und tief. Das Gegenlicht ist einer dunklen Wolkenbank gewichen. Wildgänse ziehen hoch oben in den Süden; ihre Formation gleicht einem großen einzigen Flügelschlag. Inge Morath reibt sich ihre kalt gewordenen Hände, hält aber immer noch Ausschau nach Bildern. Ab und zu drückt sie ihre rechte Handfläche ins Kreuz. Bei ihrer Ankunft vor zwei Tagen aus New York bemerkte sie beiläufig, sie habe sich beim Spielen mit ihrem Enkel Ronan ein wenig verrissen, und meinte lapidar: „Unangenehm, aber nicht weiter schlimm.“ In Wahrheit drückt eine Lymphommetastase an ihren Rückennerv! Und ich, ich versuche vergeblich mit dieser Frau über Grenzsituationen zu sprechen? Eine surreale, eigentlich unverzeihliche Zumutung.

Frankl im Sackerl

„Wie lange haben wir noch?“, fragt Inge Morath nach einer Weile. Bis zum Anlanden ist es noch eine gute halbe Stunde. Damit sich diese letzte Etappe nicht zu ziehen beginnt, bitte ich sie, noch eine Flussanekdote zu erzählen. Irritiert seufzt sie: „Du solltest schon genug aufgenommen haben.“

Es beginnt leicht zu regnen. Fröstelnd treiben wir der Ausstiegsstelle entgegen. Irgendwann höre ich dicht hinter mir ihre Stimme: „Einmal bin ich mit Viktor Frankl in Dürnstein gewesen, um Porträts von ihm zu machen. Wir haben immer wieder davon geredet, aber es nie geschafft. Auch diesmal war es kompliziert. Er hat wenig Zeit gehabt, wollte aber zu so vielen schönen Plätzen. Das ist schwierig, aber wunderbar gewesen. Nachdem Frankl abgefahren war, bin ich zum Ufer zurückgegangen, um Notizen zu machen. Die belichteten Filme habe ich neben mir in einem Sackerl liegen gehabt. Dann bin ich in der Sonne eingeschlafen, hab von Wasser und Wellen und von Booten geträumt. Als ich wieder aufgewacht bin, hab ich bemerkt, dass ein Donaudampfer starke Wellen ans Ufer getrieben hatte. Ich bin klatschnass gewesen, und mein Filmsackerl war auch überschwemmt. Die Porträts vom Frankl habe ich nie mehr bekommen.“

Für die Fotografin Morath ist es eine untypische Geschichte, jedenfalls was ihre dokumentarische Fotografie, diesen reichen Fundus geglückter Wirklichkeitsabbildungen, angeht. In dieser Weise hat sich auch ein Traum erfüllt: Ihre Kunst ist eine Flaschenpost an die Zukunft, in der ihr Ehemann „Anklänge an das Ewige“ spürt.

Und wann, wann stößt die Fotografin an die Grenze? Spontan und unsentimental kommt die Antwort: „Wenn es zappenduster wird, dann geh ich.“ Für wenige Augenblicke richtet Inge Morath ihren Blick unverwandt in die Ferne. Dann will sie wieder weitermachen . . . ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2008)

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