Liiiebe, Friiiede, FKK

Wie würden wir heute reagieren, würde ein Freak ohne Unterhosen auf einer Wiener Luxusmeile gegen den Konsumwahn wettern? Zum 100. Geburtstag am 2. Juli: Was blieb von Waluliso?

In einem Punkt irrte Waluliso gewaltig: Auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit war er überzeugt davon, dass man von ihm noch Generationen später erzählen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Heute, knapp 18 Jahre nach seinem Tod, erinnern sich zwar viele auf Nachfrage noch an seine Erscheinung oder können selbst erlebte oder überlieferte Anekdoten erzählen. Aber Gesprächsthema ist Waluliso schon lange keines mehr, das scheint sich mit seinem Verschwinden aus dem Stadtbild erledigt zu haben. Zurück bleibt die blasse Ahnung von einem auffälligen „Typen“, der auf dem Stephansplatz oder in der Kärntner Straße den Friedensclown gab und willkommenes Fotomotiv für Touristen war. Ein simpler Ponton über die Neue Donau beim Kraftwerk Freudenau – genannt „Waluliso-Brücke“ – erinnert an den Wiener FKK- und Friedensaktivisten, der einst als lebendes Wiener Wahrzeichen um die Welt tingelte. Hätte er mehr verdient?

Definitiv ja, meint Adolf Katzenbeisser, pensionierter Lokführer, der als autodidaktischer Schreiber einige Erzählungen und Sachbücher bei Böhlau und im Selbstverlag veröffentlicht hat. Darunter auch 2003 eine Biografie über Waluliso, für die er dessen Nachlass aufgestöbert, unzählige Zeitungsartikel durchforstet und viele Gespräche mit Zeitgenossen geführt hat. Nach der Lektüre des akribischen biografischen Berichts weiß man zwar unzählige Details, doch greifbar wird der Beschriebene kaum. Das liegt allerdings nicht am Buch, denn nicht anders war es zu Lebzeiten: Waluliso, in den 1980er-Jahren die vielleicht „öffentlichste“ Person Wiens, verschwand hinter seiner Rolle.

Von seinem Privatleben verriet Ludwig Weinberger – wie Waluliso mit bürgerlichem Namen hieß – in Interviews hauptsächlich ein Detail, nämlich dass er aus allerärmsten Verhältnissen stammte: Am 2. Juli 1914 wurde er in Ottakring als achtes Kind von Anna Marie Weinberger geboren, die mit dem Sattler und Taschner Ludwig Weinberger sen. verheiratet war. Doch der Namensgeber war nicht der leibliche Vater, die Ehe ging in die Brüche, der Bub wuchs in Kinderheimen und bei Pflegeeltern auf. Im zweiten Anlauf schloss er immerhin eine Buchbinderlehre ab, fand aber in der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre keine Arbeit, sondern schlug sich bettelnd und vagabundierend durch. Ablenkung und Freiheit fand er in der Lobau, wo er sich unter Nacktbadende mischte: ein Erweckungserlebnis.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er als Soldat in Polen und auf dem Balkan gekämpft haben soll, begann Weinberger als Vertreter für Schaufenstertafeln und Stampiglien zu arbeiten – ein Beruf, den er bis zu seiner Pensionierung 1980 ausübte. Seiner wahren Berufung, der Freikörperkultur, ging er in seiner Freizeit nach. Da wurde er umtriebig und auffällig: Ursprünglich als Sonnenschutz gedacht, fungierte sein selbst geflochtener Weidenkranz als „Kontaktkranzerl“, auf den ihn die Leute ansprachen. In der Folge gab der „Wickerl“, wie er von vielen genannt wurde, immer öfter den Propheten, strich durch die Lobau, verteilte Zetteln mit der Aufforderung zu einem naturnahen Leben in der Tradition von Rousseau.

Zu einem Propheten passen Legenden. Den Namen Wa-Lu-Li-So verdanke er einer göttlichen Eingebung während eines Aufenthaltes beim Nacktbaden, erzählte er später: Gleichsam in Trance habe er mit einem Stöckchen das Akronym von Wasser, Luft, Licht und Sonne in den Sand geschrieben.

Kampf für die FKK-Zone

So viel zur Mythenbildung. All das hätte Weinberger jedoch bestenfalls zu einer Berühmtheit in der Nudistenszene gemacht. Wäre da nicht die Absicht der Stadtregierung gewesen, die Stadt von der Hochwassergefahr zu befreien: Als die Neue Donau als „Entlastungsgerinne“ geplant wurde, war damit nicht nur die Lobau als Naturraum bedroht, sondern auch eines der wenigen städtischen Rückzugsgebiete, inklusive des FKK-Kerngebiets „Hirscheninsel“, das letztlich weichen musste. Die Nudisten versuchten sich nach Kräften zu wehren und verhandelten mit der Stadt über alternative Plätze. Am hartnäckigsten erwies sich Waluliso, der mit Unterschriftenlisten ein neues „Paradieso“ auf der Donauinsel forderte, ein Nacktbadeareal, das für alle frei zugänglich sein sollte – ohne Vereinsmitgliedschaft, wie sie für die FKK-Szene typisch war. Als er 16.000 Unterstützungserklärungen beieinander hatte, jubelte er bereits stolz: „Auf der Donauinsel in Wien braucht man keine Badehose mehr!“ – und forderte noch mehr „FKK in Austria“.

Trotz tatkräftiger Mithilfe etlicher Freiwilliger („Team Waluliso“) blieb Waluliso stets ein Einzelkämpfer. Er war „lästig“, rief im Rathaus an, sprach persönlich bei den zuständigen Beamten vor, verteilte Flugblätter, inszenierte Proteste, posierte öffentlichkeitswirksam. Seine One-Man-Show katapultierte ihn in den Mittelpunkt des Medieninteresses, die AZ bezeichnete ihn gar als „Retter der Lobau“, was einigermaßen übertrieben war. Aber die städtischen Entscheidungsträger kamen plötzlich an ihm nicht mehr vorbei. Und je mehr Waluliso erreichte, umso weiter gingen seine Forderungen für den im Süden der Donauinsel gelegenen FKK-Bereich: Trinkwasserversorgung, WC-Anlagen, öffentliche Möblierung, Hinweisschilder, Parkplätze et cetera. Der Außenseiter war zu einem Faktor der Kommunalpolitik geworden. Sein Verhältnis zu Politikern blieb ambivalent: Einerseits schimpfte er auf die Mächtigen, andererseits gingen er und die Bürgermeister Leopold Gratz und vor allem Helmut Zilk durchaus eine Allianz ein, von der beide Seiten profitierten. Waluliso bekam seine Publicity, Zilk konnte sein Image als unkonventioneller Stadtvater pflegen.

Der gewonnene Kampf um die Nudistenzone auf der Donauinsel fiel zeitlich zusammen mit Ludwig Weinbergers Pensionierung. Ein neues Betätigungsfeld musste her, sein gesteigertes Geltungsbedürfnis benötigte eine weitere Bühne. „In mir steckt ein Apostel“, meinte er nicht unbescheiden. Und: „Ich werde der Menschheit ein Dorn im Auge sein.“ Ein Dorn im Auge wurde er tatsächlich – zumindest für jene Wienerinnen und Wiener, die es ungehörig fanden, dass ein „Spinner“ wie er mitten in der Stadt mehr oder weniger ungestört sein Unwesen treiben konnte. Damals trat erstmals jener Waluliso auf, der bald zum Inventar der Stadt zählen sollte. Zunächst kleidete er sich bunt, dann bald ganz in Weiß, mit Toga-ähnlichem Gewand,Kränzchen auf dem Kopf, Teleskopstab in der Hand (mit einem Zweig oder Palmwedel, später auch mit einer Friedenstaube aus Pappmaschee), Apfel in der Hand, manchmal mit weißen Handschuhen und immer Sandalen an den braun gegerbten Füßen. Man munkelte, dass er unter seinem wallenden Gewand nichts trage. Er versuchte dies auch keineswegs zu verbergen. Zum Markenzeichen wurden auch seine handgeschriebenen Tafeln, die er am Rücken oder auch vorne trug, und auf denen er seine Botschaften des Friedens und der Liebe verkündete.

Es war sein skurriler Aufzug, der die Leute auf der Mariahilfer oder der Kärntner Straße zum Stehenbleiben veranlasste, und weniger seine Botschaften, die er mit maskenhaftem Grinsen stereotyp vorbrachte, wobei er Lieblingsworte wie „Liiiebe“ oder „Friiiede“ besonders gerne in die Länge zog. Waluliso predigte, aber er war trotz seiner antiken Verkleidung kein Rhetoriker. Er war auch kein Intellektueller, der differenzierte Argumente einzusetzen wusste und Zusammenhänge offenlegen konnte. Gerade Letzteres machte ihn – neben seinem Äußeren – angreifbar. Viele fühlten sich provoziert von seiner Erlöserattitüde und den pseudoreligiösen Ritualen vor dem Stephansdom. Am ehesten „verstanden“ fühlte sich Waluliso von den Touristen, die ihn permanent fotografierten. Man stelle sich vor, welche Präsenz er heute in sozialen Netzwerken hätte, wie oft Fotos von ihm auf Facebook gestellt, „geliked“ und „geshared“ würden! So „beliebt“ er war, immer wieder wurde er – auch tätlich – angegriffen. Verlachte man ihn, konnte er auch aggressiv reagieren. Seine Frustration versuchte er mit Selbstüberhöhung zu begegnen: „Verkannt zu werden ist das Schicksal aller Propheten.“ Tatsächlich gelang es ihm, sich selbst international immer wieder in den Vordergrund zu spielen. Adolf Katzenbeisser hat in seinem Buch die unzähligen Auftritte Walulisos dokumentiert. Die Maiaufmärsche der Sozialisten ließ er sich nie entgehen. Beim Besuch Papst Johannes Paul II. irritierte er die Gläubigen mit seiner Jesuspose. Jassir Arafat überreichte er bei einem Wien-Besuch einen Friedenszweig. Der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse lud Waluliso nach Moskau ein, Prince Charles erkundigte sich brieflich nach seinem Befinden. Mit Empfehlungsschreiben „seiner“ Bürgermeister Gratz und später Zilk reiste er als eine Art Sonderbotschafter der Völkerverständigung zu Gipfeltreffen nach Genf, Reykjavik (wo er Raissa Gorbatschowa die Hand schütteln durfte), Moskau und Washington. Als Friedensdemonstrant schaffte er es sogar auf die Titelseite der „Herald Tribune“.

Kommerzialisierung und Ökopredigt

Der Erfolg beflügelte ihn, für seinen Namen beantragte er markenrechtliches Patent. Obwohl er gegen die Kommerzialisierung polemisierte, ließ er sich als Werbeträger einspannen und zu Reisen einladen. Dann verkaufte der Ökoprediger blaue Autoaufkleber mit seinem Namen. Die „Spenden“, die er dafür lukrierte, dürfte er – so die Vermutung von Katzenbeisser – auch für private Zwecke ausgegeben haben. War er berechnend? Naiv? Beides? In den Medien wurde darüber jedenfalls immer wieder spekuliert, wie sich Waluliso eigentlich finanziert. Er hielt dagegen, dass er zeitlebens in einer Substandardwohnung auf neun Quadratmetern (eigentlich waren es 13) mit Klo auf dem Gang wohnte.

Irgendwann ging ihm, der eine sichtlich rüstige Konstitution hatte und selbst im Winter leicht gekleidet seine forschen Streifzüge durch die Stadt unternahm, die Luft aus. Im 80. Lebensjahr begann sein Rückzug aus der Öffentlichkeit, es folgte körperlicher Verfall, er kam in die Geriatrie, später in ein Pensionistenheim. Am 21. Juli 1996 starb er, die Begräbniskosten und die Pflege seines Grabes übernahm die Stadt Wien. Aus dem gewünschten gläsernen Sarg („wie der Papst“) wurde allerdings nichts.

Waluliso steht in einer interessanten Tradition der „Wiener Originale“ (wie auch immer man die definiert). War er faszinierend? Wohl kaum. Bestenfalls irritierend, im positiven wie im negativen Sinn. Als stadtbekannter Sonderling wurde er zum Gradmesser der Toleranz seiner Zeitgenossen. Manche begegneten ihm neugierig, viele mitleidig, andere voller Verachtung. Wie würden wir heute reagieren, wenn ein „Freak“ ohne Unterhosen auf der Luxusmeile Kohlmarkt gegen den Konsumwahn wettern würde? Was würden die Securitys vor den Geschäften tun, wenn er ihnen einen Apfel reichen würde? Würde Wladimir Putin ihn nach Moskau einladen? Über solche Fragen kann man sich dem mittlerweile weit zurückliegenden Phänomen vielleicht nähern. Waluliso – bloß ein historisches Kuriosum der 1980er-Jahre und kurzzeitiger Faktor der Lokalpolitik? Vielleicht. Immerhin! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.06.2014)

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