Im Licht der Sprache

Grenzstein
Grenzstein(c) FABRY Clemens
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Noch bevor ich hätte sagen können, was Sprache ist, wurden mir in Kärnten die hier beheimateten Sprachen als zwei einander ausschließende Pole vorgeführt, zwischen denen ich mich entscheiden müsste. Über Sprachgrenzen und Sprachwechsel, über Zugehörigkeit und ein Versprechen von Heimat.

Der Ursprung dieser Geschichte liegt im Topografischen, schreibt Ingeborg Bachmann am Beginn der Erzählung „Drei Wege zum See“. Die erfolgreiche Fotografin Elisabeth Matrei besucht darin ihren Vater in Klagenfurt. An den Tagen, die sie zu Hause verbringt, versucht sie, auf den früher oft begangenen Höhenwegen über das Kreuzbergl den Wörther See zu erreichen, aber die alten Wegverbindungen enden in der Weglosigkeit. Sie lässt ihr Leben Revue passieren und glaubt das erste Mal, Franz Joseph Trotta, ihre große, schwierige Lebensliebe, zu verstehen. Trotta war ein Nachfahre jenes sagenhaften slowenischen Geschlechts, das der Kaiser für drei Generationen geadelt hatte und das „über die Katastrophen des 20.Jahrhunderts nicht hinweggekommen ist“. Während sich Elisabeth welthungrig und weltreisend zwischen den Kontinenten und Sprachen bewegt, zerbricht Trotta an dem, was ihm in der Vergangenheit widerfahren ist. In Klagenfurt, mit dem Blick Richtung Grenze, erkennt Elisabeth, dass ihre Sicht der Welt, seit Trotta in ihr Leben getreten war, von einer kaum deutlichen, aber doch fühlbaren topografischen Verortung ausgeht, von der Peripherie, wie sie feststellt, die sie überall zur Fremden macht, da ihr Geist, ihr Fühlen und Handeln hoffnungslos diesem Geisterreich von einer riesigen Ausdehnung gehörten.

Kann man heute von einem Rand aus sprechen, nachdenken oder schreiben, in einer Zeit, in der Räume und Entfernungen gleichsam implodiert sind, die Welt im Zustand der Verflüssigung erscheint, neue territoriale Einheiten geschaffen und alte Grenzen verwischt werden? Mit schwindelerregender Geschwindigkeit suggerieren uns große technische Errungenschaften, dass der Raum, die Verortung irrelevant geworden seien, während gleichzeitig perfekte Ortungsprogramme entwickeln werden, die die Markierungslinien noch enger und penibler ziehen als bisher, nämlich um jeden einzelnen Menschen, der ins Visier unterschiedlicher Interessen gerät. Schon in Ingeborg Bachmanns Erzählung zeigen sich die Entfernungen zwischen den Ländern, Sprachen und Kontinenten als ein wirres Durcheinander, das nur mit einem Blick vom Rand oder von einer Grenze aus geordnet und erfasst werden kann.

Heute wuchern, wie wir wissen, die Peripherien in die Metropolen hinein, hängen die alten Zentren, in einer überlebten Machtpose erstarrt, ihren vergangenen Geisterreichen an, in denen sie unwidersprochen zu herrschen vorgeben. Die Peripherien hingegen mutieren wegen ihrer exponierten Lage zu Schauplätzen, in denen sich gesellschaftliche, politische, kulturelle und soziale Umwälzungen, Brüche, Tendenzen ungeschminkter zeigen, ja geradezu in allen Facetten entblößen.

Ich möchte versuchen, von einer Peripherie aus, von der deutsch-slowenischen Sprachgrenze, die für Kärnten prägend ist, über das Phänomen des literarischen Sprachwechsels nachzudenken. In Klagenfurt, bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur, haben in den vergangenen drei Jahren drei Autorinnen den Bachmann-Preis gewonnen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Nichts Neues, wird man gleich einwerfen, das gab es schon in den Jahren vorher, es fällt nicht weiter auf, das Thema liegt sozusagen auf der Straße. Mittlerweile haben sich ganze Wissenschaftszweige, die Kognitionswissenschaft, die Linguistik, die Komparatistik, der Frage angenommen, es gibt renommierte Preise, die an deutsch schreibende Autorinnen und Autoren nichtdeutscher Muttersprache vergeben werden, man spricht vom neuen Nomadentum, wenn man den etwas verschlissenen Begriff „Autoren mit Migrationshintergrund“ nicht mehr verwenden möchte. Man spricht vom Unterwegssein, von postkolonialen, transkulturellen und hybriden Mischkulturen, eine wahre Flut an Etikettierungen versucht das Phänomen des Sprachwechsels in der Literatur zu erfassen. Fast scheint es, als wären die in eine Sprache eingewanderten Autoren das Produkt einer internationalen Transaktion, herausgerissen aus ihren sozialen, kulturellen, sprachlichen Verankerungen und an neue Sprachufer gespült.

Dabei könnten die Gründe, die zu einem Sprachwechsel der Autorinnen und Autoren führen, unterschiedlicher und ostentativer nicht sein. Am Ausgangspunkt steht viel zu oft die Flucht vor politischer Verfolgung oder Krieg, die Flucht aus Armut und sozialer Misere, ein Studium, eine neue Arbeit, die Liebe mit ihren nachhaltigen Bindungskräften, eine mehrsprachige Lebenssituation. Im Modediskurs der Ortlosigkeit könnte man in diesen Entwicklungen eine neue Form des Kosmopolitismus erkennen, aber der Begriff setzt ökonomische und politische Freiheit voraus und würde die zumeist schmerzvollen Erfahrungen des Verlusts von Heimat und Sicherheit sowie die großen Anstrengungen der Betroffenen, deren es bedarf, um irgendwo anzukommen, außer Acht lassen.

Also business as usual? Wenn da nur nicht die vielen Zurufe, die Zurechtweisungen, Kategorisierungen und die ständig sich wiederholenden Fragen nach der Identität der Autoren wären. Macht sich da nicht ein Wunsch nach Abgrenzung bemerkbar, nach einer Markierung des angestammten literarischen Territoriums? Die in die deutsche Sprache eingewanderten Autorinnen und Autoren sollten sich auf ihre speziellen Themen beschränken, konnte man vor nicht allzu langer Zeit im deutschen Feuilleton lesen, und nicht danach trachten, sich in den deutschsprachigen Literaturbetrieb einzupassen. Dem folgte eine kurze Diskussion, man schien sich bald darauf geeinigt zu haben, dass die „eingesprachten“ Schriftsteller wie Ilija Trojanow sie nennt, eine Bereicherung für die deutschsprachige Literatur seien. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass wir uns in einem Moment der Ruhe vor dem Sturm befinden, in dem man den dazugekommenen Schriftstellerinnen entgegenrufen möchte, sie sollten sich auf ihre Geschichten und Bemühungen nicht allzu viel einbilden, schließlich gebe es noch die angestammten Autoren, denen die Zufluchtsprache eigentlich gehöre.

Die Erfahrungen, die ich nach dem Wechsel in die deutsche Literatursprache und nach dem Bachmann-Preis gemacht habe, bestätigen meine Einschätzung, dass ein Sprachwechsel ein äußerst schwieriger Prozess ist und notgedrungen verbunden mit kulturellen und persönlichen Konflikten. Die Diskussionen, die ich in den vergangenen drei Jahren geführt habe, waren geprägt von hoher Emotionalität und sehr heterogenen Anforderungen an mich als Schriftstellerin. Ich bin bei nahezu allen literarischen Auftritten und in nahezu allen Interviews beharrlich nach meinen Sprachen und nach meiner nationalen, kulturellen Identität befragt worden. Warum ich in deutscher Sprache schreibe, wo ich doch als Angehörige der Kärntner Slowenen slowenisch aufgewachsen sei und am Beginn meiner schriftstellerischen Arbeit auf Slowenisch geschrieben habe. Welcher Kultur ich mich zugehörig fühle, ob ich mich als slowenische oder österreichische Schriftstellerin sehe? Die Situationen glichen einer fortdauernden Grenzkontrolle, einem ununterbrochenen Einbürgerungsverfahren bei dem mir abverlangt wurde, die Fragenden von meinen ehrlichen Absichten zu überzeugen und meine individuelle kulturelle Zugehörigkeit darzulegen.

Ist es überhaupt möglich, vor dem Hintergrund des Kärntner Sprachenkonflikts, als Schriftstellerin frei über die Wahl der Sprache zu entscheiden?

In meiner Sprachbiografie gibt es einen Punkt, an den ich immer wieder zurückgeworfen werde, einen markanten Einschnitt. An dieser Stelle fließen meine Spracherfahrungen zusammen, die geprägt sind vom Bewusstsein des Mangels an Sprache und von ausgesprochenen oder unausgesprochenen Sprachverboten. Nicht nur, dass im entlegenen Südkärnten, wo ich aufgewachsen bin, das Sprechen eines Mädchens oder einer Frau als unschicklich und aufdringlich galt, in Kärnten ist mir auch meine slowenische Muttersprache oft um die Ohren geflogen. Wegen ihr wurde ich zu den politisch unzuverlässigen Bürgerinnen gezählt, die von ihrem Recht auf die zweite Landessprache nicht absehen wollten und damit die Einheit des Landes infrage stellten. Ich musste, bevor ich mich in eine Sprache flüchten oder mich an einer Sprache festhalten konnte, meine Muttersprache verteidigen, ohne genau zu wissen, wie man für eine Sprache spricht.

Noch bevor ich hätte sagen können, was eine Sprache ist, ein Medium des Denkens, der Weltauffassung, der Verständigung, des Handelns, der Fantasie, der Sehnsucht, wurden mir in Kärnten die hier beheimateten Sprachen als ideologische, politische Kategorie vorgeführt, als zwei einander ausschließende Pole, zwischen denen ich mich entscheiden müsste. Es ging dabei um das Versprechen von Heimat, um Zugehörigkeit, verbunden mit dem Vorwurf der Unangepasstheit gegenüber der Mehrheitsbevölkerung.

Meine Familie und ich waren der deutschnationalen Demagogie ausgesetzt, weil wir auf dem Land lebten und die Propaganda an die zweisprachige Landbevölkerung adressiert war, nicht an die wenigen weltläufigeren Menschen in den Kleinstädten. Noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der schon seit Jahrhunderten in Kärnten lebenden zweisprachigen und slowenischen Bevölkerung von deutschnationalen Heimatverbänden nahegelegt, dass man nur dann als vollwertiger Kärntner gelte, wenn man die slowenische Sprache in der Familie und in der Öffentlichkeit aufzugeben bereit sei. Die Politik ließ die Heimatverbände nicht nur bereitwillig gewähren, sie berief sich sogar auf ihre Phobien, wenn es darum ging, die Umsetzung der im österreichischen Staatsvertrag zugesicherten Volksgruppenrechte hinauszuzögern. Wer von der zweisprachigen oder slowenischen Bevölkerung die Anpassung und Assimilation schaffte, wer bereit war, dieses kulturelle Opfer für die begehrliche Heimat zu bringen, der konnte davon ausgehen, im Land angekommen zu sein.

Das Absurde daran war, dass ich meine gelebte Zweisprachigkeit immer als Bereicherung empfunden habe und schon als Kind nicht verstehen konnte, warum es besser sein sollte, einsprachig zu sein. Später konnte ich lange mit kulturpolitischem Engagement dagegenhalten und tun, als ob ich mich in zwei völlig gleichwertigen Sprachen und Kulturen bewegte. Mit den Jahren wurde mir jedoch klar, dass sich die slowenische Sprache in Kärnten seit Beginn des 20. Jahrhunderts aufgrund ihrer strukturellen, gesellschaftlichen Marginalisierung kaum frei und umfassend entfalten konnte. Die mediale und kulturelle Anbindung an Slowenien wurde durch politische und ideologische Hürden erschwert. Alle kulturellen Bemühungen der Kärntner Slowenen reichten gerade aus, das dünne Sprachkleid des Slowenischen in Kärnten an allen Ecken und Enden zu flicken.

In den Achtzigerjahren schrieb ich auf Slowenisch, nicht nur um mich meiner Muttersprache zu vergewissern, sie zu erobern, zu erkunden, sondern um das Zurückweichen des Slowenischen in Kärnten aufzuhalten, dachte ich – hoffte ich –, und um in meine eigene Geschichte vorzudringen. Eine Zeit lang glaubte ich sogar, mit meiner schriftstellerischen Arbeit die romantischen, sprachlichen und politischen Utopien der slowenischen Literatur des 19.Jahrhunderts wiederbeleben zu können, wenn auch nicht in nationaler, sondern in kultureller Hinsicht. Je weiter ich in die Beengtheit der regionalen slowenischen Kultur und in die nervösen Ausbruchsversuche der Literatur Sloweniens vordrang, desto mehr dachte ich an Flucht. Doch wie etwas verlassen, wenn es deiner Unterstützung bedarf? Wie mutwillig aus einer Schreibsprache ausziehen, wenn das Aufgeben des Slowenischen in Kärnten das zu Erwartende ist?

Noch tiefer in die Bedrängnis zog mich das Wissen, dass die Generationen meiner Großeltern und Eltern in der Zeit des Nationalsozialismus ihr Bekenntnis zur slowenischen Sprache und Kultur mit Verfolgung, Unterdrückung und vielfach mit dem Leben bezahlen mussten. Dieser Umstand hinterlässt einen Riss, einen blauen oder weißen Fleck in meiner Sprachbiografie, den ich nicht verbergen möchte und kann. Es gibt keine wirklich makelfreie Entscheidung in einer ungleichen Konstellation. Dessen ungeachtet bedeutet das Schreiben auf Deutsch für mich einen Weg aus der Enge der fortwährenden nationalen und sozialen Zuschreibungen. Ich musste für diesen Schritt in die Freiheit kein Land verlassen, sondern nur meine Zweisprachigkeit befragen und in eine Sprachlandschaft wechseln, die bereit war, mich aufzunehmen.

Die Sprache hat also ihren Ort. Der Ausgangspunkt jeder Geschichte liegt im Topografischen. Die Entscheidung für oder gegen eine Sprache ist immer eingebettet in einen gesellschaftlichen und politischen Prozess. Die Prozesse der Assimilation, des Absterbens oder Gedeihens von Sprachen vollziehen sich oft an entlegenen Peripherien, an willkürlich gezogenen staatlichen Grenzen, die immer auch kulturelle, nationale sein möchten. Sie werden als randständig bezeichnet, zielen jedoch ins Zentrum der europäischen Kultur. Der ganze europäische Kontinent ist durchzogen von sichtbaren und unsichtbaren Sprachkonflikten, von Geschichten der Verdrängung und der Dominanz von Sprachen.

Das Ankommen in einer Sprache ist immer auch eine Rettungsgeschichte. Davon erzählen vielstimmig die Texte der „eingesprachten“ Autorinnen und Autoren. Mit ihren Arbeiten unterlaufen sie die Ideologie der Globalisierung, wonach es selbstverständlich geworden sei, sich von der Geografie und von der Geschichte zu lösen. Sie haben die Geschichte der Länder und Orte, die sie entweder verlassen haben, in denen sie leben oder zwischen denen sie pendeln, längst in ihre sprachlichen Bilder aufgenommen und spiegeln sie auf vielfältige Weise. Sie sind Fährtenleser zwischen den Sprachen und Kulturen, sie füllen die Archive ihrer neuen eroberten, geliehenen Sprachen mit den Geschichten ihrer verlassenen, zerstörten, zersplitterten Familien oder ihrer reichen Herkunftskulturen. Auf ihren Schreibtischen begegnen sich Wörter und ihre Bedeutungen im vielfachen Vergleich. Sie wägen einander ab, hören einander zu, legen Wert auf feine Nuancierungen, Schattierungen und Unterschiede. Längst bahnt sich in den Literaturen ein mächtiges, tief reichendes Zwiegespräch an, das jede Sprache, die die Türen für Dazukommende geöffnet hat, bereichern und erweitern wird. Die Erzählungen der „eingesprachten“ Autorinnen kreisen um die verwundbare Conditio humana und führen uns abermals und beharrlich die Brüchigkeit aller kulturellen Errungenschaften vor Augen.

Es gibt eine Redensart, die in Bezug auf die in eine Sprache eingewanderten Autorinnen und Autoren immer wieder verwendet wird, das „Schreiben zwischen den Sprachen“ oder „Schreiben zwischen den Kulturen“. Das klingt auf den ersten Blick einleuchtend, kann aber bei genauerem Hinsehen das Phänomen des Sprachwechsels oder einer Spracheroberung nicht erfassen. Es ist doch so, dass man nicht zwischen den Sprachen schreibt, sondern nur in der Sprache schreiben oder sich eine Sprache erschreiben kann. Man befindet sich, solange man schreibt, nie außerhalb einer Sprache und ihrer Traditionen. Eine solche Redensart könnte sich nur auf die soziale Situation der Schriftstellerinnen beziehen, die sich oft in einem politischen und persönlichen Niemandsland zwischen den Kulturen und Überlieferungen wähnen.

Damit komme ich wieder auf einen Ort zu sprechen, den man nur mit äußerster Vorsicht als Niemandsland bezeichnen könnte, weil er selten so unbelebt und unbehaust wirkt wie der leere, drohende Sicherheitsstreifen zwischen zwei Staaten. Es ist ein neuralgischer, vielsagender Ort, weil er als Sinnbild für die Unterschiede zwischen den Sprachen und ihre Selbstbezogenheit steht und das Bedürfnis nach Verständigung, Ankommen und Hinüberwechseln, nach dem Erreichen des anderen, Unbekannten am Leben hält, ja geradezu beflügelt. Ilma Rakusa hat einmal geschrieben, dass man als Mehrsprachige lernt, dass es nichts Selbstverständliches gibt, dass alles auf Differenz beruhe. Es gibt keinen Ort, der so sehr nach einem Wortwechsel, nach einer Übersetzung verlangt, wie die Sprachgrenze.

Einen solchen Ort, vielmehr einen solchen Raum, bewohne auch ich. Er ist nicht sichtbar und gleicht einem verdunkelten Korridor, den ich als Verbindungsweg zwischen meine bestimmenden Sprachen gebaut oder gegraben habe. Im Vergleich zu den schmalen, wesentlich instabiler gefertigten Korridoren, die zu anderen Sprachen führen, ist er vollgeräumt mit Versatzstücken aus der Vergangenheit und Geschichte meiner Sprachen. Alle Schränke und Läden quellen über von gedachten, gehörten und gelebten Geschichten. In diesem Korridor übe ich mich in Unsichtbarkeit, gehe beständig auf und ab, hin und her, befrage einmal die eine, dann die andere Seite. Ich halte mein persönliches Scherbengericht über die Konfliktgeschichte, die meine eigene ist, und übe mich in der Kunst der Verknüpfung. Die Verbindungsbande, die ich um meine Sprachen und Kulturen gezogen habe, sind das Netz, das mich hält und sichert. Manchmal geistern Stimmen und Rufe durch die Abgeschiedenheit und Stille des Korridors, als Nachklang aus Ängsten, Gewalterfahrungen und Befürchtungen, dann wieder werden sie von Echowellen eines geglückten Dialogs gejagt.

Im Korridor lege ich alles Bezeichnende und Bezeichnete ab, werde frei von Zuschreibungen. Außerhalb des Korridors sehe ich die Sprachen leuchten. Sie verströmen ein starkes, anziehendes Licht. Alles, was in dieses Licht drängt, im Licht der Sprache erscheint, wird dadurch erst wirklich und wichtig und erkennbar. Die Sprache ist für mich das ständig Unerreichte, Herbeigesehnte, ein Sehnsuchtsort, eine Bühne der Wirklichkeit und ihr Spielleiter. Meine Grunderfahrung im Hinblick auf Sprache ist, dass sich immer wieder vermeintliche Sprachbesitzer, Sprachwahrer, Platzanweiser und Platzverweiser zwischen mich und meine Sprachen zu drängen versuchten. Sie taten, als sei ihnen ihre Sprache aus heiterem Himmel, wie gottgewollt zugefallen, ohne Rücksicht darauf, ob sie mit ihr umgehen konnten oder nicht. Mein Anliegen als Schriftstellerin ist deshalb, einen Teil des angehäuften, gleichsam hegemonialen Sprachbesitzes an mich zu reißen, denn ein gehorteter, gesicherter Reichtum soll und muss geteilt werden.

Franz Joseph Trotta aus Ingeborg Bachmanns Erzählung ist ein Nachfahre jenes Trotta, der in Joseph Roths Roman „Die Kapuzinergruft“ am Ende zu eben dieser Kapuzinergruft in Wien eilt. Nach dem Zusammenbruch des Vielvölkerstaates der Habsburgermonarchie, vor dem Beginn einer drohenden Apotheose des Nationalen im „Deutschen Reich“, glaubt er, seine Heimat endgültig verloren zu haben. Es war ein Land, das von den Peripherien, von der Substanz seiner Kronländer mit ihren Sprachen und Kulturen zehrte, in dem man alles sein konnte Slowene, Ruthene, Galizier, Ukrainer, Bosnier und trotzdem ein Österreicher. Das sollte sich ändern. Ingeborg Bachmann nimmt diesen Erzählfaden auf und spinnt ihn weiter in ihre Zeit mit dem Blick zurück auf das, was dazwischen geschehen war.

Katja Petrowskaja, die Bachmann-Preisträgerin des Vorjahres, kommt im letzten Kapitel ihres Romans „Vielleicht Esther“ nach Wien, am Tag, als die sterblichen Reste von Otto von Habsburg in der Kapuzinergruft beigesetzt werden. Sie ist auf der Suche nach ihren Vorfahren und stammt wie Joseph Roth aus der heutigen Ukraine, aus einem Land, das damals im Zentrum Europas lag und heute an seiner Peripherie liegt, im Grenzgebiet, das wieder zu einem Versuchsfeld für eine Katastrophe werden könnte. Petrowskaja hat einen langen Weg zurückgelegt, der sie durch Länder und Städte, bekannte und unbekannte Orte führte, auch durch solche, die sich im vergangenen Jahrhundert wie Gespenster in unser Bewusstsein geschoben haben, mit Namen wie Babij Jar, Gunskirchen, Mauthausen und anderen, die ungenannt bleiben. Man spricht vom angekündigten Ende Europas, dabei ist Europa noch gar nicht zu sich und in sein wahres Kraftzentrum gelangt, das den größten Gewinn aus der Vielfalt seiner Sprachen, Kulturen und aus seinen sozialen Errungenschaften zieht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2014)

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