Eine Diva, ins Herz getroffen

„Expedition Europa“: Odessa und die Toten des 2. Mai.

Odessa, das hat schon diesen Klang: blauäugige Matrosen und abgebrühte Marketenderinnen, jüdischer Humor und russische Chansons unter aufgeschossenen Platanen. Am 2. Mai wurde die vielgeliebte Hafenstadt getroffen. Nach einer Straßenschlacht mit proukrainischen Fußballfans starben im Gewerkschaftshaus mehr als 50 prorussische Aktivisten, durch Verbrennen, Ersticken, Fensterstürze. Ein bis heute unerklärliches Massaker.

Ich fahre nach Odessa, nehme aber den umständlichsten Weg. Das südliche Bessarabien, aufgeteilt auf Moldawien und die Ukraine, ist mit seinem Nationalitätengemisch welthaltig, mit seinen Schlaglöchern ist es aber auch abgelegenste Provinz. Als verbindende Umgangssprache dient Russisch, und im Ringen zwischen Brüssel und Moskau lehnen viele den EU-Kurs ihrer Regierungen ab.

Dass ich in der Hauptstadt des autonomen Gagausiens Männer mit dem Georgsbändchen sehe, dem Erkennungszeichen prorussischer Militanz, wundert mich nicht. In Comrat kriegt man ausschließlich putinverrückte Zeitungen. Komplexer stelle ich mir Basarabeasca vor, in dem die fünf führenden Nationalitäten Bessarabiens zu ähnlich großen Anteilen vertreten sind. „Ich weigere mich, Moldawisch zu lernen“, sagt ein ethnischer Ukrainer, „solange Moldawien alles Russische ablehnt.“ Das Russische, damit meint er sich. In Taraclia, dem Hauptort der Bulgaren Moldawiens, lädt mich eine Oma in Schwarz auf ihre Fastenspeise ein. „In Odessa ist Krieg“, sagt die 78-Jährige, „wer gegen wen, das weiß ich aber nicht.“ Die Durchreiche ist mit einer kommunistischen Parteizeitung abgedeckt, darauf die rote Schlagzeile „Für die Zollunion mit Russland“. Die Oma ist dabei sehr gläubig, dankt in einem fort dem Herrgott.

„Das ist eine Infektion“

Ich halte bei Bolgrad, der bulgarischen Hochburg der Ukraine. Hier wollen sie nicht Ukrainisch lernen. „Die Ukrainer sind die, die schießen“, erklärt ein rothäutiger Kolchosenbauer vor der Greißlerei. „Sie haben uns die russischen Fernsehsender abgedreht. Mir fehlen die russischen Filme.“ Und der 2. Mai? Er schüttelt düster den Kopf: „Ich weiß nicht, was da vorgefallen ist.“ An der Grenze frage ich, warum mein Gepäck bei der Ausreise in die krisengeschüttelte Ukraine nicht kontrolliert wird. „Das ist eine Infektion“, sagt der elegante moldawische Grenzer, „die soll hübsch in der Ukraine bleiben. Die Ukrainer haben uns auch nicht geholfen, als wir in Transnistrien Krieg hatten. Ukrainische Kosaken haben sogar gegen uns gekämpft.“

An der bessarabischen Gelsen-Riviera fehlen die ausländischen Touristen, Odessa selbst kommt mir aber vor wie immer. Die Cafés und Strände sind gut gefüllt, die Baustellen am Meer brummen. Neu ist nur, dass private Sicherheitsdienste patrouillieren. Die Polizei, durch ihre Untätigkeit am 2. Mai kompromittiert, versteckt sich. Ich gehe zum Gewerkschaftshaus. Eine Mahnwache mit Georgsbändern, Spendenboxen für den Donbass. Ich verstehe nicht, warum so viele Menschen verbrannten – die meisten Fenster zeigen keinerlei Rauchspuren. Die wenigen Passanten halten flüsternd inne. 200 Meter weiter wieder das fröhliche Leben. In ihren leichten Kleidchen stilsicherer denn je, flanieren slawische Mademoisellen wie aus Tschechows Sommerfrische Romanzen durch die nach den französischen Gründern benannten Straßen.

In ganz Odessa sah ich nur zwei Ukraine-Fähnchen und ein Georgsbändchen. Die Odessiter, mit denen ich sprach, verweigerten jede Parteinahme. Sie waren zornig. Als wäre das, was am 2.Mai geschah, Odessa zutiefst fremd. „Odessa Mama“, wie die Vielgeliebte besungen wird, ist ins Herz getroffen. Aber sie tänzelt mit der Grazilität einer Diva darüber hinweg. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2014)

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