Zwischen Hirn und Hand

Handschrift: eine Fertigkeit im Ausgedinge? Oder der Schlüssel, der uns die Tür zum freien Denken öffnet? Von der Lust, mit der Hand zu schreiben im Zeitalter von E-Mail, Facebook, SMS.

Das Heft ist liniert, so wie ich es in der Volksschule benützt habe. Es ist dünn und handlich. Auf der Umschlagseite klebt ein Schild, unbeschrieben. Die Seiten tragen jeweils drei Linien. Ich erinnere mich: In der ersten Klasse waren es vier. Oder fünf? Damals haben wir, die Erstklassler, noch die Kurrentschrift üben müssen. Die Zeilen, die Linien hatten Platz zu bieten für die sogenannten Überlängen: beim h etwa, beim f. Bei den Großbuchstaben ist es damals nicht ohne Schnörksel abgegangen. Zwei Jahre später musste ich mich dann auf eine andere Schriftart einstellen. Wir nannten sie „Latein“, obgleich sie mit der Sprache nichts zu tun hatte. Die haben wir erst ein paar Jahre später gelernt.

Das Heft, das ich meine, lag bis heute in einer Lade meines Schreibtisches, bis ich es wieder hervorholte. Es hat, wie gesagt, drei Linien pro Zeile. In krakeligen Buchstaben steht da: Chorherr. Und in der nächsten Zeile wieder: Chorherr, genauso krakelig geschrieben. Und dann ein ganzer Satz: „Jetzt habe ich gerade die Zeitungen bekommen.“ Die Buchstaben sind windschief undeutlich, aber immerhin zu entziffern. Geübt, wie man merkt. Der nächste Satz freilich macht mich schlucken. Er ist ebenso krakelig und windschief wie mein Name, der davor steht: „Ich möchte wieder gesund sein.“ Wie ein Hohn liest sich dann die nächste Inschrift: „Prof. Dr. Thomas Chorherr“. Und dann gleich, aber in Blockschrift, die mir damals offenbar leichter von der Hand ging, der Name meiner Frau: CHRISTA.

Das Übungsheft stammt nicht aus dem Jahr 1938, als ich im Herbst in der Hegelgasse die erste Volksschulklasse besuchte, sondern aus dem Jahr 1993. Als ich – ein, wie ich immer sagte, 150-prozentiger Rechtshänder – nach einer Gehirnblutung wieder schreiben lernte. Mit der Hand schreiben. Und wieder lese ich in diesem Heft, dem Schulheft, das es tatsächlich geworden ist, ein paar Seiten weiter – und in ähnlichen, vielleicht um ein Haar besseren Buchstaben: „Ich werde meine Unterschrift neu beglaubigen lassen müssen.“ Und dann in edler, wenngleich erzwungener Selbsterkenntnis: „Ich verbringe ein furchtbares Gekritzel. Ich bemühe mich, schön zu schreiben.“ Gleich zwei-, dreimal habe ich es – jawohl, gekritzelt. Aber deutlich gekritzelt. Und dann, gleichsam als Motto: „Übung macht den Meister.“ Geübt habe ich mit einer Physiotherapeutin. Ich danke ihr noch heute dafür.

Nein, es folgt kein Lehrgang für den Umgang eines Rechtshänders mit dem nun erzwungenen Linksschreiben. Es folgt vielmehr die Antwort auf die Frage, warum ich stante pede (freilich nicht nur stehenden Fußes, wie die Metapher sagt, sondern weil ich am liebsten mit dem Fuß aufgestampft hätte) wieder schreiben wollte. Und zwar nicht unter Zuhilfenahme jener technischen Mittel, die jetzt zur Verfügung stehen, sondern mit der Hand. Ich bin ein Anhänger, ein Verfechter der Handschrift. Nicht zuletzt, weil sogar eine Europamarke der österreichischen Post für das Briefeschreiben geworben hat. Das Markenbild zeigte eine handgeschriebene Epistel.

Lassen wir vorerst zwei Fachleute zu Wort kommen, die sich in dem von mir sehr geschätzten Branchenmagazin „Der österreichische Journalist“ unter dem Titel „Legales Schreibdoping“ einschlägig geäußert haben und auch zum Thema „Schreiben mit der Hand ist nicht überflüssig, weil . . .“ Stellung nahmen. Da ist einmal Christian Sauer, der, wie zu lesen ist, als „Coach und Trainer für Medienprofis in Hamburg“ derzeit in Wien arbeitet. Schreiben mit der Hand sei nicht überflüssig, erklärt er, „weil wir es als Kinder gelernt haben. Handschrift baut eine Brücke zur kindlichen Kreativität. Skizzen, Mindmaps, Entwürfe zu Textpassagen – für all das ist Handschrift ein Schlüssel. Sie öffnet jene Tür zum freien Denken, die an Bildschirmen dauernd zuschlägt.“ Zu ähnlichen Schlüssen kommt Amelie Gräf, gleichfalls aus Hamburg stammend, die viele Jahre als Schreibtrainerin in der Journalistenausbildung tätig war und sich vor allem für die „wechselseitige Inspiration von Journalismus und Literatur“ interessiert. Schreiben mit der Hand ist, sagt sie, nicht überflüssig, weil „es inzwischen Untersuchungen gibt, die bewiesen haben, dass die Interaktion zwischen Hirn und Hand am besten funktioniert. Ist eigentlich logisch, oder? . . . weil diese Art zu schreiben aus der (schlechten) Routine und aus der Blockade lockt.“ Zugegeben: Ich habe mir bis jetzt über eine allfällige Interaktion zwischen Hirn und Hand nicht den Kopf zerbrochen. Eher stimme ich Kollegen Sauer zu, der von der Tür zum freien Denken spricht, die wir offenhalten sollten. Und zwar mit der Handschrift. Was dann sofort zum Nachdenken über die Frage führt, wie viel an Kultur der Menschheit verloren geht, wenn sie anstelle der Handschrift immer wieder und immer mehr die Elektronik und deren Hilfsmittel verwendet.

Da kommt mir zuallererst ein längst verstorbener Freund ins Gedächtnis, der eine Reihe von Briefen zu Recht wie einen Schatz gehütet hat. Sein Vater stand mit österreichischen Literaten „in Korrespondenz“ (auch ein Begriff, den man heute fast nicht mehr kennt) und zeigte mir Schreiben, die mir den Mund wässrig machten: von Stefan Zweig bis Arthur Schnitzler, von Raoul Auernheimer bis Alfred Polgar. Mit der Hand geschrieben waren sie alle, diese Briefe, und literarische Kostbarkeiten.

In der Tat ist, wenn man von Kultur spricht, die Briefkultur eine ganz eigene Spezies. Kollege Helmut A. Gansterer hat einmal literarisch und in Buchform darüber gegrübelt, ob es gestattet sei, per E-Mail zu kondolieren. Es wird, glaube ich, diese Frage bald nur mehr mit einem emphatischen „Natürlich – wie denn sonst?“ beantwortet werden können. Und auch Glückwünsche werden künftig nur mehr elektronisch übermittelt werden – oder?

Allein, Notizheft und Notizblock werden deshalb nicht völlig außer Betrieb genommen. Zwar ersetzen Diktafone zunehmend die Notizen (was versteht man denn heute überhaupt noch unter Notizen?). Aber zu meiner Freude habe ich jüngst im Fernsehen miterleben dürfen, wie die Teilnehmer einer Pressekonferenz samt und sonders mitgeschrieben haben. Wie das? War es doch noch vor wenigen Jahren unüblich, einen Kugelschreiber in die Hand zu nehmen. Ich erinnere mich an Informationsveranstaltungen, wo die Teilnehmer vor dem Podium ganze Batterien von Aufnahmegeräten aufgebaut hatten. Ich erinnere mich aber auch an ein „Sommergespräch“, das ich vor vielen Jahren mit Bruno Kreisky in dessen Ferienquartier in Gastein führte. Ich hatte mir nur Schlagworte notiert, und als ich einige Tage später den Bundeskanzler im Parlament traf, zeigte er sich verwundert, dass er an seinen in der „Presse“ wiedergegebenen Äußerungen nichts auszusetzen hatte: „Und dabei haben S' doch gar nicht mitgeschrieben!“ Das, sagte ich, sei Routine.

Wann macht man sich überhaupt noch Notizen? Bei welcher Gelegenheit genügt es nicht, Gesprächsteile akustisch aufzunehmen? Und was, wenn man nicht entziffern kann, was man notierte? Das Ende der Schreibschrift ist ja fast schon angebrochen und wird in einigen Ländern propagiert. Die Schreibschrift im Unterschied offenbar zu dem, was wir als Blockschrift bezeichnen. Sie ist gewiss leserlicher als die Schreibschrift, freilich aber auch langsamer aufs Papier zu bringen. Womit ich zum Thema „Leserlichkeit“ komme, ein Problem, das Wasser auf den Mühlen der Verfechter von E-Mails und Ähnlichem ist. Wo sind die Zeiten, da unsereiner sich noch (siehe drei- oder fünflinige Schulhefte) mit den Ober- und Unterlängen der Handschrift auseinandersetzen musste? Da sich ein Briefempfänger abmühen musste, Handschrift zu entziffern. Es hat Zeiten gegeben, da vor allem die Ärzte diesbezüglich schuldig wurden. Rezepte konnten bestenfalls die Apotheker lesen – auch die nicht immer. Das wenigstens hat sich durch die immer häufiger werdenden digitalen Vermerke und Verschreibungen gebessert.

Nicht so, was die Unterschriften betrifft. Ich habe meine immer wieder geübt, als ich – habe ich eigentlich schon darüber geklagt, wie schwierig das war? – das Schreiben mit der linken Hand lernen musste. Das Unterschreiben vor allem. Ich habe es zustande gebracht – „mit links“, wie es so schön heißt. Nur: Während ich früher eine durchaus leserliche Unterschrift produzieren konnte, besteht sie jetzt nur mehr aus einem Konglomerat von als Buchstaben kaum erkennbaren Hieroglyphen. In dieser Hinsicht freilich bin ich nicht allein. Unterschriften auch von völlig gesunden Menschen lesen zu können ist eine Kunst, die kaum jemandem gelingt. Und das betrifft keineswegs nur Ärzte. Die Frage, ob solches nicht den Fälschungen Tür und Tor öffnet, muss erst beantwortet werden.

Keiner Antwort bedarf die Frage, wohin die Kommunikation gehen mag, wenn es die Handschrift nicht mehr geben sollte. Wenn es also – bleiben wir simpel – keine Grüße aus dem Urlaub, auf Ansichtskarten geschrieben, mehr geben sollte. Und wollen wir wirklich auf Weihnachtsgrüße und Christkindwünsche verzichten? Aus Amerika, wo ich eine Zeit lang studierte, habe ich die Gewohnheit mitgebracht, X-Mas-Grußkarten auf einer Kommode aufzustellen und mich ob ihrer Vielzahl bewundern zu lassen.

Gewiss, da gibt es eben die immer populärer werdenden E-Mails. Mail heißt Post. E-Mail heißt demnach elektronische Post. Aber was sagen dann jene dazu, die so gerne Ansichtskarten aus exotischen Ländern bekommen? Routinierte Reisende machen es der Post leicht. Sie drucken Adressen im Vorhinein und bekleben damit die Karten. Und was die Briefmarken betrifft, so wird es ohnehin nicht mehr allzu lange dauern, bis sie als Preziosen gehandelt werden. Ich sage es trauernd. Denn ich muss ein zweites Geständnis ablegen. Nicht nur, dass ich wieder schreiben kann – ich liebe auch Briefmarken. Ich bin Philatelist. Ich nehme mit Schaudern zur Kenntnis, dass es nicht nur immer weniger Telefonzellen gibt (wer telefoniert noch, da das E-Mailen und SMSen, ein entsetzliches Wort, viel bequemer ist?), sondern auch viel weniger Briefkästen. Sie sind offenbar nicht mehr notwendig.

Freilich gibt es Institutionen, die gegensteuern. Da ist etwa vor Kurzem die Meldung aufgetaucht, dass eine allzu häufige Verwendung von Mobiltelefonen zweierlei Probleme mit sich bringen kann. Männer, die das Gerät in die Hosentasche stecken, könnten impotent werden, und Menschen, die allzu oft telefonieren, könnten Gefahr laufen, an Gehirntumor zu erkranken. Ich glaube beides nicht. Aber ich weiß, dass die Post angeblich immer weniger Briefe zu befördern hat. Der Rückgang beträgt jährlich knapp fünf Prozent. Freilich muss mir dann erst einmal einer erklären, wieso mein Papierkorb genauso voll ist wie ehedem. Von Briefkultur ist da leider nichts mehr zu merken. Noch einmal: Darf man per E-Mail gratulieren? Oder auch: Darf man einen wirklichen, echten Liebesbrief anders schreiben als mit der Hand? Aber die Zeiten ändern sich eben. Selbst der Herr Bürgermeister schickt mir alljährlich eine vorgedruckte Glückwunschbotschaft. Aber immerhin bin ich noch auf der Liste.

Und die Europamarke, nicht wahr, erinnert mit ihrer Werbung für die Handschrift daran, dass meine Schreibübungen nicht vergeblich waren. Es gibt auch andere Menschen, die auf SMSen verzichten. Offen gesagt: Ich kann es gar nicht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.