Ma ma ma, Ma ma ma ma Loo!

(C) Stadtmuseum Judenburg
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Der allmorgendliche Brotduft aus der Bäckerei Schenk nebenan. Dielange, steile Stiege in den muffigen Erdkeller. Die wunderbar endlosen Sommerferien. Verbotene Plätze. Die tägliche Fluortablette. Und Fizzers. Splitter der Erinnerung an die behütete Kindheit eines 1962 in Judenburg Geborenen.

Der allmorgendliche Brotduft aus der Bäckerei Schenk nebenan, überlagert von geheimnisvollen Gerüchen nach Druckerschwärze, Maschinenöl und Riesenrollen frischen Papiers, die von unten in unsere straßenseitige, von der mitten durch die Stadt führenden B 17 lärmgeplagte Wohnung dringen, aus der Druckerei „Styria“ herauf, verbotener und deshalb umso verlockenderer Spielplatz mit Bergen von Papierschnipseln, in die man kühn springen kann, um darin zu versinken, während in den Betriebsräumen nebenan Blei in Eisenbottichen kocht und monsterhafte Setz-, Druck- und Schneidemaschinen in Elefantengröße vielstimmig lärmen und betrieben werden von emsigen, zu uns Kindern des Herrn Direktors stets freundlichen Schriftsetzern, Druckern und Buchbindern, neben deren nach Leim duftender Werkstatt das „Fräulein“ Sekretärin im Büro ihre Mittagspause opfert, um uns Geschichten vorzulesen . . .

die lange, steile Stiege in den muffigen Erdkeller, über welche die Mutter winters täglich die in Packpapier eingeschlagenen Stangen scheibenförmiger Holzbriketts in den ersten Stock schleppt – bald wird diese Arbeit bis zum Jahre später endlich erfolgten Einbau der Zentralheizung die ungeliebte Aufgabe von uns Kindern sein –, um damit auf den Knien, nach dem sorgfältigen Bau eines kleinen Tipis aus Spänen und unter behutsamem Einblasen von Atemluft einen Ofen nach dem andern zu befeuern . . .

der große, „Wandl“ genannte Bottich auf dem Linoleumboden der Küche, in dem wir mit auf dem Herd erhitztem, entweder zu heißem oder zu kaltem Wasser gewaschen werden, observiert vom geheimnisvollen, grün pulsierenden Lichtauge eines mit Zaubertasten, Schaltknöpfen und Drehreglern gespickten, stets klassische Musik verströmenden UKW-Empfängers der Marke „Hornyphon“ – die dunkle, warm hinterleuchtete Glasscheibe dicht beschrieben mit klangvollen Namen unendlich ferner Städte wie „Roma“, „Ljubljana“ oder „Hilversum“ –, dessen Innenraum geradezu wimmeln muss von Scharen in Orchestern, Streichquartetten und Chören musizierender und singender Zwerge, die Vaters Ausruf „Mozart ist der Gipfel der Musik!“ tagtäglich und Stunde um Stunde aufs immer wieder Neue zu bestätigen bemüht sind . . .

der weiße Papier-„Tschako“ auf dem Kopf des Malermeisters Hubinger, der in den Höhen der obersten Sprossen seiner Holzleiter, ohne abzusteigen, kreuz und quer durch die Zimmer balanciert wie auf überlangen Stelzen, während aus farbgetränkten Malerrollen bunte Muster und kunstvolle Bordüren auf Zimmerwände fließen . . .

die dicken Augengläser des ebenfalls „Herr Hubinger“ genannten Hausmeisters, der im fortgeschrittenen Alter die Stiege von unten nach oben kehrt und wischt, am Sonntag verwundert vor der geschlossenen Bäckerei steht, sich von der Mutter dann Milch und Brot borgt und dennoch seine Arbeit weiterhin verrichten darf . . .

die abendlichen Zusammenkünfte des „Judenburger Musikkreises“ im von deckenhohen Bücherregalen, Notenschränken und Instrumenten beherrschten Wohnzimmer, wo eine kleine Gruppe Gleichgesinnter allwöchentlich unter Vaters Anleitung Musik der Renaissance probt, belauscht von Kindern, die hoffen, die musizierenden Gäste, darunter der Finanzbeamte mit dem wunderschön warmen Ton auf seinem goldglänzenden Instrument, der mir später den ersten fürsorglichen Posaunenunterricht geben wird, mögen von den köstlichen und ausnahmsweise weißen und noch dazu belegten, mit einem Mayonnaise-Tupfer gekrönten Brötchen etwas übrig lassen für uns . . .

der tägliche Einkaufsgang an Mutters Hand zu „Lebensmittel Pfandl“, wo man anschreiben lässt, bis wieder eine Wochenzahlung fällig ist, am von Geschäften und Lokalen dicht gesäumten Hauptplatz, über den später auch, so man sich nicht treiben, im Gassengewirr vom kürzesten Weg ablenken lässt, der Schulweg führen wird, quer über diesen unüberschaubar großen, stets geschäftigen Platz, beherrscht vom am Himmel kratzenden Stadtturm, einer den blühenden Park beschattenden, mächtigen Linde und dem gurgelnd und plätschernd unzählige Wasserläufe über mehrere Etagen abwärts schickenden Springbrunnen, in dessen kreisrundes Becken bei der „Gautsch“ zeremoniell und unter der johlenden Anfeuerung und zupackenden Mitwirkung der teils mittelalterlich kostümierten Beschäftigten der Druckerei die nun amtlich zu Gesellen gewordenen Setzer und Drucker in hohem Bogen geworfen werden . . .

die mit dem Vater in dessen Mittagspause schnellen Schritts in den Reiflinggraben unternommenen Spaziergänge, sozusagen das Training für die taglangen Bergtouren mit der ganzen Familie in den Seetaler Alpen, den Seckauer, Niederen oder Hohen Tauern an vielen – vielen! – Wochenenden, allesamt an kleinen Wundern und Entdeckungen reiche Expeditionen durch Jahreszeiten, Höhenzonen und sämtliche Wettererscheinungen (das unbeliebte, äußerst frühe Aufstehen hat sich wieder einmal doch gelohnt!), von welchen man oftmals mit wertvoller Beute in Form einer schillernden Vogelfeder oder Schlangenhaut, eines Hufeisens, Tierknochens, besonders schön gemusterten Steins – einmal sogar eines echten Bergkristalls! – oder als erkennbare Figur gewachsenen Wurzelstücks müde heimkehrt, um abends noch heißhungrig einen Teller dampfenden und mit Kakao bestreuten Grießbreis, in dessen mit dem Löffel gegrabener Mulde Butter schmilzt, oder ein von der Mutter in einem Zug vor der Brust vom ganzen Laib geschnittenes Brot mit Himbeermarmelade zu verschlingen . . .

der Skikurs auf der buckligen, von knochenbrecherischen Fallen – heimtückisch im Tiefschnee versteckten Holzzäunen – durchzogenen Wiese hinter dem Weyerschloss, mit einem Schlepplift sogar, an dessen einzigem, überbreitem Holzbügel man dicht aneinandergedrängt zu sechst oder acht kreischend mit immer länger werdenden Armen hängt . . .

die Stunden der Gesänge des Familienchors und vielstimmigen Hausmusiken an den bereits dunklen Spätnachmittagen der Sonntage im Advent, Annäherung an einen Kerze für Kerze näher rückenden Höhepunkt des Jahres, das Weihnachtsfest, an dessen folgendem, frühem Morgen – lange bevor die Eltern aufstehen – das in konzentrierter Ruhe zelebrierte Spielen mit den neuen Geschenken im nach Christbaum und Kerzenwachs duftenden Wohnzimmer vollkommenes Glück bedeutet . . .

derhalb verwilderte Schillerpark, zeitweise bewohnt von hochinteressanten, offiziell zwielichtigen Gestalten, vor denen wir gewarnt waren und die auf den rot gestrichenen Parkbänken um die rund gemauerte Sandkiste, die früher einmal ein Brunnen gewesen sein mag, rauchend und mit langen Haaren bewundernswert lässig „herumlungern“ . . .

die am Weg zum Park im halb verfallenen Nebengebäude hausende, in Lumpen und Flicken gekleidete Alte, das verrunzelte Gesicht vom letzten verbliebenen Zahn beherrscht, die uns ein Lied mit obszönem Text vorkrächzt, begleitet von einem grotesken Tänzchen im Kreis um ihren Gehstock . . .

diewunderbar endlosen Sommerferien in der kleinen Hütte am Furtnerteich, wohin eine ebenso endlos scheinende Fahrt im hellblauen VW-Käfer – dicht besetzt mit zwei Erwachsenen und vier Kindern, das Gepäck auf den „Dachgarten“ geschnallt – unter permanenter Übelkeit über eine gleichermaßen kurven- wie verkehrsreiche Strecke und den endlich erreichten Perchauer und Neumarkter Sattel führt, zu Wochen in nahezu grenzenloser Freiheit und üppiger, ungezähmter Natur, mit allabendlichen Gesängen am Feuer, Petroleumlampen und Kerzen als alleinigen Lichtquellen in von Geistern, Räubern und Märchenfiguren bevölkerten, von Mondlicht, Sternschnuppen und Glühwürmchen durchfunkelten, von Käuzchenrufen, bellenden Böcken und den regelmäßig vorbeidonnernden Güterzügen der Südbahn beschallten Nächten, mit selbstvergessenen Spielen, Wettkämpfen und Mutproben viel zu schnell vergehender Tage, von welchen die spätsommerliche Rückreise nach Judenburg einem Trauerzug gleichkommt, zurück vom liebevoll „Furti“ genannten Teich in das Haus an der Ederbastei mit seinen für „Stadthäuser“ üblichen, gemauerten und weiß gekalkten, nun wieder vom Licht elektrischer Glühbirnen gleißenden Wänden, deren Anblick die ans dunkle, warme Holz der Hütte im Kerzenlicht und satte Grün der Bäume und Wiesen gewöhnte Netzhaut Jahr für Jahr grell schockiert, um die fahle Schwermut am Vorabend des neuen Schuljahres noch weiter zu steigern . . .

die Volksschullehrerin im Dirndlkleid mit dem aufgesteckten Haarkranz in Form eines Frühstückstriezels, deren Stimmungsschwankungen im Abstand weniger Sekunden vom Streicheln eines Bubennackens zur handfesten „Watschen“ führen können, was einmal sogar mit der blutenden Schläfe eines am Waschbecken neben der Tafel aufgeschlagenen Mitschülers endet, um wie alle anderen Erziehungsmaßnahmen solcher Art nicht nur ungesühnt zu bleiben, sondern eher noch zur allgemeinen Meinung aufzustacheln, er, der bedauernswerte Klassenkamerad, werde diese Bestrafung „schon verdient haben“, werde „schon wissen, wofür er sie erhalten“ habe . . .

dasbeliebte Austeilen – welcher Bub ist heute dran? – und kollektive Einnehmen der täglichen Fluortablette gegen Karies zu Beginn der ersten Schulstunde, übertroffen nur vom Schulkakao im braunen Glasfläschchen mit Aludeckel, durch den mit dem Zeigefinger wuchtig ein Loch zu stoßen ist, um die ganze große Pause hindurch herrlich süß gezuckerten Kakao zu nuckeln . . .

dergefürchtete Unterricht bei „Tante Traude“ in der vom Geruch der geölten Holzböden beherrschten, winters mit Ölöfen überheizten Musikschule, vor deren schwerem Eingangstor ein mächtiger und oftmals als regionale Besonderheit gepriesener Ginkgobaum wurzelt (jene strenge „Tante Traude“, in deren Unterrichtszimmer meine ebenfalls Klavier spielende Schwester und ich ein selbst gemaltes Plakat mit dem Befehlswort „DENKEN!“ über dem Klavier aufhängen müssen, wird Jahre später umgehend meine Mutter anrufen, um ihr empört davon zu berichten, dass sie mich soeben auf dem Waldweg nahe der Ruine Liechtenstein beim ersten schüchternen Händchenhalten mit der Tochter des Bürgermeisters einer Nachbargemeinde überrascht hat) . . .

die Folterknechte im Arztkittel, die im Judenburger Krankenhaus meinen bei einem Turnunfall in der „Friesenhalle“ kompliziert und mehrfach gebrochenen Arm zweimal ohne jegliche Betäubung einrichten und mir bei einem weiteren, diesmal geplanten Spitalsaufenthalt mit einer äthergetränkten Maske den Atem und schließlich die Besinnung nehmen, um meine Mandeln herauszuschneiden, als Trost allerdings gefolgt von einer äußerst privilegierten Woche täglichen Schleckens und Schlürfens eines Ein-Schilling-Eislutschers mit Himbeer- oder Zitronengeschmack, rosa oder weiß, zur Kühlung der Wunde . . .

daseigenartig anmutende Fahnenzeremoniell im eisigen Morgengrauen mit Sprüchen von Kameradschaft bis in den Tod und ewiger Treue, jeweils beschlossen mit einem chorisch gerufenen „Gut Heil!“ während eines Skilagers des Österreichischen Turnerbundes in St. Wolfgang am Zirbitzkogel . . .

der unangenehme Kitzel einer über den Nacken vibrierend immer höher und höher kriechenden Haarschneidemaschine des Friseurs Mursteiner am Hauptplatz, während man die Mutter „ein bisschen kürzer könnten sie schon noch sein“ sagen hört und in grausamer Vorahnung das einige Minuten später angesichts des an den Hinterkopf gehaltenen Handspiegels bestätigte Ergebnis eines längst aus der Mode gekommenen Kurzhaarschnitts kennt, den man in den folgenden Tagen nur durch Aufbringung aller innerer Stärke vor den bereits mit „Beatlesfrisuren“ geschmückten Schulfreunden tragen und ertragen kann . . .

derbeneidete Karli, mein bester Volksschulfreund und Sohn eines schräg gegenüber der Schule produzierenden Getränkeherstellers, wo es die bei uns verpönten „Kracherln“ in Hülle und Fülle gibt, wo Maschinen in endlosen Reihen kreiselnd tanzende Flaschen wie von Zauberhand waschen, befüllen, zukorken und etikettieren, wo der Plattenspieler Singles von „Dr. Hook“ und den „Les Humphries Singers“ – Ma ma ma, Ma ma ma ma Loo! – abspielen darf und wo die Haarlänge kein Thema ist . . .

der hölzerne, über ein Treppchen zu besteigende Wunderkasten im Schuhgeschäft, durch dessen Okular erst die Verkäuferin, dann die Mutter blickt, um anhand des leuchtenden Röntgenbildes den Abstand der Zehen zur Schuhspitze zu überprüfen und sicherzugehen, dass der teure Schuh – in diesem Fall kein vom älteren Bruder geerbtes Paar, sondern ein ganz neues für mich – auch nach den nächsten Wachstumsschüben noch passen wird . . .

das kleine Geschäft gegenüber der Volksschule mit seinen verbotenen Substanzen in Form von essbaren Gummischlangen, klebrigen Gelee-Dragees, Pez- Zuckerln zum Befüllen der als Cowboy, Indianer oder Mickey Mouse gestalteten Bonbonspender, buntverzierten, mit Brausepulver gefüllten Papierbriefchen, deren Inhalt im Speichelsee der hohlen Hand orange oder rosa und leise zischend blubbert, Bazooka-Kaugummis mit Minicomics zum Sammeln und Fizzers, von welchen man um den einen Schilling elterlicher Belohnung für einen „römischen Einser“ gleich mehrere Röllchen erstehen kann, obwohl einem zuvor eingebläut worden ist, das gute Geld ins tönerne, von einer Salzburger Tante für jedes Kind getöpferte Sparschwein zu werfen und eben nicht mit obendrein ungesunden Süßigkeiten zu „vertrantscheln“ . . .

die Vorfreude auf den Mittwoch, an dessen Nachmittag wir allwöchentlich als fernsehgerätelos aufwachsende Kinder bei Frau Wilding Kasperl in Schwarz-Weiß schauen dürfen, sowie die Scham, ein weiteres Mal, wie schon all die Wochen zuvor, mit gesenktem Kopf und heißen Ohren der Nachbarin Wohnzimmer fluchtartig verlassen zu müssen, da der wieder und wieder unternommene Versuch, die unmittelbar nach dem lieben Kasperl ausgestrahlte Folge mit dem heldenhaften Collie „Lassie“ durchzustehen, erneut an meinen schlechten Nerven scheitert, was wiederum Woche für Woche den etwas höhnischen Bericht meiner Geschwister nach sich zieht, wie harmlos die Rettungsaktion am hochwasserführenden Fluss, die Gefangennahme der Viehdiebe oder die Bergung eines verunfallten Kalbes doch gewesen sei – und dass selbst mein kleiner Bruder die Nerven behalten habe . . .

das abends in regelmäßigen Abständen grollende Kinderzimmer, vor dessen klirrend zitterndem Fenster die stöhnend bergwärts kriechenden Lastwagen steigungsbedingt einen Gang unter aufheulendem Zwischengas zurückschalten, im Stockbett mein jüngerer Bruder unter mir, mit dem die geheim geflüsterte und Bettenetagen überbrückende Unterhaltung durch den Spalt an der Wand nach dem offiziellen Lichtausschalten mit dem Bemühen, nicht laut zu lachen, um als bereits Schlafende zu gelten, allabendlich bis zum wirklichen Einschlafen im Schutz des Verkehrslärms geführt wird und den Tag beschließt . . .

die unzähligen Eindrücke, Bilder, Gerüche, Klänge und Begegnungen mehr, erlebt und erfahren in der Geborgenheit einer sechsköpfigen Familie, die von 1959 bis 1976 Teil des Getriebes und der Gesellschaft einer steirischen Kleinstadt im oberen Murtal war. ■

Geboren 1962 in Judenburg. Posaunist, Pianist, Komponist und Dirigent. Hans-Koller-Jazzpreis 2007 als „Musician of the Year“. Sein Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Beitrags, den er für die Ausstellung „Kinder der Stadt – die Jugend von Judenburg 1945–1980“ verfasst hat. Zu sehen im Judenburger Stadtmuseum (Kaserngasse 27) Mo 9 bis 14 Uhr, Di bis Sa 9 bis 17 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)

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