Und wir schauen zu

Die heutigen Jihadis melden sich nicht nur aus dem entlegenen Mali oder aus dem Jemen, sie leben mitten unter uns. Ihre Spur führt nach Syrien und zurück quer durch Europa. Wie junge Menschen ins Minenfeld des Terrorismus geraten.

Ein neues Akronym ist Teil unserer täglichen Nachrichten: IS (Islamischer Staat), früher Isis (Islamischer Staat im Irak und der Levante). Diese Marke steht für Islamisten, denen es gelungen ist, selbst al-Qaida zu schockieren und die Weltöffentlichkeit zu paralysieren, gleichzeitig aber Kämpfer aus aller Herren Länder anzuziehen. Verglichen mit den geschliffenen Medienauftritten der Isis, die bestimmt nicht in entlegenen Höhlen in Waziristan inszeniert werden, wirken medial ad hoc formulierte Sicherheitsstrategien blass. Wie kann es überhaupt passieren, dass westliche Medien mit den radikalsten Jihadisten „kooperieren“, indem sie ihren verblendeten Aktionen großflächig Platz einräumen? Als PR-Erfüllungsgehilfen lassen sie Kalifatsandrohungen über die globalen Nachrichtenticker laufen. Und so scheint das derart Wahnsinnige, das bei vielen Jungen als attraktive Alternative zum Paradies gut ankommt, auch noch ein gewisses Realitätsmomentum zu gewinnen. Wie kommen wir da heraus?

In den vergangenen Jahren haben wir begonnen, die Sorgen von Müttern zu erforschen, deren Söhne von Radikalisierung bedroht sind. In Konfliktzonen in Pakistan, Israel, Palästina, Nigeria und Nordirland haben wir die Studie „Mothers for Change!“ durchgeführt, eine Befragung von mehr als 1000 Müttern, deren Kinder bereits rekrutiert wurden oder gefährdet sind, in die Fänge von radikalen Gruppen zu geraten. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Mütter ein geringes Vertrauen in lokale Autoritäten haben, wenn es darum geht, ihre Kinder vor Radikalisierung zu schützen: Von Moscheen bis zur Polizei und lokalen Vertretungen zeichnet sich ein alarmierender Vertrauensverlust ab. Nur 29 Prozent der befragten Mütter trauen ihren politischen Vertretern zu, ihre heranwachsenden Kinder effektiv vor Radikalisierung schützen zu können.

Dieses fehlende Vertrauen beschränkt sich vermutlich nicht nur auf oben genannte Länder. Auch in der westlichen Welt gibt es diese Vertrauenskluft zwischen Bevölkerung und Regierungen. Hunderttausende sind in Europa auf die Straße gegangen, um gegen den Krieg im Irak zu protestieren, aber niemand hat auf sie gehört. Wie können wir heute darauf vertrauen, dass unsere Regierenden nun die richtige Entscheidung treffen? Isis rekrutiert täglich weitere junge Kämpfer, manchmal sind sogar Frauen darunter, und wir schauen zu.

Was für eine Ironie, wenn Jugendliche so fasziniert sind und bereitwillig ihre Cyberkriegsspiele im Wohnzimmer hinter sich lassen, um schnurstracks nach Syrien aufzubrechen – und in Echtzeit am Kriegsgeschehen mitzumachen. Und niemand hat etwas geahnt? Zumindest hat es diesen Anschein, wenn wir den Aussagen der Familienmitglieder und dem unmittelbaren Umfeld von Moschee bis Schule glauben dürfen. Genau das bezweifeln wir. Sicher hat sich in den Familien im Vorfeld bereits ein gewisses Unbehagen hinsichtlich bestimmter Verhaltensweisen ihrer Kinder eingestellt, erste Frühwarnsignale, die aber nicht adäquat interpretiert wurden. Und vielleicht war die Umgebung selbst ambivalent und gespalten in ihren eigenen Loyalitäten.

In Gesprächen mit betroffenen Müttern zeigt sich ein typisches Reaktionsmuster: In der ersten Beunruhigungsphase entschließen sie sich zu Konfrontation, treffen aber meist nicht den richtigen Ton. Ein Mix aus Vorwürfen und Aggression führt dazu, dass sich die Jugendlichen verschließen und die Eltern sich zurückziehen. Der nächste Schritt ist meist Verleugnung: Das auffällige Verhalten sei Teil der pubertären Protestphase. Und wenn die Zeichen unübersehbar sind, wird innerhalb der Familie die Defensivstrategie gewählt: In unbewusster Kollaboration werden die Alarmsignale verheimlicht oder sogar beschönigt. Es mangelt nicht an aufschlussreichen historischen Beispielen und aktuellen Erfahrungen, die uns die Analyse erleichtern, wie junge Menschen ins Minenfeld des Terrorismus geraten. In einem Gespräch mit dem Cambridge-Historiker Christopher Clark haben wir über die Parallelen zwischen den Terroristen von 9/11 und Gavrilo Princip diskutiert. Ein Thema betraf die noch immer offene Frage nach dem Profil des typischen Terroristen und den Beweggründen jenseits von Religion, die aktuell junge Männer in diese Netzwerke ziehen. Männer, die nur auf den ersten Blick ernsthaft und angepasst scheinen. Christopher Clark beschreibt sie als „fokussiert, mit einem Überschuss an Idealen, aber einem Mangel an Erfahrung“: „Das ist so ziemlich der typische Mix von jungen Männern, die von Terroristen rekrutiert werden.“ Er führt noch einen weiteren interessanten Punkt an: „All diese Burschen hatten Schwierigkeiten mit männlichen Autoritätsfiguren. In diesen Netzwerken fanden sie ältere Männer, die sie respektierten und ihnen etwas gaben, was gewissermaßen einem Gefühl der Liebe nahekam und ihnen Ehre und Wertschätzung vermittelte. Das war für diese jungen Männer eine wunderbare Erfahrung, etwas, was sie ernst nahmen, denn plötzlich hatte ihr Leben Gewicht und Bedeutung.“

In Gesprächen mit Betroffenen der Anschläge im November 2008 auf Mumbai konnten wir uns ein gutes Bild machen von der Gruppe, die Teile der Stadt tagelang in ihre Gewalt gebracht hatte. Wiederum waren es wenige jungen Männer, die zwei Länder an den Rand des Krieges brachten. Ajmal Kasab, der einzige überlebende Terrorist, gab später zu Protokoll, wie die pakistanischen Rekrutierer gezielt mit jedem Einzelnen von ihnen eine Bindung aufbauten und eine Haltung kindlichen Gehorsams erzeugten. Aber immerhin ist aus der ursprünglichen Gruppe von 32 Kandidaten, die an der verhängnisvollen Mission teilnehmen wollten, nur die Hälfte übrig geblieben. Das „Angebot“, sich als Märtyrer zu profilieren, zog nicht. Als Kasab zur Verabschiedung von seiner Familie in sein Heimatdorf zurückkehrte, packte ihn laut Protokoll die Verzweiflung und der Wunsch, einfach zu Hause zu bleiben.

Die heutigen Jihadis melden sich nicht nur aus dem entlegenen Mali oder aus dem Jemen, sie leben mitten unter uns. Ihre Spur führt – meist über die Türkei – nach Syrien und zurück quer durch Europa. Wir haben es mit einem neuen und unerwarteten Phänomen zu tun, und neu ist auch, dass diese selbsternannten syrischen Kämpfer von ihren Eltern manchmal sogar aktiv aufgespürt werden; um ihre verirrten und verwirrten Kinder zurückzubringen, riskieren sie dabei einiges, abgesehen von ihrem Mut, damit in die Öffentlichkeit zu treten – Imame und Polizei um Hilfe zu bitten. Pero, ein junger Deutscher im syrischen Jihad, war nach einigen Telefonaten bereit, sich mit seiner Mutter an der türkisch-syrischen Grenze zu treffen, um sich von ihr zu verabschieden und mit ihrem Segen in den Kampf zu ziehen. Die Begegnung war ein Erfolg, er musste gar nicht erst überredet werden, zu seiner Familie heimzukehren. Solche Beispiele lassen die intakten Persönlichkeitsanteile erahnen, die selbst bei „Terroristen“ vorhanden sind. In ihrer Suche nach Identität und Bedeutung von Ideologen in die Irre geführt und missbraucht, bewahren sich viele immer noch Werte, die sie vom gewalttätigen Extremismus abhalten. Louise Richardson, Terrorexpertin an der schottischen Universität St. Andrews, unterstreicht, dass „Terroristen Menschen sind wie du und ich und wir versuchen müssten, sie zu verstehen“. Das klingt vielleicht gewagt, aber tatsächlich ist eine effektive Krisendiplomatie immer darum bemüht, die andere Seite zu verstehen, um eine Brücke für Verhandlungen herzustellen. Ein schwieriges Unterfangen in einem kulturellen Klima, das immer noch militärische Strategien favorisiert und erst dann, wenn die Schlacht so nicht gewonnen werden konnte, auf „soft power“ baut – oft zu spät.

Wie in einem Spiegelbild kommen diese militärischen Zugänge, befördert durch falsch verstandene religiöse Botschaften, Jugendlichen Möchtegern-Jihadisten entgegen. Der Kampf gibt ihnen Identität und Zugehörigkeit. Eine französische Mutter, die tragischerweise zwei ihrer Söhne in Syrien verloren hat, spricht von einem Magnetismus, dem ihre beiden Buben erlegen sind. Sie sind zum Islam konvertiert und trafen um ihre Moschee herum radikale Rekrutierer. Leider wurden ihr die Verhaltensänderungen im Prozess der Radikalisierung erst im Rückblick klar. Nun versucht sie, ein Netzwerk zu etablieren, das Eltern, die durch dieselben Abgründe gehen, zusammenbringt und Druck auf die staatlichen Autoritäten ausübt, endlich gezielte Antiradikalisierungs-Programme auszuarbeiten. Diese Mutter ist repräsentativ für die 1000 Stimmen, die wir in unserer „Mothers for Change!“-Studie dokumentiert haben. Wir begegnen ihnen heute überall, auf der Opfer- und auf der Täterseite.

Nach dem verhängnisvollen Kidnapping der drei israelischen Schüler sind ihre Mütter nach New York gereist, um vor der UNO an die Weltöffentlichkeit zu appellieren, die Mütter der entführten nigerianischen Mädchen haben eine Kampagne gestartet. Aber auch die Mütter von Terroristen geben selbst dann nicht auf, wenn ihre Söhne bereits in Gefängnissen sitzen. Vicky Ibrahim ist die Mutter des sogenannten Shopping-Center-Bombers aus Bristol. Ihr Sohn Andy, der konvertierte Isah, hat anders als sein Bruder, der Rechtsanwalt wurde, einen verhängnisvollen Weg eingeschlagen, der vorläufig in einem Hochsicherheitstrakt endete. Vicky Ibrahim hat ihren verlorenen Sohn aber nicht aufgegeben und bei ihren Gefängnisbesuchen, ganz auf sich gestellt, ein beispielloses Rehabilitationsprogramm durchgezogen. Isah, mittlerweile wieder Andy, wird demnächst nicht zuletzt aufgrund ihrer ermutigenden Begleitung sein Fernstudium abschließen und nach seiner Entlassung den Weg zurück in die Gesellschaft finden. Ihr Beispiel ist umso bemerkenswerter, da internationale Sicherheitsexperten davon ausgehen, dass die syrischen Heimkehrer ein explosives Gefahrenmoment für ihre europäischen Herkunftsländer darstellen werden. Rehabilitation durch die Familie als Teil einer neuen Sicherheitsstrategie sollte daher das Gebot der Stunde sein.

Die Ergebnisse der „Mothers for Change!“-Studie deuten genau in diese Richtung. Mütter wollen und können sich den Gefahren der Radikalisierung, mit denen ihre jungen Söhne konfrontiert sind, durchaus stellen. Das ist eine bislang unerforschte und nicht erkannte Quelle möglicher Antiterrorinterventionen. Mütter müssen als sichtbare Gruppe von Akteurinnen und Verbündeten im Bereich der Sicherheit erkannt werden, damit sie ihre Familien schützen und den Zusammenhalt der Gemeinschaften gewährleisten können. Noch wird vielen Müttern das Potenzial dazu nicht zuerkannt, manche erkennen es auch selbst nicht. Mit entsprechendem Training und gezielter Unterstützung durch lokale Organisationen können sie in kompetenter Weise auf ihre Kinder eingehen, ihnen zuhören und ihnen Alternativen anbieten, um gewalttätigem Extremismus aktiv entgegentreten zu können. ■


Edit Schlaffer ist Sozialwissenschaftlerin und Gründerin von „Frauen ohne Grenzen“, einer Organisation für alternative weibliche Diplomatie (www.frauen-ohne-grenzen.org). Ulrich Kropiunigg lehrt Psychologie an der Medizinischen Universität Wien. Research Director von „Frauen ohne Grenzen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)

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