Gruß aus Sarajevo

Meine Großmutter Xenia wuchs als Tochter des k. u. k. Regierungskommissärs in Sarajevo auf. In ihren Fotoalben aus der Jahrhundertwende wird ein idyllisches Leben in der bosnischen Hauptstadt dokumentiert.

Ausflüge in den neu errichteten Kurort Bad Ilidze, gemischte Tennisdoppel, die zwei bosnischen Ballbuben tragen den traditionellen Fes auf dem Kopf. Familienfeste, Landpartien auf den Trebevic-Berg, eine weibliche Deutschmeister-Abordnung mit schmucken Uniform-Kleidern. Die vergilbten Fotos und Postkarten aus den Alben meiner Großmutter Xenia zeigen ein idyllisches Sarajevo um die Jahrhundertwende, nur wenige Jahre vor den tödlichen Schüssen auf den Thronfolger. „Dieser Tage wurde in Sarajevo das neue Theatergebäude eröffnet“, heißt es 1899 auf einer Ansichtskarte, die ein stolzer Vater an seine ältere Tochter Zora ins Internat St. Zeno nach Bayern schickte. „Türkin am Brunnen“ steht auf der Karte auch noch zu lesen.

Myron von Zarzycki-Nowina, der Vater meiner Großmutter, war Regierungskommissär in der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina. Er war somit der ranghöchste zivile Beamte in Sarajevo. Zarzycki-Nowina, 1854 in Galizien geborener Sohn eines griechisch-katholischen Geistlichen, trat nach dem Jus-Studium in Wien in den k. u. k. Staatsdienst ein und wurde nach der Okkupation Bosniens 1878 wie viele Landsleute wegen seiner Kenntnisse mehrerer slawischer Sprachen in den neuen Teil der Donaumonarchie versetzt.

Der junge Richter war zunächst als Gerichtsadjunkt in Banja Luka tätig, bald danach wurde er zum Bezirkshauptmann von Stolac und Foca ernannt. Dort kamen seine Kinder Myron, Zora und 1888 auch meine Großmutter Xenia zur Welt. Der junge Beamte musste zunächst gegen das Misstrauen der muslimischen Bevölkerung kämpfen, die die Österreicher anfangs als Besatzer ablehnten. Doch er sollte das Vertrauen der Leute durch Volksnähe und einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit gewinnen.

Besonders stolz war er auf die zivilen Leistungen der k. u. k. Verwaltung in Bosnien. Neue Eisenbahnlinien und Straßen, aber auch Spitäler und Schulen wurden gebaut. Die erste elektrische Straßenbahnlinie hatte 1895 in Sarajevo Premiere, gleichsam als Test zwei Jahre vor der Elektrifizierung der Tram in Wien. Zur Förderung des lokalen Handwerks wurden neue Lehrwerkstätten eingerichtet, die erstmals auch Frauen offenstanden. Sogar eine eigene „Richter-Scheriats-Schule“ entstand in Sarajevo, also eine Ausbildungsstätte für die von den „Besatzern“ anerkannte islamische Gerichtsbarkeit, vor allem im Familienrecht. 1908 wurde in der Donaumonarchie der Islam als gleichberechtigte Religion anerkannt.

Meine Großmutter erzählte mir zahlreiche Anekdoten vom Leben in der multikulturellen Stadt. Schon bei ihrer Geburt kamen mehrere islamische Würdenträger, um dem Herrn Bezirkshauptmann zur Geburt eines Sohnes zu gratulieren. Als sie hörten, dass es eine Tochter war, packten sie die Geschenkkörbe mit lokalen Delikatessen wieder ein und wünschten, Allah möge ihm bald einen Sohn schenken.

In der bosnischen Hauptstadt wurde auf multikulturelles Leben Wert gelegt. Diverse Theatertruppen der Monarchie gastierten hier auf Tournee. Es gab Sinfonieorchester und Opernproduktionen. Den „Sarajevoer Nachrichten“ war 1903 ein Fest des „Sarajevoer Frauenvereins“ einen längeren Bericht wert. Vor allem die Konstruktion einer Windmühle, für die der Verlobte der älteren Schwester meiner Großmutter verantwortlich zeichnete, beeindruckte den Chronisten: „Das Innere der Mühle glich einer Alchimistenstube. Die Damen in der hübschen Tracht der Holländerin servierten frische Krapfen, Eis und sonstige Süßigkeiten.“ Die Schwestern Zora und Xenia waren zwei der „Holländerinnen“ in der improvisierten Windmühle.

Ihr Vater Myron sammelte zahlreiche „Qualificitations-Vormerke“, die mein Cousin Harald Lacom, dessen Großmutter Zora war, vor einigen Jahren im Landesarchiv in Sarajevo fand: Belobigungen für Leistungen in der Verwaltung, für Streitschlichtungen, eine Auszeichnung für die Förderung des lokalen Tabakanbaus bis zur Aufklärung eines Raubmordes, dazu die Verleihungsurkunde für den Franz-Josefs-Orden. Die Akten des Regierungskommissariats füllten ein ganzes Zimmer. Erst im vergangenen Februar, als ein wegen der Untätigkeit der bosnischen Passbehörden wütender Mob Feuer legte, verbrannten auch die Zeitdokumente, die zwei Weltkriege und die Beschießung im Jugoslawienkrieg überstanden hatten.

Nach seiner Berufung zum Regierungskommissär in Sarajevo, mit dem auch das Amt des Polizeichefs verbunden war, musste er von 1896 bs 1908 neuerlich sein Fingerspitzengefühl im Umgang mit den verschiedenen Ethnien unter Beweis stellen. Laut Unterlagen im Stadtarchiv kam er mit der moslemischen Bevölkerung ebenso gut aus wie mit Kroaten und Serben. In seinem Wohnhaus in Sarajevo füllte seine Sammlung altbosnischer Waffen osmanischer Herkunft ein Zimmer. Zu jedem Stück zeichnete er die Herkunftsgeschichte auf. Ein Glanzstück war ein silberner Säbel, der dem bosnischen Nationalhelden „Zmaj od Bosne“ („Drache von Bosnien“), Hussein Beg Gradascevic, gehörte. Der Feudalherr hatte als Anführer unzufriedener Clanführer Bosniens 1831 gegen die osmanischen Herrscher mehrere Schlachten gewonnen und musste später nach Wien flüchten. Metternich handelte mit der Hohen Pforte seine Rückkehr aus, doch 1834 verstarb der Bosnier in Istanbul, vermutlich an einer Vergiftung.

Die Familienidylle in Sarajevo währte bis ins Jahr 1910, als Myron von Zarzycki-Nowina, vom Kaiser in den Ritterstand erhoben, als Regierungsrat der 1908 eingerichteten bosnischen Landesregierung in den verdienten Ruhestand trat. Er kehrte nach Wien zurück, verbrachte aber viele Sommer bei seiner Tochter Xenia in Lemberg und den Waldkarpaten, ehe er 1934 in Lemberg starb.

Die Ereignisse von 1914 hat nach Familienüberlieferung der stets korrekt gekleidete alte Herr mit Zwirbelbart sehr kritisch kommentiert. Er wertete die Tatsache, dass für den Besuch des Thronfolgers Franz Ferdinand der Veitstag gewählt wurde, an dem die Serben der Schlacht auf dem Amselfeld gedachten, als überflüssige Provokation der serbischen Bevölkerung. Die ganze Serie an Fehlentscheidungen fand er unverzeihlich und „stümperhaft“. Doch dass er den Ersten Weltkrieg noch hätte aufhalten können, daran wollte auch der Regierungskommissär im Ruhestand nicht wirklich glauben. ■


Otmar Lahodynsky, Jahrgang 1954, war von 1988 bis 1995 Korrespondent der „Presse“ in Brüssel, dann bis 1996 stellvertretender Chefredakteur. Seither EU- und Innenpolitik-Redakteur beim Magazin „profil“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.07.2014)

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