Die Farben der Wahrheit

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Wie viel Bearbeitung, Anverwandlung, Aneignung benötigt das, was Geschichte heißt, um zu unserer eigenen Geschichte zu werden? Über Wirklichkeit, unseren Möglichkeitssinn und die Wahrheit der Reportage.

Vor bald zwei Jahren war ich im Ausland unterwegs und geriet im Hotelzimmer abends in einen merkwürdigen Film. Es handelte sich um die zweite von acht Folgen einer Serie der BBC, die den Titel trug: „The World War II In HD Colour“. Das aus vielen Ländern und zahllosen Archiven akribisch zusammengetragene Filmmaterial war im Westwing Studio unter Leitung von Matthew Barrett auf sensationelle Weise koloriert worden. Dank eines neuen Färbeverfahrens sind die einst in Schwarz-Weiß gedrehten Szenen auf dem Niveau heute produzierter Farbfilme zu sehen, und die Kritiker loben, wie natürlich die dem vorhandenen Objekt applizierten Farben wirken.

Der Zweite Weltkrieg bietet in seinen studionatürlichen Farben tatsächlich ein ganz anderes Seherlebnis, als man es bisher gewohnt war, und in ein paar Jahren wird man es vielleicht kaum mehr glauben mögen, dass sich die Leute so lange mit unkolorierten Schlachtenbildern zufriedengegeben haben.

Die Serie, aufwändig gestaltet wie keine zuvor, wurde von zahllosen Stationen in aller Welt übernommen, denn offenbar hatte in der unüberschaubaren Fülle an Dokumentationen dem Laien wie dem Fachmann gerade dies gefehlt: das große Völkerschlachten und Menschenschinden in Farbe.

Ich wurde an diesem Abend trotzdem den Verdacht nicht los, dass es sich bei dem, was ich sah, um eine Fälschung handelte, und war mir zugleich sicher, auf meine Einwände von berufener Seite die Antwort zu erhalten: Ganz im Gegenteil, Schwarz-Weiß ist bloß das Filmmaterial jener Jahre gewesen, die Realität hingegen war immer schon färbig, und jetzt erst kann sie uns unverfälscht über den Bildschirm ins Haus geliefert werden – rot das Blut, gelborange der Feuersturm, braun der Schlamm, bleich die ausgehungerten Menschen. Bis heute bin ich nicht einig mit mir geworden, was ich von dieser Behandlung halten soll und ob wir durch sie in eine Art von Kino der Wirklichkeit versetzt werden.

Kommt hinzu, dass Dokumentationen im Fernsehen heute gerne szenisch aufbereitet, in das dokumentarische Material also von Schauspielern dargebotene Szenen montiert werden, wobei die Sache oft völlig korrekt recherchiert ist, sodass selbst die Farbe der Knöpfe auf den Uniformen der Soldaten die richtige sein wird. Aber, frage ich mich, lügen diese Dokumentationen, für die auch im Deutschen die Genrebezeichnung „History“ gebräuchlich wurde, nicht gerade, indem sie mit einem enormen Aufwand an richtigen Details vortäuschen, die Wirklichkeit selbst abzubilden? Lügen sie, weil sie auf das Erleben, das Nacherleben setzen und so die Geschichte auf das Maß zurechtschneiden, das dem Erlebnishunger und der Nacherlebensfähigkeit heutiger Zuseher entspricht?

Andrerseits tun wir das doch mit allem, was aus der Vergangenheit auf uns überkommen ist: dass wir es zu uns, unseren Erfahrungen, unserem Wissen und unseren Werten in Beziehung setzen. Könnten wir das nicht, würde alles, was uns historisch überliefert wurde, totes Bildungsgut bleiben, niemals als verstehbare und nachvollziehbare Vorgeschichte zu einem Teil von uns selbst werden können. Wie viel Bearbeitung, Anverwandlung, Aneignung benötigt das, was Geschichte heißt, um zu unserer eigenen Geschichte zu werden? Ist es nicht nur legitim, sondern sogar notwendig, die Vergangenheit immer neu zu erfinden, damit ihre Zeugnisse, Quellen, Dokumente, Artefakte zu uns sprechen können?


Zwischen 2001 und 2009 habe ich eine Serie von vier Büchern mit literarischen Reportagen veröffentlicht, in denen ich von meinen Reisen zu den kleinen und kleinsten europäischen Nationalitäten und Sprachgruppen erzählte. Von zweierlei habe ich in ihnen berichtet: erstens von diesen Nationalitäten und den oft drangsalierten, manchmal belächelten, selten gewürdigten Menschen, die sich ihnen heute noch zurechnen; und zweitens von mir, der ich mich auf den Weg machte, sie zu besuchen, von den Schwierigkeiten, auf die ich dabei oft unerwartet stieß, von den Glücksmomenten, die ich zuverlässig erlebte.

Die literarische Reportage hat gerade in der österreichischen Literatur eine interessante Tradition, man denke nur an Joseph Roth; und sie spielt auch im Werk einiger der wichtigsten Autoren von heute eine große Rolle, etwa bei Erich Hackl, Martin Pollack, Christoph Ransmayr, die alle drei in ihren Büchern Elemente der Reportage aufnehmen, sich ihrer freilich mit verschiedenen Methoden bedienen und auch unterschiedliche Ziele damit verbinden.

Wiewohl in Österreich stets exzellente Reportagen geschrieben wurden, genießt das Genre bei uns doch ungleich weniger Renommee als etwa in Polen, wo Ryszard Kapuściński selbstverständlich als einer der größten Autoren des 20. Jahrhunderts gilt; etliche polnische Zeitungen leisten sich heute noch Beilagen, in denen geduldig recherchierende und ausgefuchst komponierende Autoren ihre Reportagen über die nahe und ferne Fremde veröffentlichen. Dass ihnen die finanziellen Mittel bereitgestellt werden, um monatelang unterwegs zu sein, und sie das Ergebnis in umfangreichen, über Wochen hin abgedruckten Folgen veröffentlichen können, ließe die vereinigten Feuilletonchefs des deutschen Sprachraums, die auf immer kürzere Texte setzen, weil ihr Budget immer kleiner wird und die Lektürefähigkeit ihrer Leser angeblich nur für immer kürzer werdende Strecken ausreicht, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.

In der lateinamerikanischen Literatur wiederum, gemeinhin für ihren „magischen Realismus“ gerühmt, sind die Genres der „crónica“ oder des „testimonio“ hoch angesehen, und einer der bedeutendsten Erzähler war auch einer der größten Reporter unserer Tage, Gabriel García Márquez, der einmal gesagt hat: „Reportage und Roman sind Kinder ein und derselben Mutter.“

Kinder derselben Mutter ähneln einander oft, aber natürlich sind sie verschiedene Lebewesen. Was Roman und Reportage unterscheidet, ist nicht die Sprache, gibt es doch lapidar erzählte Romane und Reportagen, die auch mit ihrer impressionistisch ziselierten oder expressiv wuchtigen Formulierungskunst erfreuen; es ist auch nicht der Stilwille der Verfasser, nicht die Strenge oder Freiheit der Komposition, nicht einmal, ob die Texte ausschließlich aus Fakten oder auch aus Fiktionen gebaut werden, ist das Entscheidende. Was Roman und Reportage unterscheidet, ist vielmehr, wie sich in ihnen Wahrheit konstituiert, wie sie also das, was man historische Wirklichkeit nennen kann, literarisch herstellen.

„Herstellen“ klingt ungebührlich technisch und verkürzt die Sache damit, aber trifft dennoch zu, denn ob Romancier oder Reporter, beide haben nicht unmittelbar Zugriff auf das, was die Wirklichkeit ist, müssen sie vielmehr schreibend erst entdecken und schreibend im Medium der Literatur neu erschaffen.

Ich unterscheide hier zwischen Realität und Wirklichkeit. Die Realität, das ist die Welt der unmittelbar präsenten oder der jedenfalls ermittelbaren und überprüfbaren Fakten, ist die Ansammlung dessen, was der Fall ist, was zu sehen und zu hören war, was geschieht und vorfällt. Zur Wirklichkeit gehört all dies, aber noch mehr, nicht nur die einzelne Tatsache, sondern auch, ob sie mich empört oder begeistert, nicht nur die äußere Kontur der Welt, sondern auch mein Entwurf, mein Traum von ihr, meine Sehnsucht und meine Enttäuschung.

Wirklichkeit ist also mehr als Realität, wiewohl es sie ohne diese nicht gibt. Wer es als Autor nicht fahrlässig schlampig oder faul angeht, der wird, wenn er ein bestimmtes Ereignis, eine historische Episode erkunden möchte, möglichst viele historische Realien sammeln und sich so die Realität zu erschließen versuchen. Die Wirklichkeit des Menschen aber hat er damit alleine noch nicht erfasst.

Mein zweiter Reportageband trägt den Titel „Die Hundeesser von Svinia“ und handelt von einer Reise zu den Roma im Osten der Slowakei, von denen einige Hunderttausend am Rande der Städte und Dörfer in Slums wohnen. Bevor ich in den ersten dieser Slums geriet, war ich überzeugt, auf ein solches Elend würde ich vielleicht in den Hungerländern Afrikas oder Asiens stoßen, sicher aber nicht in der Mitte Europas, drei Autostunden von Wien entfernt. Svinia, unweit der für ihr prächtig erhaltenes Zentrum gerühmten Stadt Prešov gelegen, ist unter den vielen Slums der Region einer der schlimmsten, seine Bewohner gelten auch innerhalb der slowakischen Roma als gering geschätzte Außenseiter und werden verächtlich als Degesi, als Hundeesser, bezeichnet, wiewohl natürlich niemand von ihnen je Hunde verzehrt hat und sie ihren struppigen Kötern, die im Ort herumlaufen, geradezu fürsorglich zugetan sind.

In den meisten Rezensionen des Buches wurde insbesondere sein 17. Kapitel gelobt, das den Eindrücken gewidmet ist, den mir der erste Besuch in Svinia machte, meinen widerstreitenden Gefühlen von Faszination, Scheu und Abstoßung, die ich empfand, als ich staunend, ein wenig verängstigt, zunehmend erschüttert und doch geradezu begeistert durch den kleinen Ort schritt.

Ich entwerfe in diesem Kapitel die Szenerie eines verregneten Nachmittags, der den Platz, um den sich die baufälligen Hütten gruppieren, in Schlamm und Morast verwandelt hat, sich gleichwohl fast die ganze Einwohnerschaft im Freien aufhält, sich rauchend unterhält oder schweigend zusammensteht und gutmütig auf die halb nackten Kinder schaut, die in den großen Regenlacken sitzen und sich gegenseitig ausgelassen mit Wasser bespritzen.

Nun habe ich diesen Slum, begleitet vom Fotografen Kurt Kaindl, der all die Jahre mit mir unterwegs war und sein eigenes, fotografisches Projekt verfolgte, wohl zwölf- oder fünfzehnmal besucht, und oft hat es in diesem Frühjahr 2003 über graue, trostlos lange Tage hin geregnet. Aber als ich das erste Mal nach Svinia kam, hat die Sonne geschienen, und der Platz bot zwar keine Idylle, aber ich fand ihn auch nicht vor wie später so oft, nämlich als geradezu schwarz blubbernde Fläche, die der Morast knöcheltief aufgeweicht hatte.

Habe ich in einem Text, der von der ersten Seite an unüberhörbar den Anspruch erhebt, in Form einer literarischen Reportage nicht von erfundenen, sondern wirklichen Dingen zu erzählen, damit gegen den Anspruch dieses Genres, gegen das Ethos der Reportage verstoßen, ja mich der literarischen Täuschung schuldig gemacht?

Es gehört zu den hanebüchenen Missverständnissen zu glauben, in einer Reportage genüge es, von den Dingen einfach aufzuschreiben, wie es sich mit ihnen verhält. Ja eben, wie verhält es sich denn mit ihnen, und wie schreibt man es auf! Ich habe den Regen dieses Frühjahrs nicht erfunden, mir den Schlamm, in den sich die kleine Welt jenes Slums zu verwandeln schien, nicht ausgedacht, ich habe mir die nackten Kinder, die im eiskalten Wasser saßen, nicht imaginiert, um mit diesem einprägsamen Bild Stimmung zu machen; alles, was ich beschrieben habe, gab und gibt es in Svinia, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Aber ich nahm mir die Freiheit, die Chronologie der Ereignisse umzustellen.

Das würde, für sich genommen, zwar ohnedies noch nicht bedeuten, dass ich Fiktionen für Fakten ausgegeben hätte. Aber selbst wenn man die kompositorische Freiheit, die Dinge entgegen ihrer Chronologie darzubieten, als Fiktion werten wollte, dann wäre es doch die Aufgabe dieser Fiktion gewesen, die Fakten selbst besser zum Sprechen zu bringen. Denn zu den Fakten gehört, dass dieser Slum schon nach einer Stunde Regen nahezu unbegehbar wird und dass sich gleichwohl seine Bewohner ihre Lebensfreude nicht völlig rauben lassen.

Im größten Elend, das ich bis dahin in meinem Leben gesehen hatte, traf ich merkwürdigerweise auf zahllose freundliche Menschen, die sich freuten, dass ich sie besuchte, die mir die Gastfreundschaft der Armut anboten und lethargisch zwar nichts unternahmen, um ihren Wohnort wirtlich zu gestalten, sich aber eine heitere Renitenz zu behaupten wussten. Ich bin mir sicher, das nicht nachträglich zu verklären, sondern dass es genau diese prekäre Verbindung war, die mich faszinierte und die diesen Ort, den ich unschwer als Vorhölle hätte zeichnen können, ausmacht: die Verbindung von Elend und Freundlichkeit, von Armut und Großmut, von Apathie und Ausgelassenheit. Um dies literarisch so zu gestalten, dass es nicht nur behauptet, sondern glaubwürdig und nachvollziehbar erzählt wird, schien es mir angebracht, die Akzente gleich in der ersten in Svinia spielenden Szene so zu setzen, wie ich es tat.

Es ging mir also nicht darum, die Dinge zu verleugnen, zu verklären oder zu verdammen, sondern sie vielmehr so einzufangen, dass ich im Text beidem gerecht wurde: dem, was ich sah, und dem, was ich dabei empfand, als ich es sah. Ich hatte keine Bedenken, zu diesem Zwecke den chronologischen Ablauf zu missachten, Dialoge zu verdichten, Informationen szenisch aufzubereiten, verschiedene Menschen, die ich an verschiedenen Tagen und Orten getroffen hatte, auf einem Tableau zu vereinen. Wo immer ich den überprüfbaren Zusammenhang der Fakten aufsprengte, habe ich es nicht getan, um mir ein gut gelauntes oder melodramatisches Spiel mit Fiktionen zu erlauben, sondern um diese Fakten selbst wirkungsmächtiger für sich sprechen zu lassen.

Das ist das Recht dessen, der eine literarische Reportage schreibt, aber auch seine selbst gesetzte Grenze: Erfinden, nur weil er seine Freude daran hat, darf er nichts. Der Romancier muss sich an dieses Gebot des Reporters nicht halten, seine Fiktionen müssen nicht auf Fakten gründen, und umgekehrt kann er Fakten ins Geschehen einführen, um mit ihnen sein Spiel der Fiktionen zu treiben. Auch in der Reportage geht es um Wirklichkeit, nicht nur um äußere Realität; aber was die historische Wahrheit betrifft, die sie zugleich fassen und entwerfen will, hat sie Grenzen zu beachten, die für einen Roman nicht gelten.


Vor einigen Jahren ist die nicht von allen Historikern geschätzte „kontrafaktische Geschichtsschreibung“ in Mode gekommen, also die von historischen Fakten ausgehende Spekulation, was gewesen wäre, wenn . . . Wenn zum Beispiel Alexander der Große nicht als ewiger Jüngling in die Mythen eingegangen, sondern uralt geworden wäre. Wenn die osmanischen Streitkräfte 1683 vor Wien nicht zurückgeschlagen, sondern alle habsburgischen Länder in ihr übernationales Reich eingegliedert hätten. Oder wenn es sich der Thronfolger Franz Ferdinand hätte ausreden lassen, 1914 ausgerechnet am St.-Veits-Tag nach Sarajevo auf Truppeninspektion zu fahren.

Hannes Stein hat in seinem 2013 erschienenen Roman „Der Komet“ gewitzt ausprobiert, was diese Spekulation hergibt. Er lässt Franz Ferdinand, als er der feindseligen Stimmung in Sarajevo innewird, den herrlichen Gedanken fassen: „I bin do net deppat, i fohr wieder z'Haus.“ In der Folge spielt Stein in seinem Roman durch, was diese vernünftige Einsicht mit der prompt darauf angetretenen Heimfahrt nach Wien für Europa bedeutet haben könnte. Ist es, fragen wir uns lesend, im Nachhinein überhaupt vorstellbar, dass es keinen Ersten Weltkrieg gegeben hätte? Und ist es, wenn er niemals erklärt und geführt worden wäre, nicht wahrscheinlich, dass der Welt dann auch der Zweite Weltkrieg mit dem Holocaust und den Aberdutzend Millionen Toten auf allen Seiten hätte erspart werden können?

Viele Wissenschaftler halten von solchen Spekulation nichts, eben weil es Spekulationen sind, andere, und ich habe den Eindruck, es werden immer mehr, gewinnen einem historischen Denken, das sich nicht ausschließlich an dem orientiert, was geschehen ist, sondern auch das einbezieht, was hätte geschehen können, nach und nach etwas ab.

Tatsächlich ist es ja ein geradezu gattungsspezifisches Talent des Menschen, sich nicht mit dem abzufinden, was tatsächlich ist und war, sondern sich zu allem auch eine Alternative vorstellen zu können. Wann immer uns eingeredet wird, dass eine ökonomische Entscheidung angeblich „alternativlos“ sei, ahnen wir, dass es in Wahrheit um ideologische Ansichten und politische Absichten bestimmter Gruppen geht und selbst jene Politik, die sich als reine Sachpolitik auszugeben versucht, von Menschen mit ihren Interessen bestimmt wird.

Erst recht die Kunst wäre nichts ohne dieses zutiefst humane Vermögen, sich nicht mit der herrschenden Meinung, der herrschenden Sicht auf die Dinge zufriedenzugeben. Die Kunst erweist ihre Kraft oft gerade darin, vor der Macht des sogenannten Faktischen eben nicht abzudanken, sondern den Horizont des Möglichen aufzureißen und die Dinge, wie sie angeblich sind, auf irritierend andere Weise zu sehen, die Verhältnisse, die wie für ewige Zeiten gefestigt erscheinen, im ästhetischen Spiel in Frage zu stellen und die erstarrte Ordnung in Bewegung aufzulösen.

Gerade die österreichische Literatur hat häufig diesen „Möglichkeitssinn“ aktiviert, um es mit einem Wort von Robert Musil zu sagen, und das längst nicht nur bei unmittelbar politischen oder historischen Angelegenheiten. Wenn dem Gegebenen, Verbürgten das Mögliche entgegengesetzt wird, haben wir es dann mit Lüge, Schwindel, Geschichtsfälschung zu tun? Mitnichten, denn Realität mag nur das sein, was tatsächlich geschieht und vorhanden ist; zur Wirklichkeit aber gehört auch, was sich nicht durchgesetzt hat und nicht geschehen ist, was anders hätte sein können und was anders werden muss; dieses Potenzial kann in der Antiutopie die Farben Schwarz tragen, in der Utopie aber auch ziemlich bunt aussehen.

Ohne die Kraft, die bekannten Dinge im spielerischen Entwurf, im gedanklichen Konzept, mit der Vernunft der Fantasie und der fantasievollen Vernunft zu verwerfen und sie neu zu konzipieren, gäbe es keine Kunst. Aber auch keine Zivilisation.

Selbst ein Autor wie Erich Hackl, nein, gerade einer wie er, der den Lebensläufen seiner ermordeten Protagonistinnen mit einem rigorosen Ethos des Forschens, Befragens, Recherchierens nachspürt, hält in seinen düsteren Chroniken stets den Horizont offen, dass die Geschichte, die verheerende, auch anders hätte verlaufen können. Er verschiebt die Akzente nur ein wenig, und schon wäre ein oberösterreichisches Zigeunermädchen, das in die Mühle von Gleichgültigkeit, Scheelsucht, bürokratischer Menschenverachtung und endlich von rassistischer Mordgier geriet, zu retten gewesen. Nur eines der vielen Rädchen im Getriebe hätte weniger gut funktionieren, nur einer der Beamten, für den dieses Mädchen namens Sidonie nichts als ein Name im dienstfertig ausgefüllten und weitergereichten Formular war, ein Herz haben müssen, und schon hätte die tödlich verlaufende Geschichte sich wenden lassen.

Die Realität wird oft vom Zwang bestimmt; unsere Wirklichkeit aber macht es auch aus, dass wir diesen Zwang als schmerzend, demütigend, unerträglich erleben und wir uns unser eigenes Leben und die Welt anders vorstellen können.


In einem Interview über die „Hundeesser von Svinia“ wurde ich befragt, ob ich mich gründlich auf diese Reise vorbereitet, wie viel ich schon vorher zum Thema gelesen, was ich von Salzburg aus erforscht, mit wem ich übers Internet Kontakt aufgenommen hatte, wer meine Gesprächspartner vor Ort waren . . .

Ich erzählte freimütig von meiner Arbeitsweise, hielt ich sie doch nicht für eines jener Geheimnisse, das mancher Maler früher aus der Mischung jener Farben machte, die dann diesen bestimmten Effekt von Blau oder Grün ergab. Das Interview wurde jedoch unerwartet kontroversiell aufgenommen, und besonders waren es jene Ausführungen, die sich auf das erwähnte 17.Kapitel bezogen, die mir Widerspruch eintrugen. All die Fragen, was von einer Reportage zu erwarten und welche literarischen Mittel, Finten, Tricks einzusetzen in ihr erlaubt sei, führten am Ende doch wieder nur zur populären Debatte über das Wetter, zumal ich meine Sicht auf die selbstherrliche Pointe gebracht hatte: „Wenn ich will, lasse ich es regnen. Ich bin der literarische Wettergott.“

Gott ist bekanntlich allmächtig, und wer sich zum Wettergott seiner Bücher ausruft, behauptet damit, in ihnen schalten und walten zu können, wie es ihm beliebt. Das stimmt natürlich, und stimmt auch wieder nicht. Jedwedes ästhetische Werk entwickelt seine spezifische Eigenständigkeit, die sein Schöpfer, sei er Maler oder Autor, bei Strafe, sein eigenes Werk sonst zu beschädigen, zu respektieren hat.

Im gegebenen Falle bedeutet das, dass dieser Wettergott kein allmächtiges Wesen ist, sondern ein sein Tun reflektierender, sich selbst beschränkender Gott, also gar keiner, denn was wäre das für ein Gott, der mit sich hadert, seine Befugnisse überprüft und sich das Recht, Dinge, Figuren, Begebnisse einfach zu erschaffen, selbst beschneidet?

Auch in der Reportage, auch in der an den Fakten interessierten und auf sie orientierten Literatur geht es nicht um die Realität, sondern um die Wirklichkeit und die dieser innewohnenden Wahrheit. Ohne literarische Stilisierung könnte man über die äußere Realität niemals hinausgelangen; aber umgekehrt ist die Wahrheit in der Reportage, in allen faktenorientierten Formen der Literatur anders als mittels disziplinierter Selbstbeschränkung nicht zu gewinnen. ■

Jahrgang 1954. Lebt als Autor und Literaturkritiker in Salzburg. Seit 1991 Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“. Bücher u. a.: „Die Hundeesser von Svinia“, „Die versprengten Deutschen“, „Die sterbenden Europäer“, „Die fröhlichen Untergeher von Roana“ (alle bei Zsolnay, Wien), zuletzt, bei Otto Müller, Salzburg, „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“. Sein Beitrag gibt die gekürzte Fassung eines Texts wieder, den er für den Katalog zur Ausstellung „Kunst/Geschichten“ verfasst hat. Zu sehen ab 26. Juli im Museum der Moderne auf dem Salzburger Mönchsberg.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)

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