Baggern für die Zukunft

Zehn Prozent Wachstum jährlich, Inflation kaum nennenswert, ein nicht versiegender Bauboom für Banken, Hotels, Kasinos und Luxusapartments. Ist Panama das „Singapur Lateinamerikas“? Ein Lokalaugenschein 100 Jahre nach Eröffnung des Panamakanals.

Sind wir inzwischen wirklich das Singapur Lateinamerikas?“, fragte rhetorisch ein Leitartikler der panamaischen Tageszeitung „La Estrella“. Und lieferte auch gleich die Antwort: klar, zehn Prozent Wachstum jährlich; nur noch fünf Prozent Arbeitslosigkeit; Inflation kaum nennenswert; ein nicht versiegender Bauboom für Banken, Hotels, Kasinos und Luxusapartments.

Indes, nach schweißtreibenden Wartestunden vor der Passkontrolle im von Baulärm gemarterten Tocumen-Flughafen und den ersten Gehversuchen auf vermüllten, von Löchern durchstanzten Gehsteigen im Zentrum stiegen uns Zweifel auf. Doch je länger wir uns im urbanen Chaos bewegten, desto überzeugender stach uns – Singapur hin oder her – die neue Qualität von Panama ins Auge. Ja, aus dem seinerzeitigen Jammerstaat, zweigeteilt durch die US-Kanalzone, ausgebeutet von der eigenen Oligarchie, drangsaliert von putschlüsternen Militärs, vergewaltigt von Drogenbaronen, entsteht eine fröhliche, lässige, selbstbewusste Gesellschaft, die seit dem 1. Jänner 2000 – Datum der Übernahme der US-Kanalzone – ihren Weg geht.

Die erfrischende Qualität der Hauptstadt Panama City, die Bewohner inzwischen jenseits der ersten Million, zeigt sich am erfreulichsten im „Casco Viejo“, der historischen Altstadt. Noch vor 15 Jahren verrufen, verslumt, von Gangstern kontrolliert, schien ein Abriss unvermeidbar. Inzwischen wird renoviert, oft brutal mittels radikaler Entkernung, um die spanischen, von französischen Eisenbalkonen gefassten Fassaden zu retten. Bistros laden junge Künstler zu Vernissagen. Im „Diablo Rosso“ wird Rum serviert, Jazz gespielt, Kunst verkauft und um Entkitschung der historischen Gebäude gerungen. Stararchitekt Frank Gehry schenkt ein „Museum der Biodiversität“, welches, als Dach vorkragend, bunt bemalte Lamellen verwendet. Die Eröffnung steht unmittelbar bevor.

Plötzlich sind auch Touristen da. Echte Touristen nämlich, die Sonne, Meer, indianische Folklore und ökologische Dschungelabenteuer in der nun zugänglichen Kanalzone suchen und finden. Denn an Besuchern hat es Panama nie gefehlt. Dank des interozeanischen Kanals funktionierte die Hauptstadt immer schon als globalisiertes Dorf, offen für alle technischen und elektronischen Konsumwunder, bereit für Millionen Besucher aus den Amerikas. Kaufwütige Hausfrauen stürmen die luxuriösen „Multicentros“, während die Ehemänner Geldgeschäften nachgehen und anschließend im Kasino spielen.

Offenbar schlafen Lateinamerikas Eliten besser, wenn sie in Panama City einige diskrete Bankkonten und zumindest ein Luxusapartement unterhalten. Deswegen wachsen in der vorspringenden „Punta Paitilla“ die Bautürme wie Schwammerln aus dem knappen Boden. Expansion gibt es nur nach oben. Darüber schimmert die Silhouette des Bankenviertels am Pazifik wie eine Mirage. Stahl und Glas ergeben orthodoxe Architektur. Manchmal packt einen Bauherrn der Ehrgeiz, wie im Fall des „Revolution Tower“, eines wie aus papageigrünen Lego-Steinen aufgetürmten, sich in Spiralen windenden Bürohochhauses. Donald Trump beansprucht mit seinem in neuheidnischem Protz schwelgenden „Ocean Club Hotel & Tower“, als geblähtes Betonsegel aufgesetzt, das höchste Gebäude in diesem „Mini-Dubai“.

Laxe Regeln für Firmen

Solche Dienstleistungen, wozu auch mehr als 8000 Schiffe unter panamaischer Konvenienzflagge gehören, machen den Rahmen des transisthmischen Staates aus. Sein tertiärer Sektor erbringt mehr als 80 Prozent der Wirtschaftsleistung. Als Offshorezentrum zog es früher magisch die kolumbianischen Drogenbarone an, die hier Schwarzgeld bunkerten. Seit die US-Behörden bei verdächtigen Einlagen auf Einsichtnahme bestehen, sind die wildesten Zeiten vorbei. Doch erfolgreiche Lateinamerikaner können dank der laxen Regeln für Firmen und verschachtelte Corporations (von denen es in Panama knapp 350.000 gibt) ihren eigenen Finanzbehörden ohne Bedenken Steuern vorenthalten. „Mini-Dubai“ wächst daher mitimmer neuen Wolkenkratzern schonungslos weiter.

Die Achse des Tertiärsektors stellt natürlich der Kanal. Allen Unkenrufen zum Trotz funktioniert er unter panamaischer Kontrolle besser denn je. Denn nicht der korrupte Staat, sondern eine autonome Kanalbehörde administriert gewinnbringend das historische Werk. Der interozeanische Wasserweg hat eine alte Geschichte, die immer wieder neu erzählt werden muss. Die Franzosen begannen unter Ferdinand de Lesseps mit dem Kanalbau 1882 – und scheiterten grausam. Sie wollten, wie vorher am Suez, einen direkten Durchstich zwischen Atlantik und Pazifik. Frohlockend übernahmen die USA, unter Präsident Teddy Roosevelt in imperialer Euphorie, das Projekt. Entwicklungsökonom Albert O. Hirschmann erfand dazu das verspielte Palindrom „A man, a plan, a canal – Panama“. US-Ingenieure erdachten das genialische Design eines Schleusenkanals, der auf der Basis von Gratiszutaten (aufgestautes Wasser und Schwerkraft) das Problem lösen sollte. Mit Erfolg: Vor 100 Jahren, am 15. August 1914, passierte die „Ancón“ als erstes Schiff den interozeanischen Wasserweg. Und so funktioniert er auch heute noch.

Freilich vergewaltigte die unter US-Hoheit befindliche Kanalzone den erst 1903 aus der Taufe gehobenen Staat Panama. Jahrzehntelang nährte diese Zumutung den Antiimperialismus ganz Lateinamerikas. Bei periodischen Protestmärschen wurden Steine geworfen; manchmal floss Blut, am dicksten am 9. Jänner 1964, als Studenten mit panamaischen Fahnen in die Kanalzone eindrangen und brutal niedergeschossen wurden.

Aber in den 1970ern ergab sich plötzlich eine diplomatische Sternstunde: Während in Panama General Omar Torrijos mit dem poetischen Satz: „No quiero entrar a la historia, quiero entrar al Canal“ (grob übersetzt: In die Geschichte eingehen ist mir wurscht, ich will die Kanalzone haben), den Druck auf Restitution der Kanalzone mit Androhung einer Guerilla verstärkte, rieten in Washington die liberalen Lateinamerikaberater US-Präsident Carter zum Nachgeben. Nach dem Stand des damaligen Welthandels kam dem überalterten Kanal sowieso keine strategische Bedeutung mehr zu. Daher die Devise: den Kanal opfern und dafür Lateinamerikas Nationalismus entschärfen!

So kam es 1977 zu den Torrijos-Carter-Verträgen, welche die Übergabe des Kanalterritoriums auf den 31. Dezember 1999 festsetzten. Murrend approbierte der US-Kongress das kluge Paket. Zum Glück, denn wenig später schloss sich das diplomatische Fenster: Mit US-Präsident Reagan und den Republikanern hätte es nie Zustimmung gegeben. Es verstrich die Zeit, und die Gringos bereiteten die entgeltlose Übergabe der Zone vor. Einmal noch kamen sie militärisch zurück, 1989, um Drogenpräsident Manuel Noriega auszuräuchern. (Der Unselige sitzt derzeit sein „Lebenslänglich“ partout in einem Gefängnisbau in der ehemaligen Kanalzone ab.) Aber dabei blieb es, und Panamas nationales Wunder, Herr im eigenen Haus zu sein, blühte ab Jänner 2000 auf.

Um jene Zeit begann die Weltwirtschaft, inzwischen globalisiert, frische Dynamik zu entfalten. Asiens Aufstieg und vor allem Chinas staatskapitalistische Wende gaben dem fast schon abgeschriebenen Panamakanal enormen Auftrieb. Dank der Containerrevolution im Transportgewerbe fuhren inzwischen monströse Schiffstypen, welche die Panamax-Maße (womit man gerade noch durch die Schleusen des Kanals kam) sprengten. Der Ruf nach Korrekturen, um den Wasserweg auch für Post-Panamax-Größen zu öffnen, kam auf. Der demokratisch gewählte Präsident Martin Torrijos, Sohn von Omar (1981 bei einem wohl absichtlichen Flugzeugabsturz getötet) befragte die Bevölkerung 2006 über die Zukunft des Kanals. Der Vorschlag „Erweiterung“ wurde mit deutlicher Mehrheit angenommen.

Seither dröhnt in Panama eines der gigantischsten Bauvorhaben dieses Jahrhunderts. Für 5,25 Milliarden Dollar wird der alte Kanal ausgebaggert und vertieft, man überholt die historischen Drei-Stufen-Schleusen und buddelt parallel zwei überdimensionale Baugruben für die neuen Schleusentore aus, länger, tiefer und breiter, um auch Post-Panamax-Schiffe durchziehen zu können. Dank kundiger Führung durften wir die Baugrube Gatun besichtigen, wo wir uns in Ameisen verwandelten, um auf die stählernen, 33 Meter hohen Ungeheuer der neuen Schleusentore, eben aus Triest geliefert, hinaufzuschauen.

Eine Eröffnung des erweiterten Kanals Mitte 2014, genau 100 Jahre nach der Inbetriebnahme, wäre Panamas Traum gewesen. Realistisch muss man mit 2015 rechnen. Es könnte sogar 2016 werden, weil das europäische Konsortium GUPC unter Leitung der spanischen Firma Sacyr über die Plankosten hinaus plötzlich 1,6 Milliarden Dollar zusätzlich verlangte. Ein vorübergehender Baustopp und Streiks zu Jahresbeginn sorgten für ernsthafte – inzwischen wieder geglättete – Verstimmungen.

Und sozial? „Afrikanische“ Werte

Sozialpolitisch allerdings bleibt Panama hinten. Auf allen internationalen Qualitätsindizes zeigt das Land „afrikanische“ Werte. Selbst während der jüngsten Boomjahre gab es Verbesserungen beim Gini-Index (der Gleichheit respektive Ungleichheit misst) nur bei den hinteren Dezimalstellen. Ein Fünftel der Bevölkerung verharrt im Armutsbereich. Trotz des glänzenden Bankenviertels beherbergt Panama City Siedlungen in grausamer Verwahrlosung, insbesondere in den ramponierten Barrios der Chinesen und Afro-Kariben, den Nachkommen der Bauarbeiter am historischen Kanal.

Viel Schuld an der Misere fällt auf die Politik. Zwar konnte sich nach 1999 der demokratische Wahlprozess dauerhaft durchsetzen, aber es bleiben die traditionellen Spieler. Panamas alteingesessene Aristokratie, die „Rabiblancos“ (Weißschwänze), immer mit denselben Namen – Arias, Alemán, Arosemena, Herrera, Boyd –, mischt unverdrossen bei den Machtmanövern mit. Ein elegantes Finanzbürgertum hält die undurchsichtige Bankenwelt in Gang.

Schließlich gibt es auch Aufsteiger aus der Geschäftswelt, so zuletzt Ricardo Martinelli, einen Selfmademan, der mit Großmärkten (Kette „super 99“) täglich Millionen verdient. Er amtierte als Präsident während der vergangenen vier Jahre. Es blühte die Korruption, nicht zuletzt wegen ehrgeiziger Modernisierungen für die verrottete Infrastruktur: Mehrspurige Autobahnen, zum Teil auf Stelzen im Meer, sollen den stockenden Verkehr verflüssigen. Eine funkelnagelneue Metro, auch auf Betonstelzen, nahm eben erst den Betrieb auf. Freilich, Schönheit blieb dabei auf der Strecke. Schändlicherweise darf der brasilianische Baukonzern Odebrecht vom Meer aus gerade einen Autobahnbetonring um den „Casco Viejo“ legen, allen Protesten der Umweltschützer aus dem „Diablo Rosso“ zum Trotz, wo man befürchtet, dass die Unesco der Altstadt die Zuschreibung als Weltkulturerbe streichen könnte.

Was tut's? Der im Mai gewählte Präsident Juan Carlos Varela wird das grobe Modernisierungsprojekt fortsetzen. Und vorerst wird sowieso gefeiert – 100 Jahre Panamakanal, das ist schon was. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)

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