Der Stamm und sein Tisch

Stammtische sind, was ja das Bestimmungswort im Kompositum, nämlich Stamm, anzeigt, ausdauernd. Manchmal ist an der Garderobe ein Rollator geparkt... Zur Lufthoheit über dem Stammtisch: Einsichten eines Kenners.

Die ehrlichen Kleiderseller“ nannte sich der wohl berühmteste deutsche Stammtisch des späten 19.Jahrhunderts in Braunschweig, und er hatte so berühmte „Brüder“ wie den Dichter Wilhelm Raabe und den Fahrrad- und Autobushersteller Heinrich Büssing, dessen Firmenemblem, der Braunschweiger Löwe, ja heute noch auf den MAN- Autobussen prangt. „Kleiderseller“ deshalb, weil die Mitglieder anfangs eine Sammlung, eine „Tombola“, für ein kulturelles Anliegen veranstalteten.

Hat sich Wesentliches an der Begeisterung für den Stammtisch geändert, seit Raabe schrieb: „Eines weiß ich, dass ich immerdar seit mehr denn zehn Jahren mit jedem Körper- und Seelenteil zu dem eisernen Bestande dieses unseres wunderbaren Stammtisches gehört habe und unbewegt über gute und böse Perioden, über Ebbe und Flut mit der unerschütterlichen Gewissheit: Wir bleiben! hingegangen bin“?

Ich habe in meinem Roman „Zur Entlastung der Briefträger“ über die „Kleiderseller“ geschrieben, aber vor allem die munteren Reden von 33 Stammtischen dreier pensionierter Briefträgerbeim Kirchenwirt in Munderfing protokolliert. Drei und 33 sind heilige Zahlen... Otto Grünmandlhat freilich das surrealistische Kunststück des „Einmannstammtisches“ zustande gebracht... Wöchentliche Stammtischtreffen sind für ältere Menschen, „Senioren“, früher wohl auch als „Philister“gescholten, aber auch Frauen in „Damenrunden“ („Kränzchen“) die ein wenig biedermeierliche Antwort auf „Ebbe und Flut“, vor allem auf die Unbill der Zeitläufte, wider Isolation und Vereinsamung.

Stammtische sind, was ja das Bestimmungswort im Kompositum, nämlich Stamm, anzeigt, ausdauernd. Manchmal ist an der Garderobe ein Rollator geparkt . . . Die exklusiven Stammtische in den Cafés und Wirtshäusern sind mit genauer Uhrzeit- und Datumsangabe ausgeschildert, wie jene über 20 im Salzburger Müllner Bräuhaus, damit sich dort nicht womöglich ein Unbefugter zur Unzeit niederlässt. Dort gibt es einen „Zwölf-Apostel-Stammtisch“, zu dem, vom Abt des Augustinerstiftes als Hospitant eingeladen zu werden eine auszeichnende Ehre darstellt, aber auch einen 150 Jahre alten, die nach einem ausgestorbenen Kartenspiel benannte „Schlapp-Gesellschaft“... Ein „Strammtisch“ gewissermaßen...

Am Stammtisch wird also geredet, diskutiert und kommentiert, es werden Schnurren und Anekdoten und oft auch anzügliche Witze erzählt, jeder der Teilnehmer liefert seine an sich oft schon allen bekannten Beiträge ab.

Es gibt auch von Stammtisch zu Stammtisch andere Lieblingsthemen, je nach Zusammensetzung der Zusammensitzenden – und auch Tabus. Religion etwa. Beliebt sind hier auch die „Stillen im Lande“, die also wenig Redezeit beanspruchen, die selten ihre Stimme erheben, aber bereitwillig zustimmen und applaudieren und nicht die „Lufthoheit über dem Stammtisch“ reklamieren. Alt gewordene Schauspieler finden hier noch einmal eine Bühne für Auftritte... „Mich hätten Sie sehen sollen!“ Nach „Auftritten“ dann Ausritte gegen den Zeitgeist und die Dreistigkeiten des modernen Regietheaters.

Treffen sich pensionierte Gymnasiallehrer, dann ist ein wiederkehrendes Thema die Erörterung von Neuigkeiten aus den Karrieren ihrer ehemaligen Schüler, vor allem jener, die in der Politik nun eine (unsägliche) Rolle spielen, wenn sie etwa, nun selbst Schulmänner oder Lehrerinnen, der Gesamtschule oder der Zentralmatura das Wort reden und womöglich Türkisch und Latein verwechseln.

Ich kann wie Wilhelm Raabe aus der Erfahrung, wie er als Teilnehmer zweier Stammtische sprechen. So habe ich mich in gewisser Weise des Raabe-Preises der Stadt Braunschweig, der mir 1984 als zweitem Österreicher nach Heimito von Doderer verliehen wurde, würdig erwiesen . . .

Am Mittwoch treffe ich mich im Café der Diakonie mit ehemaligen Lehrern aus dem Bischöflichen Privatgymnasium Tanzenberg, einem Buchhändler und einem ehemaligen Landesschulratspräsidenten. Hier wird ausnahmsweise sehr viel über Kirchliches und ausnahmsweise mit Sympathie über den Klerus gesprochen. Wir sind Bürger, sicherlich keine Wutbürger . . . Und mögen uns die daheim bleibenden Ehefrauen auch gern als „Weltverbesserungskonferenz“ belächeln.

Die Weltverbesserung geschieht ja heute bei den ununterbrochen ausbrechenden und aufbrechenden Kriegen und Krisen rund um den Globus an den sogenannten runden Tischen. Wegen der Dauer dieser Krisen wird mancher runde Tisch auch zum Stammtisch . . .

Die Teilnehmer des Diakoniestammtisches sind außerdem außer mir, hierin ähnlich den Diplomaten („Reisediplomatie“), reiselustige und weit gereiste Herren, sodass sich manche „Sitzung“ als Vorbereitung oder Nachbesprechung von Fernreisen und kürzeren Ausflügen gestaltet. Als einer, der die „stabilitas loci“ liebt, bin ich hier dankbarer Zuhörer, und ich hole durch die Mitteilungen eines Geografielehrers manches an Erdkunde nach, was ich seinerzeit am Welser Gymnasium ignoriert habe.

Heute veranstalten viele Pfarreien an den Sonntagen nach dem Gottesdienst sogenannte Pfarrcafés, wo sich ein Teil der Messebesucher zu einem sogenannten gemütlichen Beisammensein im Pfarrsaal trifft. Auch hier dominieren die älteren Jahrgänge. Nachdem man sich zuvor am „Tisch des Herrn“ versammelt und gestärkt hat, nun also noch am Stammtisch des HerrnPfarrers bei Kaffee und jenen Kuchen, die sogenannte fromme Frauen gebacken und mitgebracht haben... Nach der Sonntagspflicht sozusagen die Kür, Labsal also für Seele und Leib. Die zünftige Gastronomie sieht die Konkurrenz der vielen privaten „Anbieter“ natürlich nicht gern.

Mein zweiter Stammtisch am Samstagvormittag im Café Sever wurde lange vom legendären Intendanten des Klagenfurter Stadttheaters, Herbert Wochinz, präsidiert. Dieser „Herbert-Kreis“, also Wochinz-Freundschaftskreis, hat auch öfter prominente Theaterleute aus der Kapitale angezogen. Selbst Ioan Holender gab ihm einmal die Ehre. Wochinz' Platz ist ja nun schon leider zwei Jahre vakant. Hier ist, nachdem früher von ihm und seinen Mitstreitern am Theater sehr viel von Theatergeschichten aus seiner Pionierzeit am Fleischmarkttheater in Wien und dann seiner Arbeit am Klagenfurter Stadttheater und den von ihm gegründeten und geprägten Komödienspielen im Schloss Porcia in Spittal an der Drau die Rede war, ein insistentes Thema, wie sein Andenken in der Stadt mit einem Denkmal und einer Platz- oder Straßenbenennung zu ehren sei. Was wäre wohl in seinem Sinn? Unser „Kränzchen“ widerlegt: Die Nachwelt flicht den Mimen keine Kränze. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)

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