Wenn der Krieg einmal endet

„Expedition Europa“: Wie denken die einfachen Ukrainer?

Diesen Sommer wollte ich wissen, wie einfache Ukrainer denken. In meiner einstigen Traumstadt Kiew hielt es mich nicht lang: Ausgehend von den 100 Kreuzen auf dem Hauptplatz Majdan, lag eine bleierne Schwere über der Stadt. Die wenigen, die abends ausgingen, gebärdeten sich oft übertrieben ausgelassen. Auf der Freizeitinsel Gidropark fehlte wenig, und sie hätten auf dem Tresen kopuliert.

Ansonsten bereiste ich Regionen, die stets für gute Beziehungen zu Russland gestimmt hatten – den Osten und Süden, von Moskau neuerdings „Neurussland“ genannt. Die Menschen reagierten überall anders auf den Krieg: In Überlandbussen des Saporoschjer Gebiets ungewohnte Herzlichkeit unter Wildfremden. Im Schlafwagen Saporoschje–Odessa hingegen nervlich Zerrüttete; die schlaflose Dame unter mir, Smartphonestöpsel im Ohr, wickelte über Stunden an einem Garnknäuel; am Morgen warf sie Kiew einen „völligen Mangel an Konstruktivität“ vor: „Immer ist an allem Russland schuld.“ Im pulsierenden Odessa schimpfte ein Ttaxler: „Es sind keine Touristen da. Ukrainer zählen nicht, die sind minderwertig.“

Ich fuhr zu den ethnischen Ukrainern in Otaci, einer moldawischen Vorstadt des ukrainischen Mogiljow-Podolskij. Der Grenzposten an der Dnjestr-Brücke bildet das eigentliche Zentrum, die moldawischen Ukrainer nutzen den Markt drüben, viele Kinder gehen drüben in die ukrainische Schule. Männer sitzen auf Paletten, spielen Karten. Bei Nacht gehen die Türen eng geparkter Kastenwagen auf, bis oben gefüllt mit Kartons reifer Pfirsiche. Die Gegend lebt vom Obstexport nach Russland, Russland hat den Markt gesperrt. Ein paar Verkaufsversuche, müde und sinnlos; das Obst verfault. Die Ukrainer von Otaci empfangen russisches und ukrainisches Fernsehen, über die russische Politik höre ich aber kein kritisches Wort. „Die Ukrainer lügen“, „sie kämpfen gegen das eigene Volk“, „ich gehe mit dem Sturmgewehr ins moldawische Parlament“.

In der Atomstadt Energodar

Ich besuche eine vertraute Ecke der Südukraine. In der Atomstadt Energodar sind viele sowohl gegen den Majdan als auch gegen die Intervention Russlands. Nicht wenige hassen Putin für den Raub der Krim, fahren aber seelenruhig auf Urlaub hin. Einige Energodarer kämpfen im Donbass auf Seite der Separatisten. Zwei sind schon im Sarg heimgekehrt, kein Wort darüber in ukrainischen Medien. Ich stelle fest, dass ich einen Separatisten kenne. Angeklagt wegen Hochverrats, soll er sich inzwischen auf der Krim verstecken. Im Sommer 2010 trank ich Wodka mit ihm. Er sagte in jener Sommernacht unter Berufung auf Dostojewski: „Nur Russland kann die Welt retten.“ Ich war einverstanden, fügte aber hinzu: „Zuerst muss sich Russland selber retten.“ Ich mochte ihn nicht, sein fahler Teint wirkte morbid auf mich. Ich sah ihn nie wieder.

Bei Freunden von Freunden wohnen Verwandte, Flüchtlinge aus den ausgebombten Häusern beim Donezker Flughafen. Ein zarter Jüngling brach die Ausgangssperre, wurde von der ukrainischen Nationalgarde festgenommen und über Tage in einem Keller gefoltert. Er schnitt sich die Pulsadern auf, gelangte so ins Spital, floh von dort. Ganz blau von Blutergüssen, kam er in Energodar an. Er schlief nur unter dem Fenster, zitterte. „Die Ukraine kommt auch in zehn Jahren nicht auf die Beine“, sagen diese Flüchtlinge, „wir wandern wohl nach Russland aus.“

Ich kannte einst viele Ukrainer, die bei lässiger Anhänglichkeit an die Ukraine russisch sprachen und die ansonsten nicht wussten, was sie wollten. Das war mir sympathisch, und das ist nicht mehr drin. Wenn der Krieg einmal endet, verbleiben zehn oder 20 Prozent der Ukrainer als Verräter im Land. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2014)

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