Hotspot der Hölle

„Auf dem Mond muss es aussehen wie in der Mine: lauter Krater. Nur: Auf dem Mond buddeln keine Kinder mit bloßen Händen nach Erzen.“ Jean Baptiste Innocent, 16 Jahre alt: eine Begegnung in Goma, Kongo.

Goma im Osten des Kongo. Meine Ankunft begleitet eine schlechte Nachricht auf der Mobilbox: Die Kontaktperson hatte einen Unfall; Ersatz sei nicht verfügbar. Shit – ich bin in diesem Hotspot der Katastrophen, im Dreiländereck Uganda/ Ruanda/Kongo, zum ersten Mal. Durchatmen. Siesta im Schatten des Vulkans, dessen ausgespienen Lavatrümmer diesen Ort der Bürgerkriege, Plünderungen, Vergewaltigungen wie Boten aus dem Orkus übersäen.

Ob es mein Kopfschütteln, mein Fluchen oder einfach nur meine weiße Haut ist, die einen Halbwüchsigen im himmelblauen Kapuzenpulli sein Motorrad neben mir ausrollen lässt? „Tourist? Gorilla-Tour?“, fragt er lächelnd mit Blick auf die gleißende Silhouette des aus den Tropenwäldern ragenden 3471 Meter hohen Nyiragongo – sein Kratersee soll seit einem verheerenden Ausbruch im Jänner 2002 der weltgrößte sein. Nein, ich bin keine Touristin auf Berggorilla-Trip. Ich wollte einen Naturschützer aus dem Virunga-Nationalpark treffen, dem Wilderer, Milizen und korrupte Beamte nach dem Leben trachten. Außerdem muss ich abends am nahe gelegenen Grenzposten zurück sein, sonst gibt es Probleme mit der finsteren Clique, die mir nach langem Hin und Her für 300 Dollar ein „inoffizielles“ 24-Stunden-Visum ausgestellt hat.

Der vernarbte junge Kerl lacht lauthals, während er mir seine schmale Hand hinstreckt: „Ich bin Jean Baptiste Innocent. Wie mein Name sagt, bin ich kein Krimineller. Lass mich für 50 Dollar dein Guide sein.“ Schon knattern wir auf der Kawasaki zwischen verspiegelten Limousinen, Handkarren, überladenen Taxis, Lastenträgerinnen, UN-SUVs die Avenue de la Révolution hinunter: Geschäftigkeit, als gäbe es kein Morgen. Auf dieser breit angelegten Straße wälzten sich im April 1994 Flüchtlingsströme in Todesangst gen Westen: Hinter den Hügeln, in Ruanda, dem Land der zyklischen Totentänze, schlachteten Hutu-Milizen Hunderttausende Tutsi-Mitbürger ab. Ich halte mich am mageren Körper meines Chauffeurs fest; weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie eng Jean Baptistes Schicksal mit diesem Boulevard der Leiden verbunden ist: dass eine Elfjährige unter den panisch Flüchtenden war; dass dieses Mädchen als Einzige ihrer achtköpfigen Familie überlebt hat und drei Jahre später – 14-jährig – von einem Hutu-Kommandeur vergewaltigt und geschwängert wurde.

Wir biegen abrupt nach links ab, weichen einem Armee-Checkpoint aus: „Zu deiner Sicherheit“, sagt der junge Beschützer lakonisch, „die kassieren von so jemandem wie dir Aufenthaltssteuer, ziehen den Pass ein, der teuer auszulösen ist.“ In diesem „failed state“, der einst Zaire hieß, sind Regierungsrekruten genauso gefürchtet wie Marodeure, Milizionäre und Rebellen rivalisierender Soldatesken. Sie haben diese Gegend während der vergangenen 20 Jahre zum Massengrab von sechs Millionen Menschen gemacht; malträtieren Zivilisten. Der Fluch liegt in der Laune der Natur: Die zerklüfteten, dicht bewaldeten, aus der Luft wie surreale Brokkoli-Haine anmutenden Hügelketten sind reich an Gold, Zinn, Coltan, Mangan, Kupfer, Diamanten.

„Lust auf frischen Tilapia?“

Dieser von Verdammnis heimgesuchte Fleck Erde ist paradiesisch schön: die dunkelvioletten Vulkanberge, die grünen, von feuerroten Blütenriesen durchsetzten Hügel, der im ostafrikanischen Seenmosaik eingebettete Kivusee. Jean Baptiste verlangsamt das Tempo, parkt neben einem UN-Auto, fragt: „Hast du Lust auf frischen Tilapia?“

Der anfängliche Shit Day zeigt seine Kehrseite: geruhsame Normalität mitten im Chaos; hinschlendern zu den schattigen Tischen am malerischen Ufer. Bei kühlem Tonic und herrlichem Fisch frage ich Jean Baptiste, wo seine Familie lebt. „Ich habe nur eine Mutter, und die wohnt irgendwo da oben“, sagt der 16-Jährige, während er das Messer zum Himmel reckt, als wolle er ihn aufschrecken. Das geschändete Mädchen, das ihr Kind in der Regenzeit 1998 in einem trostlosen Lager bei Goma zur Welt gebracht hatte, wurde fünf Jahre später von Marodeuren verschleppt und ermordet. „Ihr Flehen, ihre Schreie werde ich nie, niemals vergessen“, höre ich ihn leise sagen. Die Tochter einer Lehrerfamilie aus Kigali, die ihren gewaltsam empfangenen Sohn Innocent nannte, wurde keine 19 Jahre alt; der Kleine blieb im Nebenzelt zufällig am Leben.

Es war eine apokalyptische Zeit: Armeen, Söldner, Dealer, Vergewaltiger wüteten. Die ugandisch-ruandische Militärachse besetzte mit US-Duldung den Osten Kongos, bekämpfte den einstigen Bündnispartner in Kinshasa. Der rief mit Chinas und Russlands Zutun Truppen aus Simbabwe, Namibia und dem Sudan zu Hilfe. Es war ein jahrelanger afrikanischer Weltkrieg um Macht und Bodenschätze, in dem Börsen-, Hightech- und Rüstungshaie die Strippen zogen. Die Millionen Toten, Traumatisierten, Vertriebenen, zwangsrekrutierten Kindersoldaten interessierten nur Hilfsorganisationen.

Der See liegt bleiern da; der köstliche Fisch schmeckt nicht mehr. Jean Baptiste blickt stumm auf die graublaue Wasseroberfläche. Mein Mund ist trocken, der Körper schweißgebadet. Wie schaffte es dieser aus der Gewalt Geborene, kein Racheengel geworden zu sein? Martern doch Dämonen, Angst, schwarze Magie einfache afrikanische Seelen. Er nimmt einen Schluck aus der Tonic-Dose, sagt nach einer Weile stockend: „Ist es nicht seltsam, dass mir der Tod meiner Mutter ein neues Leben geschenkt hat. Als das mit ihr geschehen ist, sind Leute von der Kirche gekommen und haben mich in eine katholische Missionsschule mitgenommen. Dort haben sie mir den Namen Jean Baptiste gegeben. Ich war sieben Jahre dort, weil ich ein guter Schüler gewesen bin und die Geschichten in der Bibel geliebt habe.“ Die Mission, diese historisch schuldige Komplizin von Händlern und Kolonialagenten, ist auch Trösterin; gibt trotz manipulativer Sozialisation auch Chancen. Jean Baptiste weiß zwar nichts von der jungen Kongolesin Kimpa Vita, die gegen die brutale Ausbeutung der belgischen Kolonialisten eine christliche Bewegung anführte und dafür auf Geheiß von Kapuzinermönchen am Scheiterhaufen endete, aber er hat Französisch und Englisch, Rechnen und Schreiben und einiges mehr gut gelernt.

Am Nachbartisch werden Mango-Mousse, Eisbecher, flambierte Bananen und Kaffee serviert. Ein aufmunternder Blick; er nickt. Wir bestellen Vanilleeis mit Schokocreme und die Mango-Delikatesse. Von den UN-Rekruten hallen Wortfetzen herüber. Da geht es um die Gegenwart der hiesigen Kivu-Provinz: Um den deutschen UN-Oberbefehlshaber Martin Kobler, der mit seinen 3000 Blauhelmen die proruandischen M23-Rebellen im Herbst 2013 mit einem resoluten Militärschlag aus Goma vertrieben hat. Die Tutsi-Kämpfer zogen sich in die Wälder zurück, liefern sich seither Scharmützel mit versprengten Trupps ihrer Hutu-Todfeinde und der kongolesischen Armee. Sie alle verdienen Unsummen mit illegalen Waffen-, Elfenbein-, Gold-, Mineralien-Deals. Die Schmuggelware wird häufig von Kids – nicht selten abgehalfterte Kindersoldaten – transportiert. Mein Gegenüber weiß das zu gut: Seine Wundmale stammen aus dieser Welt der Dealer und Banditen.

Über den Schluchten der bröckelnden Betonkästen, wellblechgedeckten Hütten donnern alte russische Antonows wie riesige Raubvögel hinweg. Jean Baptiste deutet nach oben, ruft: „Die versorgen alle: Minen, Rebellen, Touristencamps. Diese Piloten sind wilde Gesellen. Sie lieben Dollars, Wodka und Kalaschnikows. Wenn du falsche Fragen stellst, bekommst du – wenn du Glück hast wie ich – nur die Faust auf die Nase.“ Der Missionsschüler ist unter die Räuber gefallen. Wir rollen langsam an Outdoor-Näherinnen vorbei, an Bauchladen-Kids, die auch Benzin in Plastikflaschen verkaufen. Bei einem Borsalino-Sonnenbrille-Feschak-Freak raunt er: „Das ist der private Steuereintreiber unseres Viertels, dieser Halsabschneider.“ Ehe ich nachfragen kann, halten wir an einem Bretterverschlag mit Solarzelle und verschließbarer Alutüre: Hier wohnt der 16-Jährige. Der Raum, in dem es mehr als 40 Grad haben muss, gleicht einer Mönchszelle. Der einzige Luxus: Lampe, Laptop, Gaskocher und Ventilator.

Bei ruandischem Tee erzählt er, wie vor drei Jahren ein Zerwürfnis mit seinem Schulpater und die Begegnung mit einem Minenanwerber sein Leben schlagartig veränderten: Der eine rastete bei seiner Frage aus, warum die heilige Kirche die geflohenen Mörder des Genozids immer noch beschütze. Der andere versprach für Arbeit in den Minen gutes Geld und Aussicht auf ein Stipendium in Südafrika. „Bruce ist ein cooler Typ, kein Krimineller“, sagt der Teenager, der sich nach einer Vaterfigur sehnt, „er hat mir offen von den Gefahren und den Chancen dieses Jobs erzählt.“ Dieser Kontakt katapultierte den verwaisten Teenager 13-jährig in das Eldorado des Coltan-Schmuggels. Zeitpunkt und Umstände waren brisant: Seit die 2010 verhängten Obama-Laws den Handel mit „Blut-Mineralien“ verbieten, explodieren im Kongo die von einer afroasiatischen Achse forcierten „Alternativ-Deals“.

170.000 Minen, 400 Millionen Dollar

40 Prozent der milliardenschweren Coltan-, Zinn- und Mangan-Importe für Chinas expandierende Hightech-, Waffen- und Unterhaltungsindustrie stammen von kongolesischen Kleinmineuren; laufen über Kanäle in Ruanda, am Kap und in Dubai. Allein in der Provinz Kivu liegen – laut einem UN-Bericht – 170.000 Minen, aus denen jährlich Schmuggelgut im Wert von 400 Millionen Dollar über Goma außer Landes geschleust werden.

„Auf dem Mond muss es aussehen wie in der Mine: lauter Krater. Nur: Auf dem Mond buddeln keine Kinder mit bloßen Händen nach Erzen“, sagt Jean Baptiste. „Das Leben dort ist brutal. Es zählt nur, wie viel man abends von dem grauen Zeug im Plastiksack hat. Es ist den Wächtern egal, wenn wieder einer im ,Majimba‘, einem ungesicherten Schacht, erstickt ist. Du atmest giftige Chemikalien aus dem Schwemmwasser ein, das dir die Haut verätzt. Wenn du zusammenklappst, helfen vielleicht die Kumpel. Arzt gibt es keinen. Aber am ärgsten sind die Soldaten: Sie schlagen dich, drohen, nehmen dir alles weg.“ Noch ist mir nicht klar, welche Rolle Bruce in Jean Baptistes Minendrama zukommt: Anwerber, Beschützer, Ausbeuter, Mentor? Offiziell hat dessen Auftraggeber eine Forschungslizenz für eine Mine. Inoffiziell lässt auch dieser Konzern von Tausenden Schürfern abbauen und die Erze in 50-Kilo-Säcken von Menschenketten zu Fuß, auf Rädern, Eselkarren zu Buschpisten transportieren. Dort warten die Antonow-Piloten nach Goma, wo korrupte Beamte die Ausfuhrformalitäten erledigen. Die Profiteure im gesetzlosen Raum setzen auf verlässliches, versiertes Jungpersonal wie Jean Baptiste, das mit diesen Desperadojobs auf Geld und Aufstiegschancen in einer besseren Welt hofft.

Was haben diese dreieinhalb Jahre Malochen gebracht? Jean Baptiste lächelt zufrieden: „Mit dem Geld von einem Kilo Coltan kann ich zwei Jahre auf eine Technikschule gehen. Das und einiges mehr kann ich mir jetzt schon leisten. Aber ich will meinen Traum leben: Bergbaustudium in Johannesburg – bei Bruce, der meine Ersparnisse hütet.“ Geschieht Wundersames im höllischen Paradies? Hoffentlich. Erliegt der junge Held einem Phantom? Nein, bitte nicht. Viel Glück, Jean Baptiste Innocent. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.