Die Glassplitter im Joghurt

Entspannt euch! Doch der Tod ist tricky, er lauert um jede Ecke.

Octocrylene. C12–15 Alkyl Benzoate, Titanium Dioxide, Butyl Methoxydibenzolmethane, Stearyl Dimethicone, VP/Hexadecene Copolymer, Panthenol, Butyrospermium Parkii Butter, Acrylates/C10–30 Alkyl Acrylate Crosspolymer, Trimethoxycaprylysilane, Olea europea Fruit Extract...

Das ist jetzt keine Zeilenschinderei, das ist nur, was meine Frau mir soeben stotternd vorzulesen versucht hat, nachdem sie wieder einmal in der Zeitung etwas über krebsfördernde Beigaben in Sonnenschutzmitteln gelesen hatte und wissen wollte, ob das, was sie sich zugelegt hatte, sozusagen giftig war.

Schwer zu sagen. Natürlich finde auchich es richtig, dass auf allen Produkten angegeben wird, was sie enthalten, aber man kann, wie in diesem Fall, auch das Gefühl verordneter Ohnmacht haben, wie es mich bisweilen überkommt, wenn mir in dem bereits fliegenden Flugzeug nicht nur vorgeführt wird, wie man den Gürtel öffnet oder schließt, sondern auch, wie man die Sauerstoffmaske aufsetzen muss, während das Kind neben einem gerade ersäuft. Ähnlich ergeht es wohl auch dem sogenannten mündigen Patienten, der dem Arzt sagt, dass er nur mal eben beim Kollegen nachfragen geht, ob er die empfohlenen Pillen jetzt nehmen soll odervielleicht doch besser nicht – geschweige denn, ob er nicht doch besser ein paar Zentimeter Darm mehr rausschnippeln sollte. Ganz zu schweigen von den netten Politikern, denen ich mit meinem harmlosen Kreuzchen ins Amt geholfen habe und die sich jetzt ebenso überfordert fühlen wie ich mich, wenn ich denen bei ihrer Arbeit zusehe.

„Es muss kein Krebs sein“

Tatsächlich ist das Vertrauen, das uns im Alltag abverlangt wird, noch blinder als das vom Sonntag, wenn man in der Kirche sitzt. Ich muss davon ausgehen, dass die Bremsen funktionieren, wenn ich mich morgens ins Auto setze – oder sollte ich nach dem Frühstück immer erst in die Werkstatt, um überprüfen zu lassen, ob eh alles in Ordnung ist? Und zwar in eine andere Werkstatt als das letzte Mal. Ich muss mich darauf verlassen dürfen, dass ich zum Friseur gehen kann und mit beiden Ohren wieder herauskomme. Wenn ich in eine Wurst beiße, gehe ich davon aus, dass es Wurst ist und nicht etwa Sonnenschutzmittel mit krebsfördernden Beigaben. Oder ist das naiv? Sollte ich mir lieber klarmachen, dass ich damit rechnen muss, dass mir die Nase abfällt, wenn ich sie mit Nasencreme beschmiere? Dassein Verrückter E605 in die Marmelade getan hat, die ich nichts ahnend aus dem Regal im Supermarkt genommen habe? Oder Glassplitter ins Joghurt?? Oder, das Harmloseste vom Harmlosen, Trimethoxycaprylysilane???

Ob vielleicht die Dame, die da neben mir im Bus so auffällig in ihrer Tasche sucht und mich dabei ein bisschen verklemmt anlächelt, im nächsten Moment eine Pistole in der Hand hat? Oder ob der Autofahrer, der mir mit hoher Geschwindigkeit entgegenkommt, gleich auf meine Fahrbahn rüberwechselt? Ob im Apfel ein Wurm ist? Und im Wurm vielleicht ein krebsförderndes Mittel, das er gefressen hat, ohne zu wissen, was er tat? Weil es ihm vielleicht nicht schadet, mir aber der bloße Gedanke daran? Tatsächlich merke ich gerade, wie mir heiß wird und das kleine strapazierte Herz heftiger zu klopfen beginnt als eben noch. Die Katastrophe kommt ja in der Regel nicht als Tsunami oder Sintflut, sondern als unsichtbarer Virus oder verdrehtes Molekül, das sich von irgendwoher in mich hineinschleicht, ohne vorher anzuklopfen.

Entspannt euch, Freunde. Es ist zwar wahr: Der Tod ist tricky, und er lauert um jede Ecke. Aber es muss nicht sein, nicht gleich. Wie sagte mein Arztfreund bei jedem Pickel? „Es muss kein Krebs sein.“ Aber es könnte. Und zwar immer. Also vergesst es. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2014)

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