Ach, Sie sind? Die EU

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Ach, Sie sind? Die EUReuters
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Leere Begriffe, Tendenzen zu einem neuen Zentralismus, Identitätsterror, Einheitskrampf, Regulierungswahn. Alles nur Missverständnisse? Wir wollen ja positiv bleiben. Dennoch: Warum wir uns schwerer denn je tun, mit der EU per Du zu sein.

Was ist Europa? Ein geografischer Ort? Ein geistig-kultureller Raum? Ein unentwirrbares Völkergemisch? Was ist die EU? Ein Konstrukt? Eine Supranation? Eine lose Staatenverbindung? Eine Seifenblase? – Bereits 1987 hat der französische Philosoph Edgar Morin die Ambiguität und Zwiespältigkeit Europas folgendermaßen beschrieben: „So bedeutet Europazwar Recht, aber auch Gewalt, zwar Demokratie, aber auch Unterdrückung, zwar Spiritualität, aber auch Materialität, zwar Mäßigung, aber auch Maßlosigkeit; steht es auch für Vernunft, so bleibt es doch dem Mythos verhaftet. Europa ist ein ungenauer Begriff, es bezeichnet etwas, was aus einem Tohuwabohu entstanden ist, keine festen Grenzen hat, Verschiebungen, Brüche und Wandlungen erfahren hat.“

Dass Europa Toleranz, Freiheit, Solidarität und Humanismus ebenso hervorgebracht hat wie Barbarei, Gewalt, Totalitarismus und Imperialismus, bedarf angesichts der reichhaltigen und blutigen Geschichte des Kontinents keines besonderen Aufweises. Schon die britischen Revolutionen, vor allem aber auch die Französische Revolution haben ihre Ideale gründlich verraten, und das 20. Jahrhundert ist voll von verbrecherischen Ideologien, wie dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus. – Folgt man der griechischen Mythologie, so ist bereits der Ursprung des Kontinents Europa mit Gewalt verbunden. Zeus, den die phönizische Königstochter mit ihren Liebreizen erregt hatte und der zugleich die stets eifersüchtige Hera fürchtete, verwandelte sich in einen Stier, dessen Sanftmut und Schönheit die Königstochter dazu verführten, sich ihm zu nähern, ihn zu füttern und zu liebkosen und sich schließlich auf seinen Rücken zu schwingen. Der Sage nach schwamm der Stier mit Europa auf seinem Rücken durch das Mittelmeer, um sie schließlich nach Kreta zu bringen. Dort gebar sie ihm drei Söhne, und ihr erzürnter Vater, der ihre Brüder ausgesandt hatte, um sie zu finden, musste erfahren, dass die Suche nach ihr vergeblich blieb. Die deutsche Historikerin Annette Kuhn sieht darin eine Bestrafung des Göttervaters für die Verstellung, da sich Europa von ihm abwandte. „Liebe, so lautet die einfache Botschaft“ nach Kuhn, „kann nicht erzwungen werden. Da helfen alle männlichen Verwandlungs- und Verstellungskünste nicht weiter.“

Wie steht es nun mit unserer Liebe zu Europa? Immerhin prägt diese Sagengestalt nicht allein die griechische Zwei-Euro-Münze, sondern ist auch eines der holografischen Wasserzeichen des Fünf-Euro-Scheines. Man könnte darin ein Symbol dafür sehen, dass sich die EU, die zwar von Anbeginn an als Montanunion ein Wirtschaftsbund gewesen ist, inzwischen immer mehr dem „Terror der Ökonomie“ (Viviane Forrester) verschrieben hat. Europa hat, wie seinerzeit Kardinal König einklagte, seine Seele noch nicht gefunden. Und das „Europa von unten“, das zum Beispiel im jüngst von Daniel Cohn-Bendit und Ulrich Beck initiierten „Manifest für Europa“ eingefordert und unter anderen auch von Jürgen Habermas mitgetragen wurde, scheint in weite Ferne gerückt.

Sogar durchaus wirtschaftsfreundliche Medien,wie etwa die „Financial Times“ oder der „Economist“,bescheinigen den „Gipfelsitzungen“ der Europäischen Kommission eher den Charakter von Verwaltungs- und Aufsichtsratssitzungen und scheuen nicht vor der Frage zurück, wozu Europa nütze wäre, wenn es sich als Kopie der USA erwiese.

Wenn man den Nebel politischer Rhetorik verscheucht, bleibt die Leitkultur des gemeinsamen Marktes für die EU maßgeblich. Der österreichische Philosoph Rudolf Burger hat dies sehr klar und illusionslos beschrieben: „Das Ziel der europäischen Vereinigung ist nicht die Renaissance eines christlichen Abendlandes oder einer anderen spirituellen oder intellektuellen Tradition, auch nicht dasSchaffen einer gemeinsamen Nation oder eines gemeinsamen Staates, ebenso wenig eine Revitalisierung kultureller, regionaler Strukturen. Das Ziel ist einfach die Etablierung eines homogenen Marktes, der für seine Mitglieder hinsichtlich der Arbeit, der Produkte, des Kapitals und der Dienstleistungen offen ist.“

Die Entstehung der EU hat nichts oder kaum mehr etwas mit den kulturellen und intellektuellen Traditionen zu tun, aus denen Europa sich ursprünglich entfaltet hat: das griechische Denken, das römische Recht und die aus dem Christentum herrührende Hoffnung auf das Heil.

Darin liegt ein Teil des Unbehagens und der Skepsis gegenüber der Entwicklung der EU. Man muss nicht das sogenannte Eurobarometer bemühen, um die immer größer werdende Skepsis und Ernüchterung zu orten, die sich in fast allen Ländern der EU verbreitet. Das Agieren der Europäischen Kommission, die Diskrepanz zwischen der sogenannte europäische Werte beschwörenden Rhetorik, dem halbherzigen politischen Handeln etwa angesichts der Ukraine-Krise und den erst mühsam zustande gekommenen Wirtschaftssanktionen zeigen erneut, dass der Markt und die wirtschaftlichen Interessen weit über politischen, sozialen und vor allem geistigen Konzepten Europas stehen. Ein zugegeben polemisches Beispiel ist die anlässlich des Besuches von Präsident Putin zum Ausdruck gekommene Liebedienerei österreichischer Politiker und Wirtschaftstreibender. Randständige Lächerlichkeiten, wie der Olivenölerlass, die sich inzwischen als „umweltbedenklich“ hervortuende Energiesparlampe und Sprachregelungen wie etwa bei Marmelade, lassen den Eindruck entstehen, dass sich die EU lieber mit Kulturnivellierungen als mit wesentlichen Problemen beschäftigt.

Einige Beobachter scheuen nicht vor demVergleich mit der zerfallenden Habsburgermonarchie zurück, in der Bürokratie, politische Schwäche und mangelnde Entschlusskraft vorherrschten. Man ist versucht, in diesem Zusammenhang Franz Grillparzer zu zitieren: „Das ist der Fluch von unserm edeln Haus: / Auf halben Wegen und zu halber Tat /mit halben Mitteln zauderhaft zu streben.“

Selbstverständlich wäre es überzogen, dieKonzentration auf den Homo oeconomicus allein der EU anzulasten. Die unheilige Trias von Hightech, Ökonomie und Zentralismus hat alle unsere Lebensbereiche erfasst und durchdrungen. Das Gefühl der Entmündigung, der Gleichmacherei und der Entindividualisierung machen es schwer, sich mit einem zunehmend zum Moloch gewordenen Europa zu identifizieren.

Wie soll man sich überhaupt mit Millionen Konsumenten – und die stehen ja im Mittelpunkt – identifizieren können? Das Problem der Identitätsfindung ist ja nicht erst seit dem populärphilosophischen Buch Richard David Prechts, „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“, virulent geworden. Die Frage nach der Identität stellt sich bekanntlich auf vielerlei Ebenen: von der personalen über die soziale, zeitliche und räumliche. Mit Recht hat Anthony Giddens die moderne Identität als ein reflexives Projekt bezeichnet, welches sich in der Vielfalt der Rollen im zunehmend rasant gewordenen Mobilitätscharakter im Beruf, in Beziehungen und in der Zugehörigkeit zu verschiedenen Lebensbereichen zeigt.

Beschleunigung und Individualisierung führen immer mehr zu einer Patchwork-Identität, wobei die Einheit in der Vielfalt das immer angestrebte, aber selten erreichte Ziel darstellt. Die personale Identität, das Problemder Einheit des Selbst, ist eine traditionelle philosophische Frage, die, wie Axel Honneth sich ausdrückte, zu einer Schlacht um das Selbst führen kann. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die kollektiven Selbstbestimmungsprozesse „Wer sind wir?“ und die Identitätskategorien variabel sind: „Wir Katholiken“, „Wir Frauen“, „Wir Naturschützer“, „Wir Arbeitslose“, „Wir Fußballanhänger“ – die Liste lässt sich fortsetzen.

Ähnliches gilt für eine Identitätsfindung in Hinblick auf Dörfer, Städte, Staaten oder Kontinente. Und hier tut sich das Problem auf, wie eine Identifikation mit Europa möglich sein kann, die nicht nur auf die Herkunft geografischer Art Bezug nimmt, sondern auf ein Europäertum, das in weiter Ferne zu liegen scheint. Ist es vorstellbar, dass ein Kopenhagener von „unserem“ Neapel, ein Wiener von „unserem“ Göteborg sprechen wird? Hier verschlingen sich gerade in Hinblick auf die Identität verschiedenste Motive.

Vom überaus vielschichtigen und schwerzu definierenden Begriff der Heimat bis zu demjenigen der Regionoder Nation spielen Herkunfts-, Traditions- und auch Gedächtniselemente eine wesentliche Rolle. Der durch die Blut-und-Boden-Ideologie des Nationalsozialismus, durchdie ethnischen Auseinandersetzungen, wie sie noch immer besonders auf dem Balkan virulent sind, oft diskreditierte Begriff der Heimat erlebt zurzeit auch eine Art Renaissance. Dies hat nicht zuletzt mit dem immer mehr um sich greifenden Unbehagen an der Moderne zu tun. Der Einheitsgedanke der Moderne – Einheitstechnik, Einheitspolitik, Einheitsvernunft – ist im postmodernen Zeitalter einem Bekenntnis zur Vielfalt, zur Differenz, zur Andersheit gewichen. Manche Autoren, etwa Richard Rorty, sprechen von einem Identitätsterror und plädieren für eine Überwindung des Einheitszwanges, für ein multiples Selbst, für die besagte Patchwork-Identität. Kehrseite dieser Tendenzen ist allerdings eine zunehmende Orientierungslosigkeit, Verwirrung und Unüberschaubarkeit. Zusammen mit den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie wird die Sehnsucht nach einem überschaubaren Raum, einer Verwurzelung, die sich nur in kleinen Einheiten realisieren lässt, immer lauter. Die „Small is beautiful“-These, wie sie von Leopold Kohr propagiert wurde, offenbart sich hier als eine Art anthropologischer Konstante, die in der Sehnsucht nach Überschaubarkeit, nach Geborgenheit und Sicherheit ihren Ausdruck findet.

Wenn man unter Heimat eine räumlich-soziale Einheit mittlerer Reichweite versteht, gilt es jedoch, sich vor der Vorstellung einer territorialen Idylle zu hüten. Heimat als Herkunftsnachweis ließe sich auch neurobiologisch untermauern und begründen. Heimat ist aus dieser Perspektive im Gehirn jedes Menschen präsent und hat eine ganz besondere Verbindung mit dem, was man das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis genannt hat. Neben der Raum- und Zeitdimension sind es gerade der soziale und der kulturelle Bereich, die eine besondere Rolle spielen.

Gerade hier bleibt der Gegenbegriff des Fremden für die Identitätsfindung entscheidend. Die Identifikation, das Eigene, das Selbst – dies kann nur in Abgrenzung vom Differenten, vom anderen gefunden werden. Das Fremde, das im Gegensatz zum Eigenen, Vertrauten auch das Unheimliche sein kann, scheint in unserer genetischen Struktur eingeprägt. Der Horror allieni, der sich schon im Phänomen des Fremdelns beim Kleinkind meldet, kann auf eine sehr ambivalente Art die Selbstfindung ermöglichen. Die Ambivalenz, die sich hier zeigt, kann sowohl im Satz „Ich bin nicht der andere“ zum Ausdruck kommen wie auch in Arthur Rimbauds berühmtem Zitat „Ich ist ein anderer“. Gerade seit die Postmoderne die Differenz und das andere im Gegenzug zur Ichbezogenheit, zum Selbst der Moderne entdeckt hat, spielt diese Andersheit auch in Hinblick auf die Selbstfindung eine entscheidende Rolle.

In der Anerkennungder Differenz liegt übrigens auch die positive Seite der eigenen Selbstfindung, so wie sie Hans-Georg Gadamer auch mit Blick auf Europa gefordert hat: „Mit dem anderen leben, als der andere leben: Diese menschliche Grundaufgabe gilt im kleinsten wie auch im größten Maßstab.“

Natürlich kann die Begegnung mit dem anderen, mit dem Fremden auch zu einer Ausgrenzung führen, die im schlimmsten Fall die Vernichtung des anderen anstrebt. Der andere als der, der meine Interessen, meinen Lebensraum, meine Überzeugungen zu bedrohen scheint, kann zu einem Feindbild stilisiert werden und in Anlehnung an die Hegelsche Herr-Knecht-Dialektik einen Kampf auf Leben und Tod einleiten. So verständlich angesichts der uns überfordernden Globalisierungstendenzen der Rückbezug auf Heimat, auf eine überschaubare Lebenswelt erscheinen mag, so gefährlich wird dies, wenn Heimat als Rückzug in eine heile Welt, die es nie gegeben hat, gedeutet wird. Heimat, so der Popmusiker Herbert Grönemeyer, ist kein Ort, sondern ein Gefühl. Wenn Heimat mit verkitschter Folklore, Borniertheit und Engstirnigkeit verbunden wird, wennsie sich als Abwehrmittel gegen das Fremde versteht, ist sie im Grund genommen nicht mehr Heimat, sondern verkrampfter Weg zu einer missverstandenen Identitätsfindung. – Dieses Identitätsstreben, es lässt sich auch in einem übergeordneten Begriff der Heimat konstatieren: in der Tendenz zum Regionalismus.Im Gegensatz zum meist emotional belasteten Begriff der Heimat kann die Region eine zwischen Heimat und dem nebulosen Begriff der Nation angesiedelte Zwischenstufe der Identitätsfindung darstellen. Nun ist vonseiten der EU das „Europa der Regionen“ schon seit Längerem propagiert worden.

Allerdings sind die damit verbundenen Forderungen – Dezentralisierung, Bürgernähe, Subsidiarität – eher leere Begriffe geblieben. Selbst ein durchaus glühender Europäer wie Franz Fischler merkt in diesem Zusammenhang an, dass innerhalb der EU die Schwachstelle in Hinblick auf die Spannung zwischen Zentralismus und Dezentralisierung bestehen bleibt. Fischler spricht sogar von einer Ratlosigkeit bezüglich der Strukturen der EU in der Zukunft. Das vielfach beschworene „Europa der Regionen“ ist bisher kaum auf Resonanz gestoßen, eher zeigt die EU Tendenzen zu einem neuenZentralismus.

Der inzwischen entstandene Regionalismus bedeutet keineswegs einen Aufstand derProvinz, sondern ein neu erwachendes Bewusstsein nationenübergreifender gemeinsamer Identitäten. Die regionalistischen Bewegungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, die sich von eher harmlosen überregionalen Arbeitsgemeinschaften (Alpe-Adria, Aostatal, Donauraum-Strategien und -kooperationen) bis hin zu separatistischen Bestrebungen erstrecken (von den Flamen in Belgien über die Katalanen in Spanien, die Schotten in Großbritannien, die Korsen, aber auch die Kroaten, Bosnier und Serben),bilden ein Gegengewicht zu den Nationalstaaten und können abseits der Gefahr einesregionalen Egoismus ein wichtiges Instrumentarium sowohl gegen den Nationalstaat wie auch gegenüber der EU darstellen. Die Identifikation mit einer Region ist von Überregulierungen weniger betroffen, als dies auf nationalstaatlicher oder gesamteuropäischer Ebene der Fall ist.

Darüber hinaus ist der Regionalismus, wie ihn Hermann Lübbe charakterisiert, auch eine Antwort auf die Beschleunigung unserer Lebenswelt und stellt ein Resultat unserer singulären Herkunftsgeschichten und unserer damit verbundenen kulturellen Identität dar. Lübbe vertritt hier ein Prinzip, dem durchaus ein Gegengewicht zur Vereinheitlichung zugesprochen werden kann: „So viel Gemeinsamkeit aus Anerkennung von Ansprüchen universeller Geltung wie nötig; so viel Verschiedenheit kraft kontingenter Herkunftsgeschichten wie möglich.“ Darin lässt sich der Regionalismus als Bewegungdes Widerstandes gegen einen politischen Homogenitätsdruck verstehen,der nicht zuletzt auf nationalistisch geprägte Traditionen zurückgeht und, wie es scheint, relativ ungefragt von der europäischen Gemeinschaft übernommen wurde. Im Regionalismus würde dasRecht auf Andersheit eher gewahrt bleiben als in einer doch eher beschränkten Heimatideologie oder einer sich immer mehr der Homogenisierung und Vereinheitlichung annähernden EU.

Die in jüngster Zeit immer wieder beschworene Gefahr des Nationalismus als Bedrohung des paneuropäischen Gedankens muss differenziert gesehen werden. Nationale Identität und Nationalismus fallen nicht immer zusammen. Während für die nationale Identität die „Kultur der Erinnerung“ (Jan Assmann) entscheidend ist, hat der Nationalismus durch sein Loyalitätsmonopol eine kämpferische und dogmatische Schlagseite. Zwar sind nationalistische Tendenzen, anders als im 19. Jahrhundert, auch Abwehrmechanismen gegenüber der Supranationalität der EU, aber von der Identitätsfindung via Nation geht auch gleichzeitig eine Fülle von nicht zu übersehenden Gefahren aus: Wenn Nationalismus darauf gründet, ein Wertgefälle über kulturelle, soziale und individuelle Herkunft herzustellen – oder anders gesagt: andere Nationalitäten auszugrenzen –, gilt es, diesem exklusiven Nationalismus eine Absage zu erteilen. Der symbolische Raum einer Nation abersollte gewahrt bleiben.

Europa lebt von seiner kulturellen, religiösen und historischen Vielfalt. Europas Chance liegt im Bewahren seiner Vielfalt aufgrund von Anerkennung. Hierzu ist es dringend notwendig, das Eigene in Anerkennung des fremden Eigenen zu gestalten. Integration darf nicht im Sinne einer Aufhebung oder gar Auslöschung dieser Vielfalt betrieben werden, sondern muss als Inklusion im Sinne einer Bereicherung und Befruchtung aller verstanden werden. Gadamers Appell, mit den anderen zu leben, auch wenn die anderen anders sind, will eine zu meidende Andersheit durch eine einladende Andersheit ersetzen.

Europa bedarf einer Seele, es bedarf einerIdentität, die getragen ist von europäischem Gedankengut, den bereits genannten geistigen Qualitäten von Humanismus und Aufklärung. In politischem Sinn kann Europa sich nur als eine Absage an den Nationalismus verstehen. In geistig-kulturellem und sozialem Sinn aber muss es sich als Bewahrerin der Vielfalt unterschiedlichster Lebenskonzepte und -entwürfe begreifen, die sich zuständig dafür sieht, dieser Diversität den Raum zu deren Entfaltung zu eröffnen. Nur durch eine solche Identität in der Vielfalt kann Europa zu einer Heimat werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2014)

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