Mein Name ist Weill

„Im Zug, im Transalpin, waren sie einander bei der einen und anderen Flasche Wein rasch nähergekommen. Von Zürich nach Wien, die Fahrt geht lang.“ Aus dem Roman „Die Globalisten“.

Der Mann war ihm gleich beim Einsteigen ungut aufgefallen! Irgendwie sah der nicht aus wie einer, der Erster Klasse reist. Jetzt, da der Zug schon dem Österreichischen zustrebte, war das Missfallen Weills wieder verflogen, mit eben jener satten Hausherrenmiene, die er in Zürich, bei seiner Regula, angenommen hatte, saß er in die Polster des Abteils gelehnt und ließ den Blick zum Fenster hinausschweifen. Wie imposant sind doch die Berge des Glarner Landes! Über den Walensee weg, der linker Hand in der Tiefe schimmerte, schaute er zu den putzigen Gipfeln des Appenzell hinüber – was ist meine Schweizer Heimat nicht schön, dachte er.
Der forthuschende Anblick des heimatlichen Gewässers brachte ihm Wallauschek in den Sinn. Hat der nicht gesagt, dass sie sich zur Arbeit an irgendeinen See, in ein Haus dort zurückziehen wollten? Da wird bestimmt schon fest gewerkt.
Die Vorstellung, dass er bequem im Zug saß, während sie dort, im fernen Salzkammergut, ja, so hatte das wohl geheißen, derweil ein Meisterwerk schufen, etwas Großes, Epochemachendes – und das mit seinem Geld, ließ Weill kurz erschaudern: Nun, er, er war ja bloß ein simpler Geschäftsmann, ein Händler, einer, der rechnet und schachert – und doch: Ohne ihn und sein Kapital würden die Puppen nicht tanzen, würde nichts entstehen, vielleicht nicht einmal etwas sein? Vor seinem inneren Auge erstand für einen einzigen Moment, doch wie köstlich war der, das Bild jener grauen, eisigen, vorzeitlichen Wasser, aus denen sich, aufgerufen durch göttlichen Befehl, mit einem Mal die Berge und Kontinente erhoben hatten.
Komödie des Lebens? Hatte Wallauschek nicht so gesagt? Komödie der Welt? Als Titel war Letzteres vielleicht doch noch etwas eingängiger, anspruchsvoller? Wie er so hin und her überlegte, überkam ihn plötzlich ein Hungergefühl, ein kleiner Hunger nur. Ein Glas Wein würde gut passen. Oder doch eher eine Stange Bier? Ein Pils vielleicht? Mal sehen, was der Speisewagen so hergab! Wenig später saß Weill eben dort, komfortabel an seinem Tischchen mit der kleinen Lampe, die schon entzündet war, weil der Abend draußen weich und federnd, aber doch unmissverständlich herabzusinken begann, da fiel sein Blick auf einen Mann, der sich schräg gegenüber niedergelassen hatte, bloß ein paar Tische weiter . . .
War das nicht der Kerl, der ihm schon beim Einsteigen aufgefallen war? Ein kleiner, etwas mickriger Typ im Jeansanzug, verknittertes, verlebtes Gesicht, dazu eine Frisur wie Max aus der Geschichte von Max und Moritz, ein einzelnes, fahlblondes Haarbüschel, das von seinem Schädel steil nach oben stand? Eben rauchte er sich eine mächtige Zigarre an.
Die Entdeckung dieses Menschen war Weill doppelt unangenehm und störend, war er doch gerade in Überlegungen ganz anderer Art verstrickt gewesen.
Sie ist ja eine Gute, meine Regula, hatte er beim sorgsamen Zerteilen seines Lachsbrötchens gedacht, ehe er den Bissen dann mit der Gabel zum Mund führte: Hat sich prächtig gehalten, körperlich, meine ich. Aber, wie soll ich sagen, geistig, der ganzen Stimmung und dem Horizont nach, wird sie doch immer kleinkarierter, immer mehr zum Hausmütterchen.
Hat keinen Schwung, keinen Pfiff, keinen Pfeffer. Da kann ich noch so viel Geld in sie reinbuttern, für ihren Lebenswandel verpulvern! Es bleibt sich ja doch immer gleich, wird alles bloß immer biederer und öder.
Nicht einmal zu fragen hat sie sich getraut, als sie, blöder Zufall, die Fotos dieser Weiber in meiner Brieftasche entdeckt hat!
Ob ich Regula doch einmal stehen lasse? Soll ich ihr langsam den Hahn zudrehen?
Um sich abzulenken, zog Weill seine Brieftasche hervor und breitete zwischen seinem Weinglas und dem Teller mit dem Lachsbrötchen die gewissen Fotos aus.
Wie hat sie nur geheißen? Geiles Stück, das. Und die Rothaarige . . . aus Bulgarien? Hier war Elena, eine Russin, aus Tschelabinsk. Sarah . . . was die vielleicht gelenkig war! Da war Layla, vom Escort in Istanbul.
Die, die hat mir doch wirklich . . . ein Lächeln überzog Weills Gesicht, in seliger, machtbewusster Erinnerung.
Eben als er die Fotos wieder verräumte, war sein Blick auf den Typ gefallen. Der winkte gerade dem Kellner und bestellte. Kurz darauf brachte der ihm eine Flasche Wein, eine ganze Flasche, im Kühler.
Kann so arm nicht sein. Nicht so popelig jedenfalls, wie er aussieht.
Soll ich noch eins trinken?
Weill bestellte ein zweites Glas.
Als der Kellner das Gewünschte brachte, sagte er mit der leisen, beflissenen Art solcher Leute: „Der Herr dort vorn, er reist auch allein. Er lässt fragen, ob er Ihnen nicht ein wenig Gesellschaft leisten darf?“
„Aber gern“, antwortete Weill, zog aber dabei doch überrascht und etwas pikiert die Augenbrauen in die Höhe.
Jetzt kam der Typ lächelnd herüber, gefolgt vom Kellner, der ihm sein Glas und die Flasche im Kühler nachtrug.
Was hab' ich nicht schon für Bekanntschaften gemacht, die allerverrücktesten, und gerade auf Reisen? Wer weiß, was mit dem Typen los ist?
„Hallo“, sagte Weill neutral und erhob sich etwas von seinem Sitz.
„Pierre Dedjakov, sehr angenehm!“, erwiderte der andere, mit starkem, osteuropäischem Akzent, wie Weill gleich auffiel, mit angedeuteter Verbeugung rückte er seinen Stuhl zurecht, steckte die Zigarre, die schon halb aufgeraucht war, zwischen die Lippen und zog, ehe er sich setzte, die Knie seiner Jeans nach oben, gerade so, als trüge er einen teuren Anzug.
„Mein Name ist Weill, Adolphe Weill“, stellte Weill sich vor, ein wenig war er doch auch amüsiert über sich selbst: Auf was, mein Alter, lässt du dich da nur wieder ein?!
„Wo geht die Reise denn hin, wenn man fragen darf?“
„Nach Wien.“

Das Treffen fand im Café Imperial statt, wir kennen das Ambiente bereits. Weill hatte ein Faible für diesen Ort, hob er doch mit seiner Eleganz jedes Zusammensein sofort auf eine gleichsam offizielle Ebene, und war dabei doch bequem und wohnlich, gemütlich eben, wie die Wiener das nennen.
Weill spielte auch diesmal den Kenner, den Eingeweihten, und erläuterte Dedjakov die verschiedenen Kaffeesorten, die gereicht wurden, ihre Unterschiede, ihre Vorzüge.
„Sehen Sie, eine Melange und ein Verlängerter, das sind ganz verschiedene Welten, man möchte es nicht glauben“, erklärte er gewichtig, „und was macht den Unterschied aus, was nur in drei Teufels Namen, werden Sie fragen?“
Wortreich und kurzweilig klärte er die Sache auf, er ließ es sich auch nicht nehmen, Dedjakov bei der Wahl am Kuchenbüfett ausführlich zu beraten.
„Sie würden mir also den Gugelhupf empfehlen“, fragte Dedjakov artig, „Gugelhupf, was für ein komisches Wort.“
Aus deinem Mund hört sich's ja wirklich zu komisch an, dachte Weill, wo bist denn du nur ausgekommen, Bursche?! Aber natürlich ließ er sich von derlei Nebengedanken nichts anmerken.
Im Zug, im Transalpin, waren sie einander bei der einen und anderen Flasche Wein rasch nähergekommen. Von Zürich nach Wien, die Fahrt geht lang. Nähergekommen – das war vielleicht nicht ganz der richtige Ausdruck: Über dies und jenes hatte man sich unterhalten, über die Verhältnisse in den europäischen Zügen, die Lage im Allgemeinen, über Politik und Konjunktur und dergleichen. Später war man ins Anekdotische abgeglitten.
Mag sein, dass ich ein bisschen gar zu viel geredet habe, dachte Weill. Was haben wir nicht gelacht! Am Westbahnhof hat Dedjakov sich mit ausgesuchter Höflichkeit von mir verabschiedet. Er hat sich sogar erboten, mir den Koffer zu tragen. Das hatte Weill dann wieder beruhigt, das heißt, es hatte die leisen Selbstzweifel ausgelöscht, die beim Rekapitulieren der langen Fahrt und der Unterhaltung mit diesem Dahergelaufenen, mit diesem Parvenu, in der Früh, im Bad, beim Rasieren und Zähneputzen doch kurz aufgeflammt waren.
Er hat ja dann unbedingt etwas abmachen wollen, erinnerte sich Weill, nun gut, weshalb auch nicht?
„Und Sie, Sie stammen aus Sankt Petersburg? Wie interessant! Eine prächtige Stadt! Leider war ich noch nie dort, kenne es nur vom Hörensagen.“
„Tatsächlich?“
„Ja, leider.“
Weill rührte seinen Kaffee um.
„Sankt Petersburg“, erklärte Dedjakov, „das ist ein Geschenk und ein Schicksal zugleich. Wir haben die Transformation der Gesellschaft erlebt und überleben müssen. Den Kommunismus. Sie verstehen? Das hat schreckliche, wie soll ich sagen, das hat gewaltige Umwälzungen für unsere Stadt und unser Vaterland mit sich gebracht.“
„Gerade als Schweizer, wir sind ja die dienstälteste Demokratie der Welt, kann ich mir gut ausmalen, wie schwer, wie unendlich schwierig es war, sich richtig einzustellen, sich zu verhalten, den besten, nun, den optimalen Weg zu finden und auch einzuschlagen. – Sie sind doch Geschäftsmann, nicht wahr?“, schoss Weill da seinen gut vorbereiteten Pfeil ab. Nach außen hin tat er es mit der treuherzigen Miene eines Knaben, der sich bei einem Kameraden erkundigt, wo der denn wohnt.
„Bestimmt nicht in dem Sinn, wie Sie, Herr Weill, sich als Geschäftsmann, ja wie soll ich schon sagen: als Unternehmer fühlen dürfen“, erwiderte Dedjakov, um dann, für Weill kam es etwas überraschend, recht geschmeidig fortzufahren: „Was für ein interessanter Mensch, hab' ich mir gleich gedacht, schon im Zug, als ich Sie kennenlernen durfte. Da bin ich doch von kleinerem Kaliber. Man muss einfach Äpfel und Birnen auseinanderhalten. So sagt man doch, nicht wahr?“
Ja, so sagt man, Schlaumeier, kam es Weill ein wenig ingrimmig bei, und er schaute streng, wenn schon nicht blasiert, direkt in Dedjakovs lächelndes Gesicht. Hier, im Rahmen des Cafés, wirkte es etwas verwegen, fast brutal und doch wieder, wie soll man es nur ausdrücken, ziemlich naiv. Ja, brutal und naiv zugleich.
Während Dedjakov sich über Schwierigkeiten und Probleme des Alltagslebens in Russland erging, etwa über die tollen Sprünge der Valutenkurse und des Goldpreises, studierte Weill unauffällig, aber eindringlich seine Züge, mit kurzen Seitenblicken die ganze Erscheinung.
Heute ist er wenigstens gut rasiert! Die Narben auf den Händen, wo er die wohl her hat? Arbeiterhände. Keine Maniküre. Aber teure Manschettenknöpfe. Das Hemd allein hat gut und gern zweihundert Euro gekostet! Der Anzug? Na, das war eher bescheiden. Ein besserer Jutesack. Aber, immerhin, was den Schnitt anlangt, nicht unpfiffig. Wahrscheinlich haben sie ihn von irgendeinem Pariser Modehaus abgekupfert, man kennt das ja aus dem Osten . . .
„Was führt Sie denn nach Wien? Ich meine, die Stadt ist schön, ist großartig . . .“ Dedjakov war im Gespräch weitergegangen, leicht und obenhin hatte er seine Frage gestellt.
„Was machen denn Sie hier?“, fragte Weill schroff zurück.
„Aber ich sag's doch eben“, erwiderte Dedjakov mit einem Lächeln, das sich unterwürfig und bescheiden ausnahm, „die Stadt ist schön, hat Charme, hat Geist. Wien ist eine Perle der Kunst und Kultur! Als Russe, Sie verstehen, ist man begierig, man ist ausgehungert, man sehnt sich nach Komfort, nach dem Schönen und Erhebenden . . .“
„Das kann ich Ihnen nachfühlen“, unterbrach Weill verständnisinnig, wohl auch im Bestreben, seine Grobheit von vorhin rasch wieder auszuglätten. Da Dedjakov schwieg, setzte er launig fort: „Ein paar kleinere Sachen hab' ich hier doch abzumachen. Sie wissen ja, wie das geht. Ein Termin ergibt den nächsten, eins schlüpft aus dem anderen aus. Aber dann, dann geht's ab in den Urlaub. Das heißt, einen richtigen Urlaub, so etwas kennt unsereiner ja nicht.“
„Wo soll's denn hingehen, wenn ich fragen darf?“
„An den Grundlsee. So heißt das dort. Ich bin zu Gast bei Bekannten. Es soll ein wunderschönes Haus sein, am See gelegen, wunderschön! Mitten in Wald und Berg. So recht gemacht, sich etwas zu verschnaufen und zu erholen.“
„Toll!“
Bei aller Offenherzigkeit und einer sich anbahnenden Vertrautheit, Weill hielt es doch für klüger, das Geheimnis des Schöpferischen, das große Projekt, das ihn ins Salzkammergut führen würde, eher für sich zu behalten. Sollte er dem Kerl vielleicht alles auf die Nase binden? Und er strahlte Dedjakov mit seinem ehrlichsten Lächeln an. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2014)

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