Hände auf die Bettdecke!

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Reißverschluss auf, Reißverschluss zu. Auge auf, Auge zu. Langsam rinnt das Blut in die Kanüle. Im Wind flattern die Dollarscheine. Unterwegs in New York.

1.
Am Sonntag der Göttlichen Barmherzigkeit, als in den amerikanischen Zeitungen berichtet wurde, dass in Rom die beiden Päpste Johannes Paul II. und Johannes XXIII., der Papst meiner Kindheit, heiliggesprochen wurden, stand ich in New York im Museum of Modern Art vor einer in einem Glaskasten ausgestellten kleinen Skulptur von Marcel Jean, einem schwarzen Kopf mit Reißverschlüssen über den Augäpfeln, die man, sostelle ich es mir vor, wenn die Bilderfolge beginnt, öffnen und, wenn der Film endet, schließen kann. Um den Hals der Skulptur ist ein an beiden Rändern gelöcherter Filmstreifen gewickelt, der meinen Film zum Laufen bringt. Kaum habe ich den linken Reißverschluss unter den Augenbrauen geöffnet, beginnen die körnigen, farbigen Filmbilder zu zucken, taucht zuallererst der bereits schwer kranke, mit seiner Tiara, der die Dreifaltigkeit symbolisierenden Papstkrone, auf einer Sänfte sitzende Papst Johannes XXIII. auf, der über den Petersplatz getragen wird. Kurze Zeit später, nachdem ich die Meldung im Radio höre, dem ersten Radio,das wir bekommen haben, von Tante und Onkel, den Besitzern der Konditorei Rabitsch am Neuen Platz in Klagenfurt, laufe ich über die sechzehnstufige Stiege meines Elternhauses, öffne die Tür des Zimmers, aus dem der Großvater zwei Jahre zuvorherausgestorben ist, stelle mich heftig schnaufend vor das Bett meiner Großmutter und sage aufgeregt: „Oma! Da Popst is gstorbn!“ „Mein Gott na, mein Gott na!“, jammert die dicke, fast neunzigjährige Frau. Ein paar Monate später ist auch meine Großmutter tot.


2.
Ich schließe den Reißverschluss über dem linken Augapfel der kleinen schwarzen Büstevon Marcel Jean, öffne den anderen, rechten, und sehe im weiterlaufenden Film in der Abenddämmerung den jungen Julien Green in seinem Bett liegen. Nach dem Bildschnitt, in der weiteren Bilderfolge, sehe ich eine im Gänsemarsch durch die Straßen New Yorks watschelnde Touristengruppe, auf deren hauchdünnen, durchsichtigen, nassen Regenmänteln „Grotta Azzurra Restaurant“ steht. Um den Oberkörper einerTouristin hängt eine Stoffumhängetasche in der zurechtgeschneiderten Gestalt einer Gans, in deren Bauch die Frau ihr Zeug durch die Fifth Avenue schleppt. Der ausgestopfte, kuschelige Kopf der Gans hängt mit seinen Knopfaugen und dem orangefarbenen, anden Rändern mit schwarzem Garn vernähten Stoffschnabel über ihre Hüften und schlägt bei jedem Schritt an ihre Oberschenkel. Wer ist Pech, wer ist Schwefel, frage ich mich, als ich in der Fifth Avenue, nachdem ich die Touristengruppe mit den durchsichtigen Regenmänteln hinter mir gelassen habe, in einem Schaufenster einen ausgestopften Pfau auf einem aus Elchgeweihen zusammengezimmerten Stuhl sehe, bevor ich den Reißverschluss über dem rechten Augapfel desschwarzen kleinen Kopfes von Marcel Jeanzuziehe und wieder sein linkes Auge aufreiße, einen Augenblick lang in einem Schlafzimmerden jungen Julien Green in seinem Bett liegen sehe und im Weiterlaufen des knisternden Farbfilms den Instrumentenschutzkoffer eines einarmigen Gitarrenspielers in der New Yorker U-Bahn, in dem eine Lebendmaske aus Gips mitden Gesichtszügen desEinarmigen liegt. Mit dem Stumpf seines linken Oberarmes reibt er an den Stegen des Gitarrengriffs, mit den Fingern seiner rechten Hand schlägt er über dem Schallloch die Saiten. Die Dollarscheine, die ihm Passanten in den Koffer legen, schiebt er nach und nach unter eine Kette aus Kastanien, damit sie im Fahrtwind der ankommenden, silberfarbenen U-Bahn mit den Stars andStripes nicht wegflattern. Eine junge Indianerin in einer den indianischen Kleidern ähnlichen Arbeitsmontur säubert die Metrostiege. Ein kleiner, mir in der U-Bahn gegenübersitzender Junge, der zuerst lange auf meine tintenbeklecksten Hände schaut und wohl noch nie eine Füllfeder gesehen hat, lässt sich von seiner Mutter mein Schreibgerät erklären. Ein schwarzer, Kaugummi kauender, langhaariger Transvestit in einem knöchellangen, roten Rock und roten Schlapfen befühlt, an der U-Bahn-Tür lehnend, ehrfürchtig mitseinen Männerhänden die feinen, kaum erkennbaren Operationsnarben an den Hasenbäckchen seiner Wangen. An seinem rechten Unterarm hat er in gotischen Letterndas Wort „Manhattan“ eintätowiert.


3.
Wieder schließe ich mit dem laut ratschenden Zipp des Reißverschlusses das linke Auge des kleinen schwarzen Kopfes von Marcel Jean, reiße sein rechtes Auge auf und schaue wieder ins Kinderschlafzimmer von Julien Green, in das nun seine ältere SchwesterMary eintritt und um sein Bett herumstreicht. Im Weiterlaufen des knisternden Farbfilms sehe ich auf einem kleinen Motorrad eine schwarz gekleidete, einen schwarzen Sturzhelm tragende Frau – auch ihr Hund, der vorne im Korb hockt, trägt einen schwarzen Sturzhelm –, die an einer in eine bronzierte Robe gehüllten, sich auf einem Sockel im Kreis drehenden Gestalt vorbeifährt, die inder rechten Hand eine vergoldete Fackel und in der linken eine zusammengeknüllte amerikanische Fahne hält. An ihrem Unterarmhängt eine Anzahl siebenzackiger, bronzierter Plastikkronen, die sie den eifrig mit ihren Handys fotografierenden Passanten zum Kauf anbietet. Auf dem Gitarrenkopf einer alten, runzeligen, im Badeanzug durch die Straßen gehenden, an einem braunen, mich an eine Grablaterne erinnernden Eis-Shake leckenden Musikantin hängt ein Busenhalter mit Stars and Stripes. Ein riesiger Truck mit einer über die ganze Wagenfläche waagrecht aufgemalten Heineken-Bierflasche fährt an mehreren im Fahrtwind aufkreischenden Frauen vorbei, die ihre zehn, fünfzehn weißen Pudel an den Hundeleinen noch weiter auf den Bürgersteig zurückziehen.


4.
Wieder schließe ich mit dem Zipp des Reißverschlusses das rechte Auge des kleinen schwarzen Kopfes von Marcel Jean, öffneden Reißverschluss über seinem linkenAugapfel und sehe wieder den vierzehnjährigen Julien Green im Bett liegen, die Hände unter der Bettdecke. Seine um sein Bettherumtanzende Schwester Mary beginnt an der Bettdecke herumzuzupfen. Im Bilderschnitt und im Weiterlaufen des knisternden Farbfilms sehe ich einen bärtigen, glatzköpfigen Mann, der an seiner rechten Armbeuge eine schwarze Eule eintätowiert hat und der sich auf offener Straße, aus dem Hals der Eule, sein Menschenblut abzapfen lässt. Langsam rinnt das Blut aus der punktierten, mehr und mehr in seiner Armbeuge zusammenschrumpfenden und immer faltiger werdenden Eule in eine durchsichtige Kanüle. „Brooklyn Superhero“ stehtauf seinem rot-weißen, ärmellosen Ruderleibchen. Quer über dem Hosenschlitz seiner Jeans ist ein Leopard aufgenäht, der von den silbernen Zähnen des Reißverschlusses in der Mitte durchtrennt ist und augenblicklich in zwei Teile zerhackt würde, sobald man den Zipp nach unten zöge. Sein am Schaufenster eines Cafés lehnender Spazierstock ist mit einer lackierten Klapperschlangenhaut umwickelt. Handschalenbreit bläht sich der Hals der Klapperschlange am Haltegriff auf. Früh schon habe ich den Braten gerochen und danach Ausschau gehalten, denn tatsächlich trägt er an einem Finger seiner rechten Hand einen Totenkopfring. Die ihm gegenübersitzende, auf das in die Kanüle rinnende Blut schauende Frau, die prächtiges, fast einen Zentimeter breites Zahnfleisch mitherzhaftem Lachen zurSchau und einen Stierkopf mit blutunterlaufenen Menschenaugen auf ihrem Leibchen trägt, ringelt nervös, während das Blut weiter in die Kanüle rinnt und die Eule ganzund gar ausblutet, mit ihrem Zeigefinger eine blonde, über ihre Brust hängendeHaarsträhne ein. Auf ihrem nackten rechten Fuß, mit dem sie ununterbrochen wippt, ist ein Kinderfußabdruck eintätowiert. Auf der rechten Brustseite ihres Leibchens, über dem Stierkopf mit blutunterlaufenen Menschenaugen, ist mit einer Sicherheitsnadel ein rotes, gepolstertes Herz befestigt. Die lachsfarbenen Pinguine auf den Hosenbeinen der dem Pärchen Blutorangensaft servierenden Kellnerin deuten mit ihrenleicht nach unten gekrümmten Schnäbeln auf ihre schwarzen Socken, an denen zwei weiße, hechtende Jaguare eingestickt sind, die sie beim Servieren auf Trab halten.


5.
Und wieder schließe ich mit dem Reißverschluss das linke Auge des schwarzen kleinen Kopfes von Marcel Jean, ratsche dasrechte auf und sehe, dass Mary, einen Kerzenleuchter in der Hand, forsch an das Bett ihres Bruders Julien herantritt und an der Bettdecke zu ziehen beginnt. Im Weiterlaufen des knisternden Farbfilms sehe ich eine große Anzahl aufgeregter Leute, die um ein Auto herumgehen, ihre Handys in die Höhe halten und drei auf dem Autodach ineinander verwickelt liegende ausgewachsene Boas fotografieren, bis mehrere geduldig wartende Männer die Riesenschlangen vom Dach heben, um ihren Hals hängen, übereinander in den Kofferraum legen, die Klappe zuschlagen, mit dem Auto wegfahren und ich enttäuscht zurückbleibe, weil mir der weiterlaufende Film nicht den aus dem Kofferraum herausschauenden, eingeklemmten Kopf der Schlange zeigen kann. Auf der Madison Avenue erschreckt ein weißer Polizist mit seinem Scharfmacherhund eine schwarze Polizistenkollegin, indem er die Leine locker lässt, sodass der Hund schnurstracks auf die bereits Aufkreischende zuläuft, bis der lachende Polizist ihn wieder an sich heranzieht.


6.
Wieder schließe ich mit dem Reißverschluss das rechte Auge des kleinen schwarzen Kopfes von Marcel Jean und öffne das linke Auge mit dem Zipp des Reißverschlusses. Mit einem brennenden Kerzenleuchter in der einen Hand, einem langen Küchenmesser in der anderen, tritt Mary jetzt wieder in das Schlafzimmer ihres Bruders, der seine beiden Hände immer noch unter der Bettdecke hat. Sie reißt ihm die Decke vom Leib, hält ihm das im Licht der Kerzen aufblitzende Messer an die Brust und flüstert verächtlich: „Julien! Wenn du das noch einmal machst!“ Nach dem Bildschnitt, im Weiterlaufen des knisternden Farbfilms, schaue ich auf zwei mit Immergrün bewachsene Drahtpferde auf einer Rasenfläche zwischen zwei Straßen in Manhattan und sehe in meinem Kopf ein Stück Kindermenschenfleisch auf einem Stück Emmentaler mit übergroßen Löchern, und „Durchgefallen!“ ruft auch schon der Oberlehrer, und „Thema verfehlt!“ zwitschertauch schon der Oberlehrer vor der Glasfibertafelaus dem Heißluftballonmit seinem Riesenkopf und seiner weit herausgestreckten, sich immer wieder einrollenden Leguanzunge und umgarnt den ganzen über dem Erdboden schwebenden Ballonkorb mit seinen meterlangen Fingernägeln. Und löchrig, wie Emmentaler, sind die Verschnaufpausen seines Kreide fressenden und immer wieder „Thema verfehlt!“ und „Durchgefallen!“ kreischenden Amazonaspapageis, dem er immerhin den Satz von Oscar Wilde beibringen konnte: „Ehrgeiz ist die letzte Zuflucht des Versagers.“


7.
Ich schließe mit dem laut ratschenden Zipp des Reißverschlusses das linke Auge des kleinen schwarzen Kopfes von Marcel Jean in der Vitrine des Museum of Modern Art in New York und verdunkle das Kinderschlafzimmer von Julien Green, halte das der Skulptur um den Hals gewickelte, entrollte Filmband ans Licht, sehe den schwer kranken, mit der Tiara auf seinem Haupt auf dem Petersplatz von der Sänfte fallenden Johannes XXIII., über den Pier Paolo Pasolini einst sagte: „Con il sorriso misterioso di una tartaruga“ – Der Papst mit dem geheimnisvollen Lächeln einer Schildkröte –, und verliere, während Johannes XXIII. auf dem Petersplatz von der Sänfte fällt, das Schlafzimmer von Julien Green mitdem Kerzenleuchter und mit dem blutigen Messer aus den Augenwinkeln, wache schweißgebadet auf und schreie: „Oma! Da Popst...!“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2014)

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