Onkel Hansis Ofen

Das ehemalige Familienschloss der Coudenhove-Kalergis in Ronsperg, heute Poběžovice, wird von einer Gruppe junger Archäologen restauriert. Ein Besuch im märchenhaften Böhmerwald.

Ronsperg hieß ein Städtchen im Böhmerwald, Geburtsort meines Vaters und später Residenz seines exzentrischen ältesten Bruders, unseres Onkels Hansi. Onkel Hansi hatte das Familienschloss in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts nach seinem Geschmack umgebaut und in der Bibliothek einen Ofen aufgestellt, eine überlebensgroße Keramikskulptur, ihn selbst im Schlafrock darstellend. Von hinten zu beheizen. Ein Popkunstwerk, ehe diese Kunstrichtung erfunden war. Onkel Hansis Ofen war in unserer Familie legendär.

Heute heißt das Städtchen Poběžovice. Die Bewohner der einst rein deutschen Ortschaft sind vertrieben, Onkel Hansi ist tot, das Schloss verfallen. Und der Ofen längst kaputt.

Ich bin auf Lesereise in Bayern unterwegs, als mein Begleiter und Cicerone vorschlägt, doch einen Abstecher über die Grenze zu machen und das nahe Poběžovice zu besuchen.

Nun erlebe ich eine Überraschung. Im Hof des Schlosses steht, vorgewarnt von den Bayern, ein Grüppchen junger Leute, angeführt von einer promovierten Archäologin namens Jana. Eine kleine Blonde in Jeans. Herzliche Begrüßung. Dieses Grüppchen, erklärt mir Jana, hat sich nichts Geringeres in den Kopf gesetzt, als das Schloss wieder instand zu setzen und darüber hinaus dem Schicksal der Familie nachzuforschen, die einst hier gelebt hat. Jana, die ihren Babysohn im Kinderwagen bei sich hat, zeigt mir ein kleines Tourismusbüro, das sie in einem Raum im Erdgeschoß eingerichtet hat. Ob in diese gottverlassene Gegend jemals Touristen kommen?, frage ich mich insgeheim. Aber Jana und ihre Freunde haben schon eine ganze Menge Erinnerungsstücke zusammengetragen und liebevoll hier ausgestellt.

Ich bin ein bisschen gerührt, als ich die sorgfältig gerahmten Familienfotos sehe, die ich von zu Hause kenne. Schnurrbärtige Herren in k.u.k. Uniformen. Hochzeitsgesellschaften. Die schöne Großmama im Outfit der vorletzten Jahrhundertwende. Ponys. Kinder in Matrosenanzügen. Für die jungen Tschechen von heute sind alle diese Leute Exoten, die Fotos Erinnerungsbilder einer fernen, fast vergessenen Vergangenheit. Und sie freuen sich wie die Schneekönige, dass ich plötzlich aufgetaucht bin, eine Art lebendiges Erinnerungsstück. Das ganze letzte Jahr, erzählen sie, haben sie damit verbracht, in ihrer Freizeit den Müll und Dreck, der jahrzehntelang den Schlosshof füllte, wegzuräumen. Ohne jede Förderung. Anfangs mit Schaufel und Leiterwagen, bis sich ihrer ein lokaler Bauunternehmer erbarmte und ihnen einen Bagger zur Verfügung stellte. Jetzt sieht alles sauber und ordentlich aus.

Warum macht ihr das, will ich wissen. Die Antwort: Weil wir hier leben. Das ist jetzt unsere Stadt. Und für sie haben wir eine Verantwortung. Das ist neu. In den Jahren nach der Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei war das Grenzgebiet, das sogenannte Sudetenland, eine ziemlich trostlose Landschaft. Als Fernsehkorrespondentin in den Neunzigerjahren war ich dort oft mit Kamerateams unterwegs. Wir sahen menschenleere, verfallene Dörfer, unbebaute Ackerflächen, verwahrloste Städtchen. In den von den Deutschen verlassenen Häusern lebten Romafamilien aus der Slowakei. Das Grenzgebiet war die Domäne von Entwurzelten aller Art, Abenteurern und Goldgräbern, die hier ihr Glück suchten.

Ronsperg bildete keine Ausnahme. Nach der Wende hatten japanische Investoren versucht, das Schloss als Attraktion für japanische Touristen wieder herzurichten. Meine Großmutter stammte aus Japan. Sie war die erste Japanerin, die im späteren 19.Jahrhundert, nach der Öffnung Japans zum Westen, als Frau eines österreichisch-ungarischen Diplomaten nach Europa gegangen war. In ihrem Heimatland ist sie bis heute eine bekannte romantische Figur, Heldin einer Fernsehserie und mehrerer Bücher und Comics. Aber die Japaner gaben bald auf. Sie hatten viel Geld in die Renovierung gesteckt, aber sie bekamen nie ordentliche Abrechnungen zu sehen. Irgendwann warfen sie entnervt das Handtuch. Unsere Offiziellen, sagt Jana unverblümt, haben das Geld einfach gestohlen.

Jetzt haben die jungen Ronsperger, lange nach der Vertreibung der ursprünglichen Bewohner, die Sache selbst in die Hand genommen. Jana führt uns weiter, und nun kommen wir wirklich ins Staunen. In die leeren Fensterhöhlen haben die Renovierer Holzplatten eingefügt und von künstlerisch Ambitionierten aus dem Städtchen bemalen lassen. Wir sehen Großmama und Großpapa aus den Fenstern lugen, nach Fotos sorgfältig abgemalt. Es gab eine Art Wettbewerb, erzählen Janas Freunde und Freundinnen. Auch die Kinder machten mit, sie malten Babys und Katzen und Apfelbäume, die jetzt die Fenster schmücken. Es kam darauf an, zu verhindern, dass es in die frisch renovierten Räume hineinregnete. Jetzt ist wenigstens alles trocken.

Ein junger Fotograf aus Bayern ist auch bei unserem Grenzausflug dabei. Er hat im letzten Sommer den Ronspergern bei ihrer Arbeit geholfen und sich von der Atmosphäre anstecken lassen. Abends wurde gegrillt und gesungen und Musik gemacht. Er sei täglich über die Grenze herübergekommen.

Ich muss an die noch nicht so lange vergangene Zeit denken, als diese Grenze vom Eisernen Vorhang hermetisch abgeschlossen war. Wer versuchte, ihn zu überwinden, auf den wurde geschossen. Und jetzt fährt die nächste Generation unbekümmert herüber und hinüber, um gemeinsam zu arbeiten undzu feiern.

Inzwischen haben sich auch zwei alte deutsche Ronspergerinnen zu uns gesellt. Eine, so zeigt sich, ist die Tochter des ehemaligen Chauffeurs von Onkel Hansi. Sie kann sich noch gut an das Auto des verrückten Grafen erinnern. Es war auf der einen Seite gelb und auf der anderen rot lackiert, in den Wappenfarben der Familie. Eva, die Chauffeurstochter, erzählt, die Kinder hätten damals nicht genug kriegen können von diesem Auto. Sie seien ständig von einer Seite auf die andere gesprungen, um einmal ein gelbes Auto zu sehen und einmal ein rotes. Eva ist der Vertreibung entgangen, weil sie, so wie ihre Freundin, mit einem Tschechen verheiratet war. Ob die alten Ronsperger noch manchmal herkämen, auf Besuch, frage ich. Antwort: Ja. Aber selten. Die meisten sind tot, und viele wollten ihr Heimatstädtchen nach der Vertreibung nicht mehr sehen. Sie wollten alles so in Erinnerung behalten, wie es damals war.

Das ist es nun freilich nicht. Die alte Kirche steht noch da und das Rathaus, aber dazwischen sind ein paar hässliche Plattenbauten aus der Kommunistenzeit zu sehen, und ganze Straßenzüge sind völlig verschwunden, darunter auch das alte Judenviertel. In Ronsperg gab es einst eine bedeutende jüdische Gemeinde. Der Rabbi war ein gelehrter Mann, der oft bei meinem Großvater im Schloss zu Gast war. Die Ronsperger Juden schätzten den Schlossherrn und brachten ihm jedes Jahr zu Weihnachten eine köstliche Gänseleber.

Die Synagoge ist inzwischen niedergerissen, aber den Friedhof finden wir noch. Er liegt ein wenig außerhalb der Ortschaft, ein stiller Platz unter alten Lindenbäumen. Viele, halb versunkene Grabsteine mit hebräischen Inschriften. Wir reden unwillkürlich leise, als wir zwischen den Gräbern herumgehen. Es ist lange her, dass jemand auf diesem Friedhof bestattet wurde. Die letzten Juden von Ronsperg haben ihre letzte Ruhestätte in den Lagern des Ostens gefunden oder irgendwo weit weg im Exil.

Gleich hinter dem Friedhof beginnt der Wald, der dichte, riesige, geheimnisvolle Böhmerwald. Das ist kein domestizierter Wald für Sonntagsspaziergänge, sondern ein richtiger Märchenwald, der schön, aber auch ein wenig unheimlich ist, und in dem man sich leicht verirren kann. Man denkt an Hänsel und Gretel. Mischwald. Himbeersträucher. Felsbrocken. Wir suchen Stockau, heute Pivoň, das längst aufgelassene Augustinerkloster, das meiner Großmutter und ihren jüngeren Kindern als Witwensitz diente, nachdem ihr Ältester Ronsperg übernommen hatte. Ein uraltes Gebäude, völlig verfallen. Von hier ist vor Jahrhunderten die Christianisierung Westböhmens ausgegangen. Zutritt verboten, wegen Einsturzgefahr. Will das denn niemand vor dem völligen Verfall retten? Offenbar nicht. Kein Geld und wohl auch kein besonderes Interesse.

Wir fahren auf einer halb zugewachsenen rumpelnden Landstraße zurück. Hier in der Nähe hat es zwei Dörfer gegeben, Haselbach und Grafenried, erzählt unser ortskundiger Begleiter. Aber sie sind verschwunden. Der Wald hat sie verschluckt. Dass hier einst menschliche Siedlungen waren, erkennt der Wanderer daran, dass plötzlich verwilderte Obstbäume zwischen den Waldbäumen zu sehen sind. Und gelegentlich findet man Reste der einstigen Ansiedlungen, behauene Steine oder Ackergerät. Von den Bauernhöfen stehen nur noch die Fundamente, verdeckt von meterhohem Gras. Dieser Wald, kommt es mir in den Sinn, sieht nun wieder so aus wie vor tausend Jahren, bevor die Siedler kamen. Tausend Jahre menschliches Leben in dieser Gegend sind einfach ausgelöscht, als hätte es dieses nie gegeben. Die Natur hat sich zurückgeholt, was ihr einst abgetrotzt wurde. Statt Gärten und Feldern wieder undurchdringlicher Wald.

Wir fahren ins Wirtshaus nach Ronsperg, ich habe Jana und ihre Freunde dorthin eingeladen. Wenigstens ein Wirtshaus gibt es wieder im Ort. Wir bestellen Schweinsbraten mit Knödel und Kraut, das traditionelle böhmische Nationalgericht, das es in den feinen Restaurants in Prag nicht mehr gibt, da zu fett und zu gewöhnlich. Česká klasika, sagt der Wirt zufrieden, der tschechische Klassiker.

Und nun offenbart Jana die eigentliche Sensation des Tages: Sie hat Onkel Hansis Ofen gefunden! In einem Depot des Pilsener Bahnhofs, hatte ihr jemand erzählt, gäbe es noch Kisten mit Sachen aus dem Schloss. Jana fuhr hin und öffnete die Kisten. Und da, unter alten Parkettbrettern, ein Haufen Scherben. Jana ist Archäologin, mit Scherben kenntsie sich aus. Der Ofen! Kaputt zwar, aber nicht unwiderruflich verloren. Teile fehlten, aber man könnte die vorhandenen Stücke durchaus wieder zusammenfügen und den Rest ergänzen. Und Jana wäre nicht Jana, wenn sie sich dieses Projekt nicht sofort zur Aufgabe gemacht hätte.

Es wird ein fröhliches Mittagessen. Tschechen und Bayern und Österreicher unterhalten sich miteinander, über die Sprachgrenzen hinweg.

Ronsperg gibt es nicht mehr, denke ich mir bei der Heimfahrt. Aber es gibt Poběžovice, und das ist ein Ort, der nun wieder zu leben beginnt. Eine neue Generation ist da, die hier geboren ist und hier Wurzeln geschlagen hat. Diese Jungen sind hier zu Hause. Und wenn junge Bürger für ihre Stadt Verantwortung übernehmen, ihre historische Substanz wiederherstellen wollen, dann ist in dieser verwüsteten und entvölkerten Gegend, jahrzehntelang Auffangbecken für allerhand menschlichen Treibsand, auch wieder so etwas wie eine Zivilgesellschaft entstanden.

Wie immer Jana und ihre Freunde mit ihrem Projekt zurande kommen, eines ist ihnen jedenfalls jetzt schon gelungen: ihrer Stadt ihre Seele wiederzugeben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2014)

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