That's Gänsehaut

Alle, alle sind sie aus Klagenfurt und Kärnten fortgegangen, um Rang und Namen zu bekommen. Auf Dauer disqualifiziert man sich ganz einfach, indem man bleibt. Und warum lebe ich eigentlich noch da?

Und warum leben Sie eigentlich noch da?“, fragt mich der Redakteur der „Deutschen Welle“ zwischen zwei Aufnahmen und erwischt mich damit bei einem meiner großen Lebensprobleme. Meine Antwort mit den beiden Gründen („Ich habe ein Haus und ich habe einen See“) erscheint mir selbst ein wenig zweifelhaft. Erst später zu Hause ist mir eingefallen, dass ja Cioran gegen Ende seines Lebens resignativ gemeint hat, da, wo man geboren ist, da sollte man auch leben und sterben. Diktum, Punktum. Er hat den Satz aber in Paris niedergeschrieben, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat und am Friedhof von Montparnasse begraben liegt, nicht in Rumänien, wo er geboren worden ist, nicht in Sibiu, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hat. Ob man einen solchen unzeitgemäßen Satz auch in Sibiu oder Klagenfurt schreiben kann?

Der Mann ist aus Berlin gekommen, um ein Stadtporträt zu drehen. Er dreht Stadtporträts sämtlicher acht Europameisterschaftsstädte, und in Klagenfurt soll ich den Fremdenführer spielen – ich, der der Stadt Klagenfurt bisher nicht einmal eine Eintrittskarte für eines der Europameisterschaftsspiele in meiner Heimatstadt wert gewesen bin! Aber es ist eine günstige Gelegenheit, meinen schönen Burberry-Dufflecoat, meinen Lebensmantel, wieder einmal ins Fernsehen zu bringen. Wir treffen uns im Lendhafencafé, und aus dem dreiviertelstündigen Interview, das ich mir vorgestellt habe, wird ein fünfstündiger Drehtag. Ich spaziere für die Kamera durch den Lendhafen (bei wolkigem Wetter wirkt er noch schäbiger, heruntergekommener, verwahrloster, als er ist).

Nur der Sud bleibt

Ich spaziere für die Kamera die Außenfront der Landhausbuchhandlung mit meinem Buch in der Auslage entlang und – am anderen Ende der Stadt – ins Musilhaus hinein. (Gerade hat ein Kärntner Unternehmen den „sehr geehrten Herrn Doktor Robert Musil“ herzlich zu einer seiner Kulturveranstaltungen eingeladen). Alle, alle sind sie aus Klagenfurt und Kärnten fortgegangen, um Rang und Namen zu bekommen. Auf Dauer disqualifiziert man sich ganz einfach, indem man da bleibt. Musil ist genau genommen nicht fortgegangen, sondern fortgekrabbelt, hat sich nach dem Babystadium nie wieder in K. blicken lassen und führt die hier grassierende bigotte Musilhuberei noch posthum ad absurdum. Fast hätte ich gesagt, dass nur der Sud bleibt, aber der würde ja mich enthalten. Vielleicht stimmt es auch. Vielleicht bin ich Sud. Sud mit Haus und Parkbank am See. Stattdessen sage ich aber: Ich lebe exterritorial, in den Wolken, in einer 20-Quadratmeter-Republik im dritten Stock meines Geburts- und Sterbehauses.

Für die Kamera der „Deutschen Welle“ spaziere ich zum Stadthaus, zur Stadtgalerie, zum Stadttheater und zum erst unlängst aufgestellten Denkmälchen für Ingeborg Bachmann, einem aufgespießten Schrumpfkopf. Und hier also die Frage: „Warum leben Sie noch da?“ Nicht gestellte Nachfrage: Ob ich mir hier nicht die Aussicht auf eine anständige Karriere verbaue? Verhaue? Ob ich hier nicht mein Leben vertue? Was mich hier hält?

Vor dem Fotogeschäft Gottwald pöbelt mich ein stockbetrunkener und wohl deswegen kommunikativ inkontinenter Mann vor laufender Kamera an. Nach ein paar abstrakt-satzartigen Hervorbringungen stellt sich heraus, dass mir der schwankende Mann ein Kompliment wegen einer meiner jüngsten Publikationen in der Zeitung machen möchte, in seinem (Dauer?)Zustand unter dem Gesichtspunkt der Artikulation aber ganz einfach nicht mehr dazu in der Lage ist. Passiert Ihnen so etwas öfters?, fragt der Berliner Redakteur. Ich möchte vor Scham vergehen.

Gar so viel ist in dieser Stadt auch wieder nicht zu zeigen. Hier die Landesregierung. Hier das Landhaus. Hier das Rathaus. Ich lebe in einer Stadt, in der es heute noch immer Nazi-Straßennamen gibt, deren Entfernung für die politische Führung noch immer ein Problem darstellt, trotz entsprechender Historikergutachten, von der Stadt selbst in Auftrag gegeben. Und warum leben Sie eigentlich noch da?


Und dann hinauf in Österreichs hohen Norden! Landschaft, Landschaft, Landschaft, Kaff, Kaff, Kaff. Von Rosenburg nach Sigmundsherberg, von Sigmundsherberg nach Missingdorf, von Missingdorf nach Breiteneich: Dort lehnt an jeder Hauswand ein überquellender Müllsack, und neben jedem Müllsack hängt ein Schild: „Zu verkaufen“ – buchstäblich der ganze Ort, ganz Breiteneich ist zu verkaufen, aber niemand will es haben – und dann fahren wir endlich ins sagenumwobene Retz ein. Wir steigen aus, Emma, meine Frau, schaut sich einmal um und sagt: Da hätte er gleich nach St. Veit ziehen können! Der Hauptplatz ist auf den ersten Blick doch sehr hübsch. Auf den zweiten Blick recht hübsch. Auf den dritten Blick uninteressant. Durch die Verderberhaus-Passage zum Znaimer Tor, da steht eine angegraute Konditorei und in der Vitrine eine Julia-Torte, die fast so alt ist wie Julia. Oder sagen wir höflich: Gut erhalten.

„Gibt es auch eine Turrini-Torte?“

„Leider nein.“

„Welche Torte isst dann Turrini hier?“

„Herr Turrini mag gerne Sachertorte.“

Sachertorte! Im Tortenparadies Österreich als Lieblingstorte Sachertorte angeben! Das kann jeder! Das ist an Einfallslosigkeit nicht mehr zu überbieten. Als ob es keine Grand-Manier-Torte gäbe! Keine Panamatorte, keine Dobostorte, keine Esterházy-Torte, keine Orlofftorte, keine Kastanientorte (vulgo Eggstorte), keine Villacher Torte, keine Baisertorte et cetera.

„Kommt der Herr Turrini oft vorbei?“

„Gelegentlich.“

Ich setze mich auf eine Bank am Hauptplatz von Retz und denke wieder einmal, dass ich gerne eine Fernsehserie moderieren würde, in der ich Folge für Folge durch eine österreichische Provinzstadt führe. Titel der Serie: Das Nichts nichtet. Sehen Sie heute: Das Nichts nichtet in Retz. Und am Ende: Wo wird das Nichts das nächste Mal nichten? Schalten Sie auch nächste Woche zur selben Uhrzeit ein, wenn es wieder heißt: Das Nichts nichtet.

Von Znaim nach Kleinhaugsdorf, Suttenbrunn und Grund: Die Rückfahrt zieht sich. Auf der Südosttangente fragt mich Emma, ob ich hier leben wollte. Sie macht sich Sorgen, seit ich unlängst wieder einmal den Gedanken geäußert habe, aus Klagenfurt wegzuziehen. Nein, auf der Südosttangente möchte ich nicht leben. Und nach Wien ginge ich sicher nicht, weil mir die Häuserschluchten in den Außenbezirken dort so gut gefielen. Es ginge dabei ausschließlich um meine Karriere. Besseres Karriereklima. Zwar würde ich in Wien gar nichts anderes machen, als ich jetzt auch mache, und ich würde es auch in denselben Medien tun, die mir schon jetzt mehr oder weniger offenstehen – aber ich hätte einen anderen Hallraum, ein anderes Publikum, andere Multiplikatoren. Bleibe ich in Klagenfurt, bis ich sterbe, bin ich dann tot.

Ich bringe Emma den Vergleich von Egon Schiele und Franz Wiegele, den ich in meinem Roman „Der Mensch kann nicht fliegen“ gezogen habe, den sie aber noch nicht kennt. Der Roman erscheint erst im Herbst. Oder Perkonig, „der Dichter Kärntens“! Ich will ja kein Perkonig werden! Und kein Tschabuschnig!

Kein Mucks zum Todestag

Und auch kein Humbert Fink. Aus Humbert Fink wäre in Wien oder Deutschland vermutlich auch mehr geworden als so ein vorübergehender Kärntner Zorro in der „Kronen Zeitung“. Jetzt liegt Umberto Luigi Fink, dem immerhin die Bachmann ihren Bachmannpreis und damit einen guten Teil ihrer Nachwelt zu verdanken hat, einsam und verlassen neben dem Bernhardopfer Lampersberg am Friedhof von Maria Saal. Kein Mucks zum fünften Todestag, kein Mucks zum zehnten, kein Mucks zum fünfzehnten. Vergangen! Vergessen! Vorbei!

Emma weiß nicht so recht, wie sie sich verhalten soll. Sie hat zwar einerseits Verständnis für meine Unruhe, aber recht sind ihr meine Abwanderungsgedanken ganz und gar nicht – vor allem jetzt, wo sie sich eine akademische Karriere als Religionspädagogin zimmert. In Wien, meint sie, würde ich immer stöhnen: „Ich muss nach Berlin gehen. In Wien wird man ja nichts. In Wien wird man sicher umgebracht als zarte Seele. Nach Berlin müsste man, zu Herrn Sonnleitner, damit man dann einen Ausflug nach Klagenfurt machen kann?“

Bei der Raststätte St. Marein trinken wir Kaffee. Neben der Kassa ein Ständer mit CDs, in Augenhöhe Freddy Quinn. Emma will witzig sein: „Schau mal, wär der nichts für dich?“ „Na warte!“, denke ich. „Dir wird das Witzigseinwollen schon noch vergehen!“ Ich nehme Freddy Quinn aus dem Ständer. „Das ist nicht dein Ernst?!“ „Nein!“, sage ich, zahle und lege Freddy Quinn in den Auto-CD-Player. Leitmotivisch geht es um Sterne und Ferne, Mutter und Kutter. Beim Exit Knittelfeld: Brennend heißer Wüstensand (so schön, schön war die Zeit) . . . fern so fern lieb Heimatland (so schön, schön war die Zeit) . . . dort wo die Blumen blühn, dort wo die Täler grün, dort war ich einmal zu Hause! Wo ich die Liebste fand, da liegt mein Heimatland (so schön, schön war die Zeit).

Immer dreister grölt Emma im Schutz des Faradayschen Käfigs auf der Autobahn bei „La Paloma olé“ und „Aloa Oe“ mit und produziert geradezu annelieserothenbergeriensische Koloraturen. Ich meine das im schrecklichsten Sinn des Wortes. Zu meiner Verblüffung muss ich aber zugeben, dass Freddy Quinn Verständnis für mich hat: „Es kommt der Tag, da will man in die Fremde. Da wo man lebt, scheint alles viel zu klein. (Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong...)“ Auch wenn er gegen Ende des Liedes relativiert: „Und ich sag zu Wind und Wolken, nehmt mich mit, ich tausche gerne all die vielen fremden Länder gegen eine Heimfahrt aus.“

Auf der Höhe von Scheifling hat der Junge von St. Pauli die ganze Welt gesehen. In jedem fernen Hafen wollte er vor Anker gehen. Die Sehnsucht trieb ihn weiter. Er glaubte an sein Glück – doch es führen alle Wege nach St. Pauli zurück.

„Das dürfen wir aber niemandem sagen“, sagt Emma.

„Juanita! Juanita! Ihm blieben nur zwei Freunde: die Gitarre und das Meer! Heimatlos sind viele auf der Welt! Keine Freunde, keine Liebe! Keiner denkt an mich das ganze Jahr!“ An der behaupteten höchsten Erhebung zwischen Wien und Triest, am Perchauer Sattel, bringt Quinn die Situation des Kärntner Weltschriftstellers in der Welt dann endgültig und zeitlos gültig auf den Punkt: „Irgendwo im fremden Land ziehen wir durch Stein und Sand, fern von zu Haus und vogelfrei, 100 Mann und ich bin dabei. Tagein, tagaus, wer weiß, wohin, verbranntes Land, und was ist der Sinn? Wahllos schlägt das Schicksal zu, heute ich und morgen du!“

That's Gänsehaut!

Bis wir zu Hause sind, bleibe ich dann doch wieder daheim. Auf das weiße Schiff nach Hongkong pfeif ich. ■

Klagenfurter des Jahrgangs 1962. Studierte Germanistik und Philosophie. Dr.phil. Lebt als freier Autor in seiner Heimatstadt. Bücher: zuletzt „Ein Endsommernachtsalbtraum, Mehr als ein Kriminalroman“ und „Das Geisterschiff. Ein Künstlerroman“ (beide im Picus Verlag). Sein Text stammt aus dem Prosaband „Am Fuß des Wörthersees“, der dieser Tage bei Picus herauskommt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2014)

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