Elixier der Wiener

Die Wiener verdanken ihm Hochquellenwasserleitung und Regulierung der Donau. Gemeinsam mit dem Geologen Eduard Suess schuf er die Grundlagen für die Modernisierung der Donaumetropole, dessen Bürgermeister er von 1868 bis 1878 war: Cajetan Felder. Zum 200. Geburtstag: über die Anfänge der gründerzeitlichen „Stadtmaschine“.

Der hundertste Todestag des berühmten Geologen und Politikers Eduard Suess im heurigen Frühjahr gab Anlass für zahlreiche publizistische Beiträge und Veranstaltungen. In diesen durfte meist die Erwähnung zweier Großprojekte nicht fehlen, auf die Suess einen entscheidenden Einfluss hatte: die Errichtung der I. Wiener Hochquellenwasserleitung und die umfassende Donauregulierung.

In der Tat schufen beide Vorhaben die Grundlage für die weitere Modernisierung der Stadt und prägen Wien gewissermaßen bis heute. Gleichzeitig fallen die meisten Würdigungen in diesem Kontext (ob der mittlerweile fast schon kultischen Verehrung für Eduard Suess?) gern der Verführung durch Harmonisierung anheim und kreieren dabei so manchen Mythos.

Denn die Entstehung der gründerzeitlichen „Stadtmaschine“ und der Ausbau moderner Infrastruktur um 1870 waren auch in Wien viel mehr von Widerspruch, Rückschlägen und Brüchen geprägt. Sie lassen daher eine lineare Fortschrittserzählung und ungetrübte Erfolgsgeschichte kaum zu. So erfüllten beide Projekte die in sie gesetzten Erwartungen zunächst nur eingeschränkt.

Bei all seinen Verdiensten für die Stadt sollte man außerdem auf einen wichtigen Mitstreiter von Suess nicht vergessen, dessen Geburtstag sich ebenfalls heuer, in diesem September, zum 200. Mal jährt: Cajetan Felder, von 1868 bis 1878 Bürgermeister von Wien.

Beide waren im Gemeinderat und in verschiedenen Kommissionen tätig, während Felder im Zivilberuf Jurist, Suess hingegen ein bekannter Geologe war. Beide waren zentrale Konstrukteure der entstehenden Großstadt in Wien und trugen, miteinander befreundet, unter anderem zur Durchsetzung der Hochquellenwasserleitung und der Donauregulierung, wie wir sie kennen, erheblich bei. Das Wiener Trinkwasser, das sich größtenteils aus alpinen Hochquellen speist, trägt heute noch zur hohen Lebensqualität in der Stadt bei. Zugleich ist es identitätsbildend für ihre Bewohner und Bewohnerinnen. Nicht zufällig fällt der Wikipediaeintrag allein zur I. Wiener Hochquellenwasserleitung fast doppeltso lang aus wie jener zur Wiener Ringstraße. Und der Werbespruch einer bekannten Brotfabrik aus den 1930er-Jahren, „Worauf freut sich der Wiener, wenn er vom Urlaub kommt?“, lebt bis heute als geflügeltes Wort weiter – in der Antwort häufig verkürzt auf „Hochquellwasser“.

Aus heutiger Sicht können wir also nur froh sein, dass Wien über hochwertige, alpine Wasserquellen verfügt. Doch die Anfänge der 1873 feierlich eröffneten I. Hochquellenwasserleitung sind ambivalenter als im kollektiven Gedächtnis überliefert. Unser heutiges, durchwegs positives Bild resultiert vielfach aus Überlagerungen durch spätere Verbesserungsmaßnahmen. Suess' Wasserleitung kann in ihrer damaligen Form und gemessen am Anspruch vielmehr als eine teure Fehlplanung bezeichnet werden.

Dabei war Suess, um eine andere Urban Legend zu korrigieren, nicht der Erste, der nach der Mitte des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit einer neuen modernen Wasserleitung in der erweiterten und rasant wachsenden Stadt erkannt hatte. Wasser wurde ja zunehmend nicht nur für die Haushalte benötigt, sondern auch für Straßen- und Kanalreinigung oder für die Bewässerung von Parkanlagen. So setzten unmittelbar nach Beginn der Ringstraßenära um 1858 die Planungen ein.

Entgegen ersten Empfehlungen amtlicher Stellen, die bestehenden Wasserleitungen aus der Donau auszubauen, was damals international durchaus üblich war, entschied sich die Stadt nach einiger Suche und unter Leitung von Eduard Suess für die Erschließung von alpinen Hochquellen zur dauerhaften Versorgung der Stadt mit Wasser. Dieser Vorschlag löste heftige Debatten aus und war bis zum Schluss umstritten – der exzellenten Wasserqualität zum Trotz. Unbedenkliches Trinkwasser und billiges Nutzwasser wären nämlich, etwa mit getrennten Rohrnetzen, auch auf anderen Wegen zu beschaffen gewesen. Selbst Suess befand noch 1858 in einem Vortrag, dass das vom Schotter gefilterte Donauwasser in der Leopoldstadt in einiger Entfernung vom Fluss auch als Trinkwasser „recht gut“ sei. Zur wichtigsten Konkurrentin für die Hochquellen wurden jedoch die Tiefquellen der Fischa-Dagnitz südöstlich von Wien. Hier sprachen allerdings so manche rechtliche und ökonomische Aspekte gegen die Erschließung. Aufgrund des fehlenden Gefälles hätte man hier im Unterschied zu den Hochquellen das Wasser maschinell heben müssen.

Im Jahr 1866 beschloss man schließlich eine durch Anleihen finanzierte kommunale Wasserleitung aus dem rund 80 Kilometer entfernten Rax-Schneeberg-Gebiet. Wien setzte also auf eine Karte. Und auf ein ehrgeiziges Projekt, das dank der mächtigen Aquädukte heute noch in der Landschaft weithin sichtbar ist.

Das Abstimmungsergebnis im Gemeinderat war dafür durchwachsen: Bei 65 Pro- gab es auch 45 Gegenstimmen. Mehr als ein Drittel der Abgeordneten verlangte genauere Messungen der erwarteten Wassermenge. Dabei handelten wohl nicht alle Gegner des Projekts aus hehren Motiven. So befürchteten Hausbesitzer, die auch in der Kommunalpolitik stark vertreten waren, höhere Baukosten und neue Abgabenlasten.

Zweifel über die geplante Hochquellenleitung kamen aber nicht nur von sogenannten Kleingeistern und Fortschrittsgegnern. So diskutierte man die vermutete Unbeständigkeit und Unzulänglichkeit der Quellen auch im österreichischen Ingenieur- und Architektenverein kontroversiell. Bedenken, die bis zum Schluss nicht eindeutig ausgeräumt werden konnten. Andere wiederum beanstandeten die hohen Kosten. Doch Sueß und Felder gelobten einander bereits in einer Frühphase, im „Schwur von Leobersdorf“, das kühne Unternehmen „unverdrossen und beharrlich“ – und damit offenbar ungeachtet aller noch eventuell auftretenden Einwände – zu Ende zu führen.

Nach vierjähriger Bauzeit wurde die I. Wiener Hochquellenwasserleitung im Herbst 1873 gemeinsam mit dem Prestigebau des Hochstrahlbrunnens am Schwarzenbergplatz eröffnet. Doch bereits im ersten Winter trat aufgrund der schwankenden Ergiebigkeit der Quellen – wie befürchtet – Wassermangel in Wien auf. Auf diesen folgten weitere in den Jahren 1876 bis 1878. Die Stadt sah sich genötigt, die alte Kaiser-Ferdinands-Wasserleitung vorübergehend wieder zu aktivieren. Die Tatsache, dass dadurch die Typhuserkrankungen in der Stadt erneut anstiegen, dürfte allerdings nicht allein auf das Donauwasser selbst, sondern ebenso auf den vernachlässigten Zustand der Anlage zurückzuführen sein.

Die Mängel der Hochquellenleitung wurden durch den rapide wachsenden Wasserbedarf verschärft. So beschloss die Stadt bereits 1877 die Einbeziehung weiterer, nicht nur alpiner Quellen und Schöpfwerke sowie die Vergrößerung der Wasserbehälter. So überrascht es nicht, wenn man die neue Wiener Wasserleitung in ausländischen Fachjournalen mitunter als verfehlte und luxuriöse Planung bezeichnete, die sich nur reiche Städte in der Nähe vom Hochgebirge leisten können. In der Tat wurde sie – vermehrt durch die Nachbesserungen – zum teuersten Infrastrukturprojekt Wiens in der liberalen Ära.

Was wir also heute als I. Wiener Hochquellenwasserleitung kennen, ist bei Weitem nicht identisch mit jener, die 1873 ans Netz ging. Erst mit der bis 1910 errichteten II. Hochquellenwasserleitung, die Gebirgswasser aus der Steiermark transportierte, konnte die immer wiederkehrende Wasserknappheit in Wien behoben werden.

Mehr Wasser in den Häusern und Wohnungen setzte auf der anderen Seite freilich den beschleunigten Ausbau der Kanalisation voraus, um die zunehmende Wassermenge abführen zu können. Dabei wird oft ausgeblendet, dass der starke Rückgang der Sterblichkeit in Wien nach 1873 nicht nur der neuen, besseren Trinkwasserqualität, sondern auch der Verbesserung der Kanalisation und der beginnenden Einführung der Wasserklosetts an Stelle der Abtrittsgruben zu verdanken war.

Der wirksame Hochwasserschutz an der Donau stellte eine weitere Herausforderung für Wien dar. Wollte die Stadt nämlich weiter wachsen und am Wirtschaftsaufschwung teilhaben, musste der Strom irgendwie unter Kontrolle gebracht werden.

Unter dem Eindruck der verheerenden Überschwemmung im Jahr 1862 intensivierten sich erneut die Planungen. Bald standen im Wesentlichen zwei Ideologien einander gegenüber: Ein älterer, „sanfterer“ Regulierungsvorschlag sah die Beibehaltung und weitere Sicherung des Hauptstromes (heute Alte Donau) und den Ausbau des stadtnahen Kaiserwassers mit Hafenanlagen vor. Radikalere Ansätze, nicht zuletzt durch die Erfahrungen beim Bau des Suez-Kanals gestärkt, zielten auf die Vereinigung aller Donauarme (außer Donaukanal) in einem neuen künstlichen Strombett ab.

Das damals vorherrschende stadtplanerische Paradigma, „der gerade Weg ist der Beste“ (Förster), war offenbar auch hier – wider die spezifische Flußdynamik – wirksam und wurde gar als der „natürliche Lauf“ des Wassers proklamiert.

Vor allem schien die Gemeinde daran interessiert zu sein, den Hauptstrom mittels Durchstich „in die möglichste Nähe der Stadt“ zu verlegen, um dergestalt die vermeintlichen „Handels-, Gewerbs- und Verkehrsinteressen“ Wiens zu wahren. Dabei war es erneut Cajetan Felder, bereits Bürgermeister und zugleich Referent der Donau-Regulierungskommission, der hier seinen Einfluss geltend zu machen wusste. Er engagierte gezielt einen Experten und Befürworter der Durchstichlösung, wodurch das bis dahin unentschiedene Gutachterverhältnis kippte. Das „Schicksal“ der Donau bei Wien und ein zentrales Element der Stadtstruktur entschieden sich somit praktisch unter politischer Einflussnahme und nicht – wie gern tradiert wird – auf Basis einer deutlichen und zeitgemäßen Mehrheitsmeinung von Wasserbautechnikern.

Auch Eduard Suess war ein leidenschaftlicher Verfechter der Durchstichvariante. Nach eigenen Worten wollte er die Donau mit einem fertigen, neuen Bett „bezwingen“. Zwar keineswegs Initiator der Donauregulierung, wie es immer wieder fälschlicherweise heißt, brachte sich Suess als Mitglied in der Donauregulierungskommission vielfach in die Planungen ein, zumal in wasserbautechnischen Fragen.

Von ihm stammte der Vorschlag, den Durchstich auf einer wesentlich längeren Strecke als ursprünglich geplant vollständig auszuheben, um sicher zu gehen, anstatt den Fluss entlang einer Künette allmählich selber sein Bett „graben“ zu lassen. Mit dem Aushubmaterial sollte dann das Kaiserwasser gänzlich zugeschüttet werden. Die Stadt beteiligte sich mit einem Drittel der Baukosten, den Rest zahlten der Staat und das Land Niederösterreich.

In vielerlei Hinsicht war eine Näherlegung des Stromes an Wien mit Hilfe eines künstlichen Durchstichs die riskantere und kühnere Variante. Nicht wenige Laien, aber auch Techniker erfüllte dies mit Sorge. Immerhin hatte man mit einem in Europa bis dahin nirgends erfolgten Eingriff in eine Flusslandschaft in der Nähe einer Großstadt zu tun. Doch die Bauarbeiten und die Flutung der „neuen Donau“ 1875 verliefen ohne gröbere Zwischenfälle.

Dabei entstand ein begradigtes Strombett, begleitet von einem sogenannten Inundationsgebiet, das die Überschwemmungen auffangen sollte. Das hieß eine umgekrempelte Landschaft und eine kilometerlange, gerade Raumfigur mit insgesamt 750 Metern Breite. Auf diese Weise veränderte sich das Verhältnis der Stadt zum Strom radikal. Eine der negativen Folgen aus heutiger Sicht, neben landschaftsästhetischen und ökologischen Nachteilen, ist die massive stadträumliche Barriere, welche die Anbindung der „transdanubischen“ Bezirke 21. und 22. an die Innenstadt – trotz Donauinsel und verbesserter Verkehrsverbindungen – immer noch erschwert.

Ähnlich wie bei der ersten Hochquellenwasserleitung wurde jedoch eines der Hauptziele, diesfalls der anhaltende Hochwasserschutz, nicht so bald erreicht. Schon 1876 sorgte ein Eisstoß für teilweise Überschwemmungen und öffentliche Kritik. Zudem begann der Fluss in seinem neuen Bett gefährlich zu „pendeln“, weitere Regulierungsmaßnahmen waren notwendig. Und spätestens die außerordentlichen Hochwasserereignisse von 1897 und 1899 bewirkten die Fortsetzung der Donauregulierung im großen Stil, die erst vor wenigen Jahrzehnten ihr – wohl vorläufiges – Ende fand.

Bei beiden Großprojekten hat sich die Stadt also für eine vergleichsweise kostspielige Variante entschieden. Beide Vorhaben waren mit massiven Umwelteingriffen verbunden und im Kern Ausdruck einer mechanistischen Naturauffassung. Beide können als visionär angesehen werden, da sie spätere Entwicklungen vorwegnahmen, allerdings um den Preis von mehr oder weniger kalkulierbarem (oder gar kalkuliertem) Risiko.

Dieser zeitspezifische Umgang mit Risken ist freilich im Kontext eines damals allgemein fortschrittsbegeisterten, ja technikgläubigen gesellschaftlichen und kulturellen Klimas zu sehen. Plötzlich schien alles möglich – technisch, ökonomisch, politisch.

Der Ingenieur, der Erfinder, der kühne Unternehmer: Sie waren die Heroen eines bürgerlich-liberalen Zeitalters. Und mit Fortschrittsoptimismus und Reformwillen ist nun mal auch die erhöhte Bereitschaft zum Wagnis immanent verbunden.

Die möglichen Risken betrafen in diesem Fall aber nicht nur technische Belange, sondern auch die weitere massive Verschuldung der Stadt. So fehlte das Geld – verschärft durch die Wirtschaftskrise nach dem Börsenkrach von 1873 und andere kommunale Prestigeprojekte wie das neue Rathaus – bald in anderen Bereichen. So musste man unter anderem die Regulierung des Wienflusses oder die Errichtung eines leistungsfähigen Lokalbahnnetzes länger aufschieben. Die moderne Großstadt blieb in Wien zunächst ein Torso. ■

Geboren 1962 in Budapest. Studium der Geschichte und Geografie an der Universität Wien, Dr. phil. Seit 2004 Kurator im Wien Museum im Department Stadtentwicklung und Topografie. Publikationen zur Stadt-, Umwelt- und Verkehrsgeschichte. Mitarbeiter der Ausstellung „Experiment Metropole. 1873: Wien und die Weltausstellung“, zu sehen bis 28. September am Karlsplatz.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.09.2014)

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