Wem der Unterleib über den Kopf wächst

Ulrich Seidls Film „Im Keller“: von der Normalität unserer sogenannten Perversionen.

Die Kripo geht davon aus, dass der 86-Jährige und sein Enkel erst den Partyraum gesäubert haben und Mario – bevor bei ihm die Leichenstarre einsetzte – mit angewinkelten Armen und Beinen und vorgebeugtem Rücken in einen schwarzen Müllsack gesteckt haben... „News“, Chronik

Einen fruchtbaren Zugang zu Ulrich Seidls Filmen stellen für mich die sogenannten allgemeingültigen Menschenbilder dar: Offiziös sind in der Gesellschaft geradezu heroische Ansichten von den Menschen im Umlauf. Jeder ist demnach Souverän seiner selbst, wirtschaftlich ein Subjekt, das seine Angelegenheiten managt, und auch von seiner Triebökonomie her gilt der propagierte Mensch als beherrscht. Niemals wächst ihm der Unterleib über den Kopf; der Mensch hat sich stets in der Hand.

Ich halte diese Propagandabilder, mit denen sich so etwas wie „Normalität“ durchsetzen soll, nicht ausschließlich für eine Lüge. Die offiziösen Menschenbilder haben nur etwas von einer Utopie. Da sie aber diese Utopie – also das gemäß bestimmten eingebürgerten Sichtweisen Gewünschte – als eine Wirklichkeit suggerieren, ist die Polemik dagegen Künstlerpflicht.

Diese artistische Polemik bedarf keines besonderen theoretischen Aufwands. Ihre Kraft beruht darauf, dass sie sichtbar macht, wie Menschen – wenn nicht überhaupt, so zumindest zum Teil – auch sind. Sie sind nämlich auch unschöne, von Obsessionen versklavte Wesen. Das kommt nicht zuletzt daher, dass sich zwischen das Glücksstreben und dessen Erfüllung Hindernisse schieben (individuelle und gesellschaftliche), wodurchMenschen gleichsam verbogen werden. Zugleich aber sind diese Verbiegungen unvermeidlich; Glückspilze wachsen – vor allem in Österreich – kaum.

Sollte das so wahr sein, wie ich glaube, muss man zugestehen, dass ausgerechnet die sogenannten Perversionen bis zu einem hohen Grad normal sind. Diese Normalität, die wie jede andere Normalität ins Entsetzliche – zum Beispiel ins Kriminelle – kippen kann, zeigen mir Seidls Filme. Basierend auf dieser Sichtweise hatte ich niemals die Idee, dieser Künstler würde einzelne Menschen als Randerscheinungen „vorführen“, um sie verächtlich zu machen. Es geht in seinen Filmen um „die Wahrheit“ entlang der alten philosophischen Frage: Was ist der Mensch? Und was machen die ökonomischen und politischen Bedingungen aus den Leuten, die zum Beispiel in Seidls Film „Import Export“ rücksichtslos die sozialen Ungleichheiten auf der Welt ausnützen, obwohl oder weil sie selber Armutschkerln sind?

Die Intensität der Filme Seidls kommt in meinen Augen nicht zuletzt daher, dass die alten philosophischen Fragen vom Künstler im Rahmen einer bereits ebenso altehrwürdigen Tradition gestellt werden: Was wird aus den Menschen, wenn Gott tot ist? Die Auflösungserscheinungen der Religion, ja dieVerwesungsdüfte des Glaubens (aus denen zum Beispiel das Sexuelle hoffnungslos hervorbricht) sind einmal mehr und einmal weniger Seidls Thema.

Seidls Stoffe sind „sensationell“

Seine Stoffe sind „sensationell“ – erstens weil sie kommunikativ Beschwiegenes ans Licht bringen, und zweitens weil sie mit starken Sinneseindrücken arbeiten. Ich glaube, dass eine der ästhetischen Strategien von Seidl darin besteht, die Grenze aufzuheben zwischen marktgängigem Aufmerksamkeitsheischen (zum Beispiel durch exhibierte Sexualität) und der gründlichen Erforschung eines Phänomens. Ich spreche von „aufheben“ undmeine dezidiert nicht „verschleiern“. Dass durch die herrschende Ökonomie der Aufmerksamkeit der Unterschied nur mehr akademisch besteht, ist nicht die Schuld des Künstlers, auch wenn der liquidierte Unterschied artistisch eine Erleichterung bietet: Somit muss man sich dann um so „alte“ Differenzen nicht mehr kümmern und kann künstlerisch gleich zur Sache kommen. „Im Keller“ hebt künstlerisch eine andere Grenze auf: die zwischen Authentizität und Fiktion. Es ist nicht unterscheidbar, ob die Akteure „reale“ Menschen sind oder Figuren eines Drehbuchs – einfach deshalb, weil es (anders als im Fernsehen) hier gar nicht darauf ankommt. Die Frau, die in ihren Keller geht, um Kisten aus den Regalen zu ziehen, in denen menschenähnliche Babypuppen lagern und denen sie mütterlich-zärtlich Gefühle entgegenbringt – gibt es sie wirklich? Das ist unwichtig, denn in Seidls inszenierter Authentizität steht diese Frau für etwas, was es wirklich gibt, nämlich für absolute Einsamkeit. „Absolut“ heißt im Wortsinn losgelöst, isoliert, und der Film zeigt, wie man sich in der Isolation mit Ersatz behilft und wie die Ersatzbefriedigung in ihrer gespenstischen Unwirklichkeit doch auch glücklich macht.

Ulrich Seidl hat in einem Interview für „Die Presse“ sehr präzise einen Zugang zu seinem Film „Im Keller“ eröffnet: „Ich habe einmal festgestellt“, sagt der Regisseur, „dass die Kellerräume der meisten Einfamilienhäuser viel großzügiger angelegt sind als die Wohnräumlichkeiten. Und dass Menschen in ihrer Freizeit in den Keller gehen, um zu tun, was sie tun wollen – von Sport und Basteln zur Sauna oder sich zum Trinken treffen. Inzwischen hat der Keller durch Verbrechen eine ganz andere Bedeutung bekommen, die sich in unseren Köpfen eingemeißelt hat und nicht mehr herausgeht. Der Keller war ja immer ein Ort der Dunkelheit und der Angst, von Kindheit an: Folter, Verbrechen, Mord – das ist der Stoff dafür. In meinem Film zeige ich episodisch, was die Menschen im Keller tun.“

Das Problem ist für mich allein schon „das Haus“. Es ist stets eine Schutzburg, eine Trutzburg. Es schützt halbwegs vor dem, was aus dem Wald oder gar aus dem Dschungel der Großstadt kommen kann. Aber was ist im Haus selbst los? „My home is my castle“ – das klang mir immer im Ohr wie eine gefährliche Drohung. Die bürgerliche Trennung von „privat“ und „öffentlich“ (der ja auch Segensreiches anhaftet) dient in manchen Häusern dazu, dass der Hausherr machen kann, was er will. Der Tyrann hat es sich häuslich eingerichtet; er ist der Haustyrann.

Im Haus herrscht per se eine dialektische Spannung, die sich in manchen Fällen erst im Keller auflöst. Es ist die Dialektik von öffentlich Zugänglichem und dem, was aus privaten Gründen verschlossen bleibt. In Seidls Film wandert eine Parade von Menschen vorbei, die im Keller aufleben. Die meisten von ihnen haben unterirdisch ein „Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein“-Pathos. Es herrscht Freiheit von der sozialen Kontrolle; eine Freiheit, die die Hausbewohner im Keller genießen und ausleben. Endlich können sie ihren Ersatzbefriedigungen oder ihren zwanghaften Obsessionen nachgehen.

Seidls ästhetische Strategie – also seine Kunst, mit den Sinneseindrücken wirksam zu verfahren – arbeitet „Im Keller“ mit einer Art beweglicher Postkartenbilder, die nicht selten in Steckbriefe übergehen. Der praktizierende Nationalsozialist zum Beispiel erzählt ergriffen, wie er sein Hochzeitsgeschenk, ein Bild des Führers, am liebsten sofort in den Keller gebracht hätte, um es dort an die Wand zu hängen. Der Mann betreibt – wenn auch nur im Keller – mit seinen Lieblingsbeschäftigungen „Wiederbetätigung“. Das ist strafbar, aber eben das ist eine Funktion des Kellers: ungestraft tun zu dürfen, was eigentlich kriminell ist. Für solche Menschen ist der Keller das Fundament ihrer Existenz. Fritzls „wahres“ Leben fand nicht oben, sondern unten im Keller statt. Aber sein Keller war wirklich vor den Blicken der anderen verborgen. Seidls Film öffnet naturgemäß das Verborgene für die Zuschauer. Anders geht es nicht im Film, der damit eine klassische künstlerische Spannung erzeugt: Man bekommt deutlich zu sehen, was im Normalfall ebenso deutlich den Blicken entzogen ist; deshalb findet es ja im Keller statt. Um es mit einer Bühnenmetapher zu sagen: Man blickt hinter die Kulissen.

Der praktizierende Nationalsozialist im Keller kommt mir keinesfalls wie ein Unsympath vor. Nach meiner Einschätzung gehört der Mann zu der (österreichischen) Fraktion, über die das Wort „gemütlich“ zu verhängen ist. Er spielt in einer volkstümlichen Band ein Blasinstrument – ich glaube die Tuba. Er spricht, wenn es existenziell wird, sogar in freien Rhythmen, also beinahe in Gedichtform: „I sauf eigentlich sehr vü / beim Spieln automatisch. / Des is scho vorprogrammiert. /Frühschoppen. / Vorher drei Spritzer, / dass i dann redn kann. / Dann während dem Frühschoppen zehn Spritzer / und, ja dann, eventuell hinten nachher / a paar Stamperl / weil alles gelungen ist.“ Er ist ein Säufer wie du und ich. Herrlich stellt er einen reibungslosenSuchtkreislauf dar: Erst trinken aus Furcht davor, ob das Spiel auf der Tuba gelingt, dann – während des Spiels – den Spiegel so hoch wie nötig einstellen, und da es mit seiner Kunst ja immer klappt, zur Belohnung hinterher noch ein paar Stamperln.

Der praktizierende Nationalsozialist ist eben zugleich ein lustiger Musikant. Fast schon selbstkritisch konstatiert er: „Eigentlich bin ich vorbestraft – bei uns sauft die ganze Familie.“ Für mich besteht kein Zweifel: So ein Mensch ist hierzulande kein Außenseiter. Er hat das Mindset, auf das sich die allgemein anerkannte, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbreitete Sendung „Musikantenstadl“ immer verlassen kann.

Wo Selbstüberschätzung normal ist

Auch zum Singen geht bei Seidl einer in den Keller. Ich dachte zunächst, der Mann gibt eine Parodie über den Schöngesang zum Besten; er macht sich misstönig lustig über opernhafte Gesten. – Das dachte ich, aber keine Rede davon! Im Verlauf des Films nenntder Mann uns alle Rollen auf der Opernbühne, für die er mehr als geeignet wäre und die er heutzutage auch spielen würde, hätte er sich nur einmal wirklich dafür interessiert. Dieser Mensch – ein Außenseiter, ein dem Gelächter anheimgegebener Dilettant? Keineswegs. In der Kunstbranche ist die Selbstüberschätzung das Normale, und wie die Frau mittleren Alters mit ihren geliebten Babypuppen die totale Einsamkeit in Erinnerung ruft, so sieht man bei dem Sänger die so häufig anzutreffende Hybris einer Branche.

Mit einem grob systematisierenden Blick kann man erkennen, dass im Keller ein Abbild von Staat und Gesellschaft geschaffen wird: die Mutterliebe – eine Keimzelle des Staates; die Institution einer Kunst ohne Maßstäbe – ein leerlaufendes Kunstwollen, das über die Einbildung funktioniert; die politische Obszönität, die über die Gemütlichkeit weiterhin tödliche Machtansprüche stellt; und last, but not least eine Sexualität, die inszeniert werden muss, damit sie lustvoll stattfinden kann: „Wenn ich sehr dominant sein will, gehe ich mit ihm in den Keller.“ Die Grundlage dafür lautet: „Ich liebe meinen Ehesklaven abgöttisch. Genauso ist es umgekehrt.“

Merkwürdig. Sieht man genau hin, so wie Seidl mit seiner Kamera, muss man ausgerechnet vermittels einer sexuellen Praktik, die mit dem Pathos von Macht und Unterwerfungagiert, erkennen, wie unglaublich erbärmlich sie ist. Diese Erbärmlichkeit kommt aber nicht von der masochistischen Unterwerfung, sondern von den Verkrümmungen, die manche auf sich nehmen müssen, um noch Lust zu empfinden. Der Gedanke des Mitleids für eine überanstrengte Lüsternheit ist ein Tabu in einer Gesellschaft, in der nicht wenige von der Pornografie leben müssen.

Seidls Bilder vom Kellersex sind allerdings antipornografisch. „Du weißt, wie sehr ich es liebe, dich an den Eiern hochzuziehen“, sagt die Frau, und der Blick des Zuschauers fällt auf ein eingeschnürtes Glied. Es wird gleich hochgezogen werden – was jedoch nur die Tatsache verstärkt, dass die absolute Lächerlichkeit des Phallus schon zu sehen war. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.